Arbeitszeitverkürzung: 28-Stunden-Woche mit Lohnausgleich für alle!

Keine Experimente mit dem 10-Stunden-Tag! Mehr Zeit zum Leben, Lieben und Lachen! Kollektive Arbeitszeitverkürzung auf 28h und eine 4-Tage-Woche ist ein zentrales Element einer sozial-ökologischen Transformation. Durchgeführt bei vollem Lohnausgleich und mit Personalausgleich ist sie ein wesentlicher Beitrag zu Umverteilung von Arbeit, Zeit und Einkommen.

Mehr als 45 Millionen Menschen sind in Deutschland erwerbstätig – nie waren es mehr als heute. Gleichzeitig steigt die Produktivität der Industrie weiter, nur etwas abgeschwächt durch die Pandemie. Die Unternehmen machen, trotz Pandemie, teils exorbitante Gewinne, die, so die Unternehmen, größer seien könnten, gäbe es keinen „Fachkräftemangel“. Die Steuereinnahmen sprudeln kräftig. Wenn in dieser Situation die Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung besprochen wird, lohnt ein genauerer Blick auf den „Arbeitsmarkt“ und auf das, was eigentlich produziert wird. Und es lohnt ein kurzer Blick in die Geschichte von Arbeitspolitik, die auch eine Geschichte von Arbeitszeitverkürzung ist.

1.

In dem Maße, wie die Produktivität einer Gesellschaft steigt, können Löhne erhöht und Arbeitszeiten gesenkt werden, ohne den Gewinn zu schmälern. Während die Arbeitszeit in den zurückliegenden 200 Jahren in Sprüngen von einer 70-Stunden-Woche über den 8-Stunden-Tag bis hin zur 35-Stunden-Woche sank, ist die Wirtschaft immer stärker geworden wegen der Produktivitätsentwicklung; ganz unabhängig davon, dass die Kapital- und Fabrikbesitzer und die konservativen Politiker bei jedem Schritt Arbeitszeitverkürzung immer wieder den Untergang des Landes vorhergesagten.

In meiner eigenen Arbeitsbiografie habe ich drei dieser Schritte von Arbeitszeitverkürzung selbst erlebt und zum Teil mit gestaltet. Meine Berufsausbildung als Schriftsetzer in einer kleinen Druckerei begann ich Mitte der 1960er Jahre und brauchte als Teil der ersten Generation nicht mehr am Sonnabend zur Arbeit gehen: Die 40-Stunden-Woche wurde umgesetzt, die Arbeitswoche war einen Tag kürzer, das unabhängige Leben war einen Tag länger pro Woche. Anfang der 1980er Jahre begann ich bei Volkswagen zu arbeiten, weil wegen des Einstiegs in die 35-Stunden-Woche mehr Personal benötigt wurde. Und am Beginn der 1990er Jahre war ich als Mitglied der Tarifkommission der IG Metall an der Beschlussfassung und als Mitglied des Betriebsrates bei VW an der Umsetzung der 28,8-Stunden-Woche beteiligt. Daraus ganz kurz eine prägende Erfahrung: Bei Volkswagen wurde bis in die 1990er Jahre in der Produktion in zwei Schichten gearbeitet: von 5.30 Uhr bis 14 Uhr und von 14 Uhr bis 22.30 Uhr. Das war mehr als 40 Jahre so – die Stadt Wolfsburg hat mit der Autofabrik und den 60.000 Beschäftigten dort praktisch „geatmet“ – frühmorgens, mittags und spätabends. Mit Beginn der 28.8-Stunden-Woche im Frühjahr 1994 wurde in der Lackiererei, in der ich gearbeitet habe, die tägliche Arbeitszeit auf 6 Stunden an fünf Tagen reduziert: Die Frühschicht von 7 bis 13 Uhr und die Spätschicht von 13 bis 19 Uhr. Niemand musste mehr frühmorgens in der Tiefschlafphase aufstehen, niemand kam mehr völlig erschlagen am Nachmittag oder mitternachts, wenn alle schliefen und in Finsternis nach Hause. Es war eine große Befreiung, die Menschen und das Leben in der Stadt haben sich verändert – nicht nur atmosphärisch. Dazu wurden einige politische, soziologische und ökonomische Untersuchungen durchgeführt und publiziert, weil die Veränderungen so augenfällig waren, weil dadurch Entlassungen vermieden wurden und es seither einen tarifvertraglichen Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen in der Volkswagen AG gibt.

