Riesiger Bedarf an Schienenfahrzeugen, aber Molinari schließt Waggonbau in Dessau. Mit mehr Demokratie, mit Wirtschaftsdemokratie und Transformationsräten wäre das nicht zu machen.
Nach mehr als 120 Jahren endet der traditionsreiche Waggonbau in Dessau / Sachsen-Anhalt. Mangelnde Auftragslage und hohe Energiekosten sollen mit Schuld an der Schließung sein.
Warum haben weder die Stadt, das Land noch der Bund interveniert?
Am 27. Februar 2023 verkündete die Insolvenzverwalterin das Aus für den Standort in Dessau. Es war nicht gelungen, einen Investor für den traditionsreichen Standort zu finden. Vielleicht hat auch die Preispolitik der Stadtwerke in der Energiekrise mit zu der Entscheidung geführt, dass eine Fortführung des Betriebes nicht mehr möglich ist.
Kurze Geschichte des Waggonbau Dessau
1930 übernahm Orenstein&Koppel die schon 1900 gegründete Dessauer Waggonfabrik AG, in der U- und S-Bahn-Wagen hergestellt wurden. 1940, im Zuge der faschistischen Arisierung, übernahm die Dortmunder Hoesch AG die Aktienmehrheit von O-&-K. Das Werk, das alle Bombenangriffe überstanden hatte, wurde nach dem Krieg in eine Sowjetische Aktiengesellschaft umgewandelt. Nach der teilweisen Demontage (Reparationszahlungen an die UdSSR) wurde der Betrieb im Juni 1952 in Volkseigentum der DDR übernommen. Nach 1990 bildet die Treuhand aus dem Kombinat Schienenfahrzeugbau die „Deutsche Waggonbau AG“ (DWA). 1995 wurde das Werk Dessau daraus ausgegliedert, nachdem die DWA an den Private-Equity-Investor Advent International in Boston/USA verkauft worden war. Bereits ein Jahr später wurde Betrieb in Dessau abgewickelt, die Reste der DWA 1998 gewinnbringend an die kanadische Bombardier Transportation verkauft. Zum 1. Januar 1999 wurde die Fahrzeugtechnik Dessau GmbH in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und kam 2016, nach drei weiteren Eigentümerwechseln (unter anderem ein rumänischer Investor, beide Seiten standen sich öfter vor dem Arbeitsgericht gegenüber als in der Werkhalle) zum schweizerischen Unternehmen Molinari Rail Systems. „Die Konsolidierung gelang. Der Blick geht nach vorn“, berichtet die Mitteldeutsche Zeitung (MZ,14.11.2017). Über vier Millionen Euro Umsatz wurden im ersten Jahr erwirtschaftet, gut zur Hälfte im Ausland. Allerdings wurden Forschung und Entwicklung ausgelagert. Einst wurden dort ganze Züge gebaut, der Waggonbau Dessau war einer der größten Hersteller von Eisenbahnwagen in der DDR und einer der größten Hersteller von Kühlwagen der Welt. Der moderne Niederflur-Triebzug „Protos“, dort können Wagen mit unterschiedlichen Antriebsarten und somit Hybridlösungen realisiert werden, rollt noch immer durch die Niederlande.
Gibt es Ideen oder Überlegungen in der Gewerkschaft oder in der Belegschaft zur Weiterführung des Betriebes? Wäre das nicht eine Chance für Sachsen-Anhalt und mussten da nicht auch der Stadtrat und die Landesregierung aktiv werden? Hätte ein Transformationsrat eine andere Lösung gefunden? Die Handelnden Personen und Gesellschafter sind die Falschen und die Mannschaft nach vier Insolvenzen seit der Privatisierung 1990 hat innerlich gekündigt. Nun die endgültige Schließung, nach mehr als 120 Jahren endet der traditionsreiche Waggonbau in der Region. Das kommt dabei raus, wenn Industriepolitik nur formal und nach dem Insolvenzrecht ausgeübt wird. Die einst starke Solarindustrie in Sachsen-Anhalt lässt grüßen.
