Verkehrswende: 30 Millionen mal 9-Euro-Ticket – weiterfahren!

Ohne 9-Euro-Ticket wird nichts besser!

Es ist eine kleine gelebte Utopie in diesem Sommer: Neun Euro pro Monat zahlen und dafür jeden Regionalzug, jede S-Bahn, jeden Bus und jede Tram im ganzen Land nutzen. So günstig wie noch nie! Das Ticket ist der Renner – die „Kleinstaaterei“ der unterschiedlichen Verkehrsbünde mit unsinnigen Grenzen und undurchsichtigen Tarifen und Tarifzonen waren überwunden.

Millionen Menschen haben sich drei Monate lang dieses Ticket geholt und konnten überall einfach einsteigen. Der Andrang war so groß, dass das System an seine Grenzen kam und alle Schwächen unerbittlich sichtbar wurden. Eine Mitteilung der Salzwedeler Verkehrsbetriebe PVGS ist nur eines von vielen Beispielen: „… durch das 9-Euro-Ticket kommt es zu einem erhöhten Bestellvolumen für den City-Rufbus. Aufgrund der hierdurch entstehenden Kapazitätseinschränkungen können ab 29.07.2022 nur noch eingeschränkt Rufbusanmeldungen angenommen werden.“ Das allgemeine Tarifsystem des Landkreises Altmark auch nur als Beispiel: „Für die Linie 8040 gilt der Wendlandtarif. Für die Linien 100, 301 und 311 gilt der marego Tarif und für die Linie 300 der VRB-Tarif ab der Kreisgrenze.“ – mit jeweils über zwanzig Preis-/Entfernungsstufen. „Die Fahrpreise ergeben sich aus den jeweiligen Zählstufen.“ Oft waren Züge überfüllt, eigentlich nie konnten Fahrräder mitgenommen werden, das Personal der Bahn ist über die Belastungsgrenze hinaus gefordert – mit entsprechenden Reaktionen.

„Zusammen mit den etwa zehn Millionen Abonnentinnen und Abonnenten, die das vergünstigte Ticket automatisch erhalten, ist damit die vorher von der Branche kalkulierte Zahl von 30 Millionen Tickets pro Monat nicht nur erreicht, sondern sogar leicht überschritten“, teilte der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) mit.

Die Tagesschau meldet, dass auf den Straßen im ersten Monat mit 9-Euro-Ticket messbar weniger los war: Eine Analyse des Verkehrsdatenspezialisten Tomtom zeigt für 23 von 26 untersuchten Städten einen Rückgang des Stauniveaus im Vergleich zur Zeit vor Einführung. „Pendler haben bei der Fahrt mit dem Auto in die Arbeit und nach Hause in fast allen untersuchten Städten im Juni weniger Zeit verloren als noch im Mai.“ Fast zehn Prozent befragter Fahrgäste gaben an, den ÖPNV vor dem 9-Euro-Ticket gar nicht benutzt zu haben.

Nun wird intensiv und sehr kontrovers diskutiert, wie es ab September mit dem ÖPNV weitergeht. Umwelt- und Verkehrsinitiativen, Verkehrsverbände, der Städtetag, Kommunen, Bundesländer, der Verband der Verkehrsunternehmen, Linke und Grüne machen dazu Vorschläge – SPD und FDP winken ab, die CDU sowieso. Die Verkehrsminister wollen sich bis zum Frühjahr 2023 Zeit lassen, darüber zu beraten und zu entscheiden. Das würde bedeuten, dass es keine Nachfolgeregelung geben würde.

Die Verkehrswende in unserem Land ist nicht alles, aber sie ist ein wesentlicher Baustein für die sozial-ökologische Transformation und zwingend, um die Klimakatastrophe zu begrenzen. Dazu muss der öffentliche Nah- und Fernverkehr in allen Facetten ausgebaut werden. Das betrifft die