Stefan Zweig müsste wohl ein zweites Mal emigrieren.
Die „Tage zwischen den Jahren“ haben wir in Salzburg verbracht – schneefrei und bei frühlingshaften Temperaturen. Ende Dezember an der Salzach sitzen und die Sonne genießen – ein zwiespältiges Vergnügen in Zeiten des Klimawandels. Dank an Detlev Drews für die Stadtführung und den netten Nachmittag im schönen Café Bazar.
In der Touristinformation viel Reklame, unter anderem gänzlich unkritisch an die Legende des Ferdinand Porsche anknüpfend: „Entdecken Sie die einzigartigen Meisterleistungen der Technik aus der Hand des genialen Konstrukteurs in den Ferdinand-Porsche-Erlebniswelten, nur 20 Kilometer von Salzburg entfernt.“ Während diesem SS-Oberführer gar eine Straße in Salzburg gewidmet ist, suchten wir die August-Bebel-Straße vergeblich, obwohl dieser als Tischlergehilfe mehrere Jahre in Salzburg gelebt und gearbeitet hat.
Eine Überdosis Mozart ist in dieser Geburtsstadt des Komponisten wohl unvermeidlich: Mozartplatz, Mozartdenkmal und Mozartkugeln ohne Ende. Eine Ausnahme: Das altehrwürdige Mozartkino im Hotel Kasererbräu, in dem wir uns das berührende Filmdrama „She said“ von Maria Schrader angesehen haben – ein Film über mutige Journalistinnen, die gründlich recherchieren und den Machtmissbrauch einer verschworenen Männerwelt dokumentieren. Der Film basiert auf dem 2019 erschienenen gleichnamigen Sachbuch von Jodi Kantor und Megan Twohey, die im Film die Hauptpersonen sind. Ein von Kantor und Twohey Anfang Oktober 2017 veröffentlichter Artikel in der New York Times hatte den Hollywoodmogul Harvey Weinstein zu Fall und die MeToo-Bewegung ins Rollen gebracht.
In der Altstadt unterhalb der Festung tobte auch nach Weihnachten noch der Weihnachtsmarkt mit tausenden von Touristen – meist aus weit entfernteren Weltgegenden. Aber wie könnte ich mich beschweren, wo ich doch selber ein Fremder war. Alle Klischees werden in Salzburg bedient: Der Fiaker trabt durch die Stadt, darin und darum fotografierende Touristen; eine Festung, darin filmende Touristen; riesige „Salzburger Nockerl“ essende Touristen, das prachtvolle Schloss Mirabell.
Zur Festung hoch sind wir mit der Festungsbahn gefahren, von 1892 bis 1959 wurde diese als „Tröpferlbahn“ mit Wasser aus dem Almkanal betrieben, heute ist die Standseilbahn mit kabinen von Siemens, elektrisch unterwegs. Während der Umbauarbeiten am 21. Februar 2011 kam ein Arbeiter bei der Talstation ums Leben. Ein schweres Bauteil war die Bahntrasse hinuntergerutscht und hatte ihn getroffen.
Salzburg wird überragt von den Mauern der Festung Hohensalzburg, einer der größten bestehenden Burganlagen Europas aus dem 11. Jahrhundert. Das Bauwerk ist Beweis der Großmannssucht, der Völlerei der Feudalherren und Zeugnis der autoritär-politischen Machtdemonstration der Fürsterzbischöfe, die sich jahrhundertelang ebenso gegenseitig bekämpften wie die bitterarme und vielfach ausgebeutete mittelalterliche Bevölkerung. Nehmen wir als „Schicksal“ die Biografie des grausamen und jähzornigen Erzbischof Wolf Dietrich von Raitenau in seiner Zeit 1587 bis 1612. Er verfolgte eine strikt gegenreformatorische Linie, im Jahr 1589 vertrieb er alle Protestanten aus der Stadt. Im Streit um das Salz, den eigentlichen Reichtum der region, trieb er die Menschen in den Krieg und verlor diesen. Wolf Dietrich wurde auf der Flucht gefasst und bis an sein Lebensende von seinem Nachfolger und Vetter Markus Sittikus Graf von Hohnems auf seiner eigenen Burg in dem Verließ in strenger Einzelhaft eingesperrt, in dem er viele Jahre seine Kritiker und Gegner gequält hat.
Ansonsten in Salzburg: Ein moderner ÖPNV mit elektrischen Oberleitungsbussen, die keine große eigene Batterie benötigen. Das Verbot von privater Sylvesterknallerei wird komplementiert durch ein prächtiges städtisches Feuerwerk. Das Literaturfest findet sich in vielen Schaufenstern mit klugen Sprüchen wieder. Der großartige Künstler Stephan Balkenhol hat ein treffendes Werk für einen zentralen Platz in der Altstadt geschaffen. Ein Denk-Mal für den erfolgreichen Kampf gegen die in der Nähe geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf: Der Zaun des Anstoßes. Mit einer Erinnerungstafel am Haus seiner damaligen Wirkungsstätte begegnet uns dann doch noch August Bebel in der Altstadt, der dort zwei Jahre gelebt und gearbeitet hat.
Der Weg zum Kapuzinerberg führt zum Kapuzinerkloster, das von den Nazis „profanisiert“ wurde – der Weg führt ebenfalls zu Stefan Zeig, der hier wohnte und arbeitete, bereits 1934 nach London emigrierte und sich 1942 das Leben nahm.
Schließlich fanden wir die Pauli-Stuben, tranken und aßen gut und ließen ein Shirt dort: You‘ll never walk alone! Beim nächsten Besuch will ich mal sehen, ob das Shirt einen Platz im Pauli gefunden hat und ob immer noch mehr Straßen nach Nazis benannt sind, darunter die 1957 nach dem Kriegsverbrecher Ferdinand Porsche benannte Straße, als nach Frauen. Die von der Stadt eingesetzte Kommission hatte Namensänderungen vorgeschlagen.
Die Straßenbenennungen nach NS-belasteten Personen werden seit 2015 neben der Textierung von Erläuterungstafeln für sämtliche personenbezogene Verkehrsflächen vom Fachbeirat für Straßennamen wissenschaftlich aufgearbeitet. Am 8. Juni 2021 wurde nach drei Jahren Arbeit der mehr als 1.100 Seiten umfassende Schlussbericht eines Historiker-Fachbeirats des Projekts „NS-belastete Straßennamen in der Stadt Salzburg“ gemeinsam mit dem Vizebürgermeister präsentiert. Die Kommission hat die Rollen von 66 „braunen“ Straßennamenspaten penibel aufgearbeitet. 44 Personen waren nachweislich Mitglieder der NSDAP. 16 Personen waren keine Parteimitglieder, ihre Verstrickungen in das NS-System sind jedoch bekannt. Die Mehrheit von ÖVP und FPÖ im Stadtrat hat gegen die Stimmen von SPÖ, Grünen und KPÖ keiner einzigen Umbenennung zugestimmt.
Stefan Zweig müsste wohl ein zweites Mal emigrieren.