Was bleibt? – Osterunruhen 1968 in Hannover!

Das Attentat auf den SDS-Genossen Rudi Dutschke am 11. April 1968 veränderte die Republik. Geschossen hat ein Einzeltäter – Auslöser war jedoch die monatelange BILD-Hetzkampagne gegen Rudi Dutschke und die APO. Getroffen wurde einer – im Visier standen alle.

Doch überall in Deutschland entstanden Proteste gegen die BILD. In Hannover gab es schon am 12. April 1968 spontane Blockadeaktionen gegen die BILD-Auslieferung, die mit Wasserwerfern und Knüppeleinsätzen durch die Polizei endeten. Viele Aktivisten wurden verhaftet. Durch phantasievolle Aktionen gelang es den Demonstrantinnen und Demonstranten jedoch, viele Bürgerinnen und Bürger zu erreichen und so die Stimmung für sich zu wenden.

Am Ort des Geschehens, dem damaligen Pressehaus und den heutigen ver.di-Höfen, erzählten ehemalige Aktivist*innen (Studenten, Lehrlinge und Gewerkschafter), wie alles anfing und wie sich die Ideen der APO weiterentwickelten. Mit dabei waren Gerd Weiberg, Beate Schmidt, Hannes Philipp, Dietrich Höper, Stephan Krull, Werner Tschischka und hundert interessierte Gäste. Michael Dunst und Anne Grunewald haben die Veranstaltung vorbereitet und sehr lebendig moderiert.

Wie war die gesellschaftliche Situation 1968? Warum ist die APO entstanden? Woher kam die Kritik an BILD und Springer? Was genau ist am Ostermontag vor 50 Jahren in Hannover passiert? Wie war die Situation in der Druckerei? Wie haben sich Drucker und Setzer und die Lehrlinge zu BILD und zur Blockade verhalten? War 1968 auch eine Bewegung der Arbeiterjugend? Was war die Triebfeder der Proteste? Welche Rolle haben die Gewerkschaften gespielt? Und: Was bleibt von 1968 – sowohl persönlich als auch gesellschaftlich?

Wie war die gesellschaftliche Situation 1968. Diese Frage zog sich durch die erste Hälfte der Veranstaltung. Gerd Weiberg, damals 25 Jahre alt, berichtet über die auslaufende Adenauer-Ära. Er selbst war Lehrling auf der Hanomag und Jugendvertreter, später Abitur auf dem Hannover-Kolleg und aktiv im SDS. Die Wiederbewaffnung der BRD war durchgesetzt, Ludwig Erhard war als Kanzler imRahmen einer ersten Großen Koalition von den Altnazi Hans-Georg Kiesinger abgelöst. Es bedurfte der Ohrfeige von Beate Klarsfeld für Kiesinger, um eine Debatte über die alten Nazis auszulösen. Die SPD hatte sich in Godesberg von allen sozialistischen Überlegungen als Alternative zum Kapitalismus verabschiedet und den SDS als ihren Studierendenverband verstoßen. Die KPD war verboten (1956), die Notstandsgesetze wurden vorbereitet und die USA führten in Vietnam einen verbrecherischen und mörderischen Krieg. Im Parlament gab es keine Opposition, schon gar keine Linke. Deshalb war die APO, die Außerparlamentarische Opposition, die zwangsläufige und logische Folge. Außerdem wollten sich die meisten jüngeren Leute nicht in die „formierte Gesellschaft“, in das Schweigekartell der Eltern und in die kleinbürgerliche und verlogene Idylle der Nachkriegszeit pressen lassen. Rudi Dutschke hatte sich in Berlin als einer der Sprecher der „Studentenbewegung“ entwickelt und wurde von der gesamten bürgerlichen presse, allen voran der dominanten Springerpresse, als Aufrührer eschrieben und beschrien. Ihm, der „Studentenbewegung“ und dem SDS gegenüber wurde nicht nur in der „Frontstadt“ Berlin (Westberlin) eine regelrechte Pogromstimmung aufgebaut.

Beate Schmidt wurde in einer reaktionären und antikommunistischen Familie groß – mit der Ausnahme ihrer Großmutter, die sie mit linker Literatur aus der DDR versorgte. Mit dem familiären Hintergrund waren es die Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft und die Verstrickung der Eltern in das NS-System, die Nichtaufarbeitung dieser Beteiligung an den Verbrechen des NS, die Beate rebellisch werden ließen. Sie war aktiv in Kontakt mit Genossinnen der illegalen KPD und im SDS aktiv.

Als die Meldung vom Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11. April nach 16.30 Uhr die Runde machte, versammelten sich der SDS und andere Teile der APO (meiner Erinnerung nach im Club Voltaire in der Nikolaistraße) und begannen die Mobilisierung für eine Protestaktion auf dem Opernplatz – von dem Ort, wo seit längerer Zeit Aktionen gegen Notstandsgesetze und Vietnamkrieg ihren Ausgang nahmen. Am nächsten Tag wird ein Flugblatt entworfen und verteilt mit der Überschrift „BILD hat mitgeschossen“, es wird – auch mit einem Lautsprecherwagen – zu einer Protestaktion vor dem Pressehaus aufgerufen. Gegen 20 Uhr werden die Eingänge des Pressehauses durch ein paar hundert Demonstranten verbarrikadiert.

Jetzt kommen die anderen Teilnehmer der Talkrunde zu Wort.

