In der Pandemie: Ein neuer Angriff auf die Arbeitszeit

Unternehmen nutzen die Pandemie und die damit erlassenen Ausnahmeregelungen, um maximale Flexibilisierung, eine neue Fabrik- und Arbeitsorganisation durchzusetzen sowie das Arbeitszeitgesetz dauerhaft aufzuweichen.

Dazu lohnt ein Blick ins Gesetz und in die „Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie (COVID-19-Arbeitszeitverordnung – COVID-19-ArbZV)“.

In § 2 der Ausnahmeverordnung zur Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen heißt es:

Abweichend von § 5 Absatz 1 und § 7 Absatz 9 des Arbeitszeitgesetzes darf die Ruhezeit bei den in § 1 Absatz 2 genannten Tätigkeiten um bis zu zwei Stunden verkürzt werden, wobei eine Mindestruhezeit von neun Stunden nicht unterschritten werden darf. Die Verkürzung ist nur zulässig, wenn sie wegen der COVID-19-Epidemie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, des Gesundheitswesens und der pflegerischen Versorgung, der Daseinsvorsorge oder zur Versorgung der Bevölkerung mit existenziellen Gütern notwendig ist.“

In § 1 des Gesetzes heißt es: „Zweck des Gesetzes ist es, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten … sowie den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer zu schützen.“ Ich habe diese Corona-Ausnahmeverordnung immer kritisiert, weil sie überflüssig ist. Das Arbeitszeitgesetz ist eine Gesetz zum Schutz der Gesundheit der Beschäftigten. Jede Aufweichung der ohnehin viel zu langen Arbeitszeiten und großzügigen Regelungen schadet also der Gesundheit der Beschäftigten. In Notsituationen (in außergewöhnlichen Fällen, § 14 ArbZG) lässt das Gesetz ohnehin Ausnahmeregelungen zu – dazu hätte es keiner besonderen Verordnung bedurft. Hinzu kommt, dass die Beschäftigten in den Bereichen z.B. der Gesundheitsversorgung, für die die Ausnahmeregelung gilt, ohnehin durch Personalunterdeckung überlastet sind und diese verlängerte Arbeitszeit und verkürzte Ruhezeit das Gegenteil von Wertschätzung bedeutet.

Im Arbeitszeitgesetz ist geregelt, dass die Ruhezeit zwischen zwei Schichten mindestens 11 Stunden betragen muss – unter den oben genannten Bedingungen ist ausnahmsweise und befristet eine Verkürzung auf mindestens 9 Stunden zulässig. Die in der Ausnahmeverordnung genannten Tätigkeiten sind unter anderem Lebensmittelherstellung, Herstellung von Medikamenten und medizinische Behandlung, Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung und einiges mehr in diese Richtung – aber keinesfalls die Produktion von Autos!

Was erleben nun die Beschäftigten von Volkswagen und anderen Fabriken, wo beliebige Konsumgüter hergestellt werden? Per Betriebsvereinbarung oder gar per Tarifvertrag wird die Ruhezeit auf 9 Stunden verkürzt. Beispielsweise in Werkstattbereichen, in denen bisher in Normalschicht mit Gleitzeit gearbeitet wurde, wird Schichtarbeit von 2 mal 6 Stunden eingeführt. In diesen 6 Stunden, zwischen die eine technische Unterbrechung von 1 Stunde geschoben wird, sind keine Pausen zu machen, die Betriebsrestaurants wurden geschlossen, die Beschäftigten müssen zu Hause einen Selbsttest durchführen (Fieber prüfen) und bereits in Arbeitskleidung zur Arbeit erscheinen. Zwei weitere Stunden regelmäßige Arbeitszeit müssen als mobiles Arbeiten oder Homeoffice im Laufe des Tages in Form von Teamgesprächen, Fernwartung, Schichtübergaben oder Werkstattberichten per Skype abgeleistet werden. Sollte dies nicht möglich sein, wird die entsprechende Zeit aus dem Gleitzeit- bzw. Flexibilitätskonto gestrichen. Die angeordnete bzw. mit dem Betriebsrat vereinbarte Anwesenheitsregelung basiert auf der Kombination von Arbeit am betrieblichen Arbeitsplatz und mobiler Arbeit ausdrücklich an einem Arbeitstag.

Natürlich ist mobiles arbeiten ambivalent – sie beinhaltet mehr Autonomiemöglichkeiten, aber auch mehr Möglichkeiten der Überschreitung von Grenzen. So verwundert es nicht, dass einzelne Beschäftigte äußern: „Ich liebe mobile Arbeit. Ich schaffe an einem Tag zu Hause mehr als an zweien im Büro.“ Bei den Managern stößt so etwas auf Begeisterung und sie sagen unter anderem: „Die Voraussetzungen sind ja schon da. Nun gilt es, nach Corona neue Regelungen zu schaffen und die mögliche Stundenzahl auszuweiten.“ Der Leiter der Technischen Entwicklung bei VW in Wolfsburg schreibt in einem Brief an die Beschäftigten: „Uns allem muss klar sein, dass wir nicht 1:1 zur früheren Normalität und zu alten Gewohnheiten zurückkehren können. In der Sondersituation haben wir vieles gelernt und neue, positive Erfahrungen gemacht – beispielsweise im Home-Office, in Skype-Besprechungen oder beim Arbeiten in vernetzten Teams.“

Entgegen den Einschränkungen der Ausnahmeverordnung (siehe oben) wurden bei Volkswagen, bei der Volkswagen Group Service GmbH (vormals Autovision) und in vielen anderen Betrieben nun Möglichkeiten geschaffen, die Ruhezeit beim mobilen Arbeiten von 11 auf 9 Stunden zu verkürzen – und zwar ohne jede zeitliche Beschränkung und ohne Bezug auf die Corona-Verordnung.

Es wird deutlich, dass die Unternehmen die Pandemie gezielt dazu nutzen bzw. missbrauchen, eine neue Fabrik- und Arbeitsorganisation zu etablieren. Kennzeichen dieser neuen Fabrik- und Arbeitsorganisation sind Isolation und Entsolidarisierung der Beschäftigten, maximale Ausdehnung der Betriebsmittelnutzungszeit und der individuellen Arbeitszeit, maximale Flexibilisierung der Arbeitszeit zu Lasten der Beschäftigten, eine vollständige zeitliche und räumliche Verschmelzung von Arbeit und Privatleben, Reduzierung von Pausen- und Ruhezeiten, Kostenreduzierung für Umkleideräume und Kantinen, Selbststeuerung, Selbstoptimierung und Selbstausbeutung der Beschäftigten: Survival of the Fittest.

Insgesamt ist festzustellen, dass diese Corona-Verordnung tatsächlich genutzt wird für eine weitere und möglichst dauerhafte Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes. Dem muss eventuell juristisch widersprochen werden, dem kann politisch und gewerkschaftlich nur begegnet werden durch den Kampf um weitere und kollektive Arbeitszeitverkürzung: Kurze Vollzeit für alle, 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich!

Mobiles arbeiten – rechtliche Grundlagen; https://www.dgbrechtsschutz.de/fileadmin/media/PDF/BCE/BCE_mobiles-arbeiten-recht.pdf

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