2. Die Arbeit an sich

Arbeit hat für die Menschheit und für jeden einzelnen Menschen eine große Bedeutung. Dabei geht nicht einmal in erster Linie um Erwerbsarbeit. Primär ist die Nichterwerbsarbeit, die Arbeit in der Familie, die Fürsorge und die Pflege von Angehörigen, von Freundinnen und Freunden, die ehrenamtliche Arbeit im Sportverein, der Gewerkschaft oder der freiwilligen Feuerwehr, die ebenfalls ehrenamtliche Arbeit an und in der Demokratie, in Parteien oder kommunalen Räten.

Ohne all diese Arbeit würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Die Gesellschaft kann nicht funktionieren ohne die Produktion von Lebensmitteln, den Bau von Wohnungen, Schulen, Universitäten und Krankenhäusern, ohne Bäuerinnen und Bäcker, ohne Bauarbeiterinnen, Lehrer, Krankenpfleger und Ärztinnen. Das ist die gesellschaftliche und die soziale Dimension von Arbeit. Durch solche Arbeit bekommen wir das Geld für unseren Lebensunterhalt, pflegen soziale Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen. Arbeit strukturiert unser Leben – täglich, wöchentlich, jährlich. Arbeit kostet also Zeit, findet nur in der Zeit, in unserer Lebenszeit, statt: die individuelle Dimension von Arbeit. Gleichzeitig verändern wir damit unsere Welt, gestalten die Natur, indem wir sie benutzen: Grund und Boden, Werkzeuge, Rohstoffe sowie Emissionen aus diesen Prozessen und der Nutzung und dem Verbrauch der Produkte und Erzeugnisse: die ökologische Dimension von Arbeit. Schließlich schafft Arbeit Werte, Gebrauchswerte und Tauschwerte, denen durch menschliche Arbeit mehr Wert hinzugefügt wird, als die Summe bzw. die Kosten der Rohstoffe und Werkzeuge. Diesen Mehrwert eignen sich zu einem guten Teil die zumeist privaten Eigentümer der Produktionsmittel (Kapital, Gebäude, Maschinen, Betriebsmittel) an. Das ist, neben dem Arbeitslohn als Kaufkraft und allen aus dem Prozess resultierenden Abgaben an Staat und Sozialversicherungen, die ökonomische Dimension von Arbeit. Schließlich wird die meiste Arbeit im höchsten Maße arbeitsteilig ausgeführt und die Ergebnisse all dieser Arbeit sind nur als gesellschaftlicher Prozess denkbar. Weil es sich um einen gesellschaftlichen Prozess handelt, sollte auch die Gesellschaft über die Art und Weise der Produktion sowie über das was und wie der Produktion entscheiden, die Ergebnisse sollten der gesamten Gesellschaft zur Verfügung stehen.

3. Arbeitszeitverkürzung und Arbeit fair teilen

Arbeitszeitverkürzung muss mit einer fairen Arbeitsverteilung einhergehen. Das betrifft sowohl die Erwerbsarbeit wie auch die Familien- und Pflegearbeit. Ein Blick auf den Arbeitsmarkt macht deutlich, dass Teilzeitarbeit und Minijobs überwiegend von Frauen ausgeübt werden und Männer teils überlange Arbeitszeiten leisten. Zu kurze Arbeitszeiten und Minijobs führen zu geringen Arbeitseinkommen und zu geringen Renten: Deshalb ist Armut in unserem Land überwiegend weiblich und den Männern wird die Chance genommen, gleichberechtigt am Familienleben, an der Entwicklung der Kinder, der Pflege Angehöriger teilzunehmen. Alle sind damit überfordert und kaum noch in der Lage, an anderen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Projekten und damit auch an sich selbst zu arbeiten, sich zu entfalten und zu entwickeln. Die ungleiche Verteilung von Arbeit bezieht sich weiter auf jung und alt. Die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles (SPD), ermahnt die jüngere Generation, die oft keine 40-Stunden pro Woche Erwerbsarbeit leisten will: „Arbeiten ist kein Ponyhof“. Ungleich ist die Arbeit verteilt zwischen Kopf- und Handarbeit, zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd; alles sowohl im Inland wie auch global.