Werner Tschischka war damals, 28-jährig, im Pressehaus mit der Produktion der BILD-Zeitung beschäftigt. Er war aber auch Mitglied des Betriebsrates, ein linker Sozialdemokrat, der mit den Zielen der „Studentenbewegung“ durchaus sympathisierte. Ihm gelang es, in Gesprächen mit den Demonstranten durchzusetzen, dass die „Hannoversche Presse“ ausgeliefert werden konnte – durch Fenster nach draußen gereicht und in Kleintransportern abgefahren. Die Auslieferung der BILD blieb blockiert. Auf gleichem Wege wie die HP verließen auch die Beschäftigten das Betriebsgelände, da die Geschäftsleitung nicht bereit war, die Seitentüren für den Ausgang der Beschäftigten zu öffnen. Einige Beschäftigte blieben vor den Toren stehen und sitzen, so auch Hannes Phillipp, damals 18-jähriger Lehrling im Pressehaus. Einige Tage später wollte die Geschäftsleitung sein Ausbildungsverhältnis kündigen wegen dieser „illoyalen“ Beteiligung an der Blockade des Pressehauses. Dieses Kündigungsansinnen, so die älteren Kollegen, würde mit einer spontanen Arbeitsniederlegung beantwortet, sodass nun auch das Erscheinen der HP unsicher wurde. Die Geschäftsleitung „verzichtete“ dann auch diese Kündigung – eine prägende Erfahrung für den angehenden Schriftsetzer. Weitere Erfahrungen hatten Hannes und ich gemeinsam in der Grafischen Jugend, der Jugendgruppe der IG Druck und Papier, gesammelt. Dietrich Kittner schreibt dazu in seinem Buch „Vor Jahren noch ein Mensch“: „Besondere Verdienste um diese Blitzaktionen erwarb sich die Grafische Jugend, eine Gruppe junger Arbeiter und Lehrlinge“ – da irrt Kittner etwas, bei uns waren auch junge Frauen dabei – „aus dem Druckgewerbe, die zur Stamm- und Gründungsgruppe des club voltaire zählte. Viele der jungen Kollegen arbeiteten in privaten Kleindruckereien, und manch einer trug den Schlüssel der Klitsche in der Hosentasche. Häufig lag ein um zehn Uhr abends konzipierte Flugblatt oder Plakat schon um Mitternacht sauber gedruckt zur Verteilung bereit, weil ein junger Drucker ohen Wissen des Chefs freiwillig unbezahlte Überstunden geleistet hat.“

Schließlich wurde die Blockade der Bildzeitung von der Polizei mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern brutal aufgelöst und ich fuhr, das erste Mal in meinem Leben, mit der grünen Minna in die Polizeihaft in der Hardenbergstraße – durchnässt und frierend wurden wir stundenlang festgehalten und erst nach erkennungsdienstlicher Behandlung, nach Intervention von Rechtsanwälten und lautem Protest vor dem Polizeipräsidium wieder freigelassen. Auch ein Lernprozess.

1968 war auch eine Arbeiterjugendbewegung

An den Berichten von Werner Tschischka, Hannes Phillipp und mir wurde deutlich, dass es nicht nur eine „Studentenbewegung“ war, sondern auch eine Arbeiterjugendbewegung, später auch eine Arbeiterbewegung (Septemberstreiks). Diese Arbeiterjugendbewegung hat sich gegen die satuierten und etablierten Gewerkschaften durchgesetzt, verlor allerdings in weiteren Auseinandersetzungen der nächsten Jahre den Status als Gewerkschaftsjugend. Triebfeder für uns als junge Arbeiterinnen und Arbeiter waren die gleichen, wie die für die studierende Jugend. Hinzu kamen die antiquierten Zustände in der Berufsausbildung mit dem seit Jahrhunderten bekannten Spruch, Lehrjahre seien keine Herrenjahre. Bier holen und Werkstatt fegen waren häufige Tätigkeiten von Lehrlingen: offensichtliche Ausbeutung statt Ausbildung. In der grafischen Jugend haben wir uns in regelmäßigen Treffen und Wochenendseminaren im DGB-Heim Ehlershausen mit Unterstützung linker Sozialdemokraten und Studenten sowie von Kommunisten die Theorie angeeignet, die uns politisch-ökonomische Erkenntnisse brachte. Party kam dabei natürlich keineswegs zu kurz.

Wir sind noch nicht fertig!

Was blieb von der Rebellion 1968 für die Aktivistinnen und Aktivisten? Die APO selbst hat sich wieder „entmischt“, viele Gruppen und Parteien bildeten sich, u.a. die SDAJ und die DKP; viele gingen in die SPD von Willy Brandt, einige machten an der Uni, im Staatsapparat oder in Gewerkschaften Karriere – oft blieben aber mehr als lose Kontakte zwischen den beteiligte Personen. Es blieben sehr individuelle Wege und Erkenntnisse: Persönliche Weiterbildung und Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit, in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, in alternativen ökonomischen Projekten. Wir haben Solidarität gelernt und dass, wer sich nicht wehrt gegen Ungerechtigkeiten, schon verloren hat. Es bleibt die Erfahrung, dass eine selbst erarbeitete linke Theorie eine gute, notwendige Voraussetzung für Befreiung aus den kapitalistischen Zwängen ist: „Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen!“ Es bleibt die Erkenntnis angesichts des aktuellen Kulturkampfes von rechts, dass jeder Erfolg verteidigt werden muss, dass nichts sicher ist. Wer hätte gedacht, dass die Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper heute wieder in Frage gestellt wird? Insoweit: Wir sind noch nicht fertig!
Foto: ©Detlev Drews; von links nach rechts: Gerd Weiberg, Anne Grunewald, Beate Schmidt, Michael Dunst, Werner Tschischka, Stephan Krull, Hannes Phillipp

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