IG Metall bedauert fehlende Industriepolitik
„Wir bedauern sehr, dass es nicht gelungen ist, eine neue Perspektive für den Standort und die Beschäftigten zu finden. Gerade der Bereich Schienenfahrzeugbau sowie Service sollte doch vor dem Hintergrund der Mobilitätswende ein Zukunftsbereich sein. Jetzt stehen die Beschäftigten im Fokus. In der Region suchen viele Betriebe Fachkräfte, wie sie hier bislang beschäftigt sind. Unabhängig davon, ist es für die Stadt Dessau industriepolitisch eine Katastrophe, dass in so kurzer Zeit der zweite Industriebetrieb nach der Stromag geschlossen wird.“, so Almut Kapper-Leibe, Geschäftsführerin der IG Metall.
Die Fortführung der Produktion und Instandsetzung von Schienenfahrzeugen ist für die Verkehrswende von größter Bedeutung. Ohne mehr Busse und Bahnen ist eine Verringerung der Zahl der Autos kaum möglich, auf dem Lande ohnehin nicht. Und man kann sich nur wundern, warum die Regierungen auf Bundes- und Landesebene, aber auch die Stadtverwaltungen diesem Treiben der Unternehmen tatenlos zusehen. Offensichtlich ist auf die Regierungen so wenig Verlass wie auf die nur an Profit interessierten Unternehmen. Bei der Solar-Industrie und bei Produktion von Windkraftanlagen haben wir ähnliches erlebt: Die Unternehmen streichen Subventionen ein und ziehen dann weiter – nach China, Indien oder in andere Länder mit Kosten- und Steuervorteilen. Der Klimaschutz und die Einhaltung der Pariser Klimaziele erfordern den Rückbau bestimmter Industrien und bestimmter Produkte in unserem Land – darunter auch der Herstellung von Millionen Autos jedes Jahr. Es droht also tatsächlich eine Deindustrialisierung, wenn nicht parallel Alternativen entwickelt und aufgebaut werden. Eine solche Alternative könnte und müsste der Schienenfahrzeugbau sein. Dadurch würden nicht nur industrielle Arbeitsverhältnisse mit guten tariflichen Bedingungen erhalten, sondern die Lieferzeit für Schienenfahrzeuge würde sich endlich verringern, der Binnenmarkt würde gestärkt werden. Es drohen tatsächlich, so wie heute bei Medikamenten, bei Halbleitern, bei Photovoltaik- und Windkraftanlagen, eine vollständige Abhängigkeit von anderen Ländern und unendlich lange, nicht nachhaltige und störanfällige Lieferwege. Würden die Regierungen ihre Verantwortung für das Allgemeinwohl und die Daseinsvorsorge in unserem Land ernst und wahrnehmen, dann dürften sie diesen Entwicklungen nicht tatenlos zusehen. Was haben sie denn gelernt aus der Pandemie, aus dem Fehlen eigener Kapazitäten zur Herstellung von Mundschutz und Testmöglichkeiten? Was haben sie gelernt aus dem Abgang der Solarindustrie?
Die Produktions- und Investitionsentscheidungen der Herrschenden, der Unternehmen und der Regierenden, sind weder an den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung noch an den planetarischen Grenzen und den ultimativen Anforderungen zur Begrenzung des Klimawandels orientiert. Der Markt richtet es es jedenfalls nicht. Es bedarf offensichtlich anderer, demokratischer Formen von Eigentum und Verfügung der wesentlichen Produktionsmittel in unserem Land. Es bedarf offensichtlich einer intelligenten gesellschaftlichen Planung, die auf Basis der verfügbaren Technologie viel einfacher und realistischer ist als noch vor ein paar Jahrzehnten. In Dessau und an vielen anderen Orten wären gesellschaftliche Räte (wie die Letzte Generation sie fordert) oder Transformationsräte (wie wir sie im Buch „Spurwechsel“ beschrieben haben), mit Entscheidungsbefugnissen und Fonds ausgestattet, die Ebene, auf der beraten und geplant werden müsste, um die Klimakatastrophe zu begrenzen und gute Arbeitsplätze zu erhalten bzw. alternative Arbeitsplätze zu schaffen. In Verbindung mit fair geteilter Arbeit, mit kollektiver Arbeitszeitverkürzung auf die 4-Tage-Woche / 28-Stunden-Woche mit Lohnausgleich gibt es kein Beschäftigungsproblem, sondern gute Arbeit und gutes Leben für alle!
Nach der Insolvenz kommt der Ausverkauf, die Verhökerung all dessen, woran und womit viele Jahrzehnte in Dessau sinnvoll gearbeitet wurde: 5.000 Euro zum Ersten, zum Zeiten … und weg damit.
Kann jemand sagen, was auf dem Gelände in Dessau denn jetzt geplant ist?