Arbeitszeitverkürzung und eine neue Arbeitsteilung bzw. Arbeitsverteilung ist zutiefst eine Frage der Gerechtigkeit, eine Frage der Solidarität und der Aufhebung der vielfachen gesellschaftlichen Spaltungen.

Wir arbeiten zu viel und wir produzieren zu viel Müll – Verpackungsmüll, Werbemüll, Wohlstandsmüll. Wir produzieren zu viel für den Export einschließlich dem Export von tödlichen Kriegswaffen. Durch den Exportüberschuss von bis zu 250 Milliarden Euro pro Jahr wird der Arbeitsmarkt in Deutschland, je nach Sicht, geschönt oder belastet und wir exportieren Erwerbslosigkeit in andere Länder. Vor 51 Jahren wurde der Bericht „Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht. Seither ist unwiderlegbar bekannt, dass mit den Ressourcen dieser Erde sparsamer und sorgfältiger umgegangen werden muss. Das ist in der auf Wachstum angewiesenen kapitalistischen Wirtschaft aber, scheint’s, nicht umsetzbar. Immer dringender wird die Überwindung dieses zerstörerischen Wachstumsparadigma im Zusammenhang mit Klimakatastrophe, Dekarbonisierung und sozial-ökologischer Transformation, mit der Überwindung der imperialen Lebensweise auf der Nordhalbkugel unserer Erde. Am Beispiel der Verkehrswende, der dringenden Abkehr vom motorisierten Individualverkehr (MIV) hin zum öffentlichen Verkehr wird sichtbar, dass Arbeitszeitverkürzung nicht Verlust bedeutet, sondern zur Bewohnbarkeit der Erde beiträgt und einen Gewinn an Zeit und Lebensqualität. In dem Maße, wie Arbeitsplätze in der Autoindustrie abgebaut werden, können Arbeitsplätze im Schienenfahrzeugbau inklusive Arbeitszeitverkürzung entstehen. Weniger Produktion von umweltschädlichen Produkten erlaubt es allen, kürzer zu arbeiten und besser und gesünder zu leben. Denn Arbeit macht tatsächlich auch krank – sowohl ein Zuviel an Arbeit durch Überlastung als auch zu wenig Arbeit durch das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, nicht Teil der Gesellschaft zu sein. Psychische Erkrankungen sind immer noch die am schnellsten wachsenden Ursachen von Krankheit mit allen negativen Folgen für die Individuen wie für die Gesellschaft. Überarbeit oder Unterbeschäftigung sind ein Risiko für die Demokratie, führen oft zu Ressentiments gegenüber Minderheiten, zu politischer Abstinenz oder zur Orientierung auf autoritäre poltische „Lösungen“.

4. Arbeitszeitverkürzung ist umkämpft

Arbeitszeitverkürzung und eine gerechte Verteilung aller Arbeit ist ein emanzipatorisches Projekt, seit über 200 Jahren, seit die Arbeiter*innenklasse die Weltbühne betreten hat. Das Bemühen um Arbeitszeitverkürzung stößt wegen dieses emanzipatorischen Charakters seit jeher auf den erbitterten Widerstand der ökonomisch und politisch Herrschenden – auch auf den der regierenden Sozialdemokratie. Die Demonstration mit der Forderung nach dem 8-Stunden-Tag führte am 1. Mai 1886 zu einem Massaker auf dem Chikagoer Haymarket – seither ist der 1. Mai der weltweite Kampftag der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter. In Deutschland wurde der 8-Stunden-Tag im Ergebnis der Novemberrevolution 1918 zur gesetzlichen Norm, von den Nazis jedoch wieder aufgehoben. In den 1980er Jahren bezeichnet CDU-Kanzler Kohl die 35-Stunden-Woche als „absurd, dumm und töricht“, die Arbeitgeber drohen mit Aussperrung und die 35-Stunden-Woche kann nur partiell (Druck-, Metall- und Elektroindustrie) und regional (Westdeutschland) sowie durch eine maßlose Flexibilisierung der Arbeitszeit nach wochenlangen Streiks durchgesetzt werden.

Tatsächlich ist die Frage der Arbeitszeit vor allem eine Machtfrage: Während der Arbeitszeit unterliegt der Arbeiter ebenso wie die Ingenieurin, die angestellte Ärztin ebenso wie der Journalist dem Direktionsrecht des Arbeitgebers. Je länger der Arbeitstag, je länger die Arbeitswoche, desto länger entscheiden die Kapitaleigentümer und ihre Manager über das Tun und Lassen der Menschen, desto länger leben sie nicht selbstbestimmt und desto höher ist der Profit, der aus solcher fremdbestimmter Arbeit gezogen wird. Und je länger der Arbeitstag, desto kürzer ist die eigene Zeit, desto geringer sind die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, der Bildung und Emanzipation sowie der gesellschaftlichen und politischen Partizipation. Die aktuelle Debatte um die 4-Tage-Woche ist insofern ein Ablenkungsmanöver, als die wöchentliche Arbeitszeit nur auf vier statt auf fünf Tage verteilt werden soll mit einer täglichen Verlängerung auf 10 Arbeitsstunden. Das ist zwar im Widerspruch zum gültigen Arbeitszeitgesetz – aber dafür hat die damalige Arbeitsministerin und kurzzeitige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles sogenannte „Experimentierräume“ für das Kapital freigeräumt. Diese Vier-Tage-Falle würde schließlich dazu führen, dass der fünfte, sechste und auch der siebte Wochentag noch durch Mehrarbeit belegt werden würde – die Debatte um angeblichen „Fachkräftemangel“ ist nur die Overtüre zu geplanten Arbeitszeitverlängerungen, zur Extensivierung und Intensivierung von Arbeit, Mehrwertschöpfung, und Ausbeutung von Mensch und Natur.

5. Arbeitszeitverkürzung – ein lohnendes Projekt

Arbeitszeitverkürzung gehört wieder auf die Tagesordnung. Anders sind große gesellschaftliche Probleme wie Massenarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und die sozial-ökolgische Transformation nicht zu lösen. Die kurze Vollzeit, so der Begriff, ist nicht statisch, sondern nach persönlichen und beruflichen Situationen gestaltbar (Erziehungszeiten, Projektarbeit, Weiterbildung usw.), muss aber im Durchschnitt pro Jahr erreicht werden.

Die Mehrheit der Menschen in unserem Land will gerne und dringend kürzer arbeiten – und wer immer sich das leisten kann, der tut es auch; allerdings ohne Lohnausgleich. In Pflege- und Lehrberufen sind es inzwischen mehrheitlich kurze Arbeitszeiten, die von den Beschäftigten in Anspruch genommen werden, weil längere Arbeitszeiten zu belastend sind. Ginge es also nach der Mehrheit in unserem Land, wäre die 28-Stunden-Woche oder die 4-Tage-Woche mit Lohnausgleich längst umgesetzt. Angesichts der Produktivitätsentwicklung, angesichts Gewinne der Unternehmen ist das längst möglich und überfällig. Vielleicht gibt es einige kleine Unternehmen, die dazu Unterstützung brauchen. Durch fiskalische Maßnahmen wäre das problemlos machbar – so wie jeder vorherige Schritt von Verkürzung der Zeit für Erwerbsarbeit einschließlich der Verlängerung des tariflichen Urlaubsanspruches auf zumeist sechs Wochen.

Hinzu kommt, dass es ein breites gesellschaftliches Bündnis für solche Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung gibt: Neben den Gewerkschaften sind es solche großen Organisationen und Institutionen wie die Kirchen, insbesondere die kirchlichen Arbeitnehmerorganisationen, große Teile der ökonomischen, politischen, medizinischen und soziologischen Wissenschaften, Jugend- und Frauenorganisationen, Klimabewegung und Umweltorganisationen, Sportvereine und Sportverbände, die sich dafür aussprechen: kurze Vollzeit für alle! Gewerkschaften alleine schaffen das nicht, brauchen dafür immer gesellschaftlichen Rückenwind. Wenn diese gesellschaftlichen Kräfte sich verbünden, wird Arbeitszeitverkürzung wieder zur Stoßrichtung der Arbeitszeitpolitik werden und zu einem gesellschaftlichen, sozialen und ökologischem Aufbruch führen.

https://konzeptwerk-neue-oekonomie.org/wp-content/uploads/2023/01/Dossier_Arbeitszeitverkuerzung_KNOE2023.pdf

Grafik: Konzeptwerk Neue Ökonomie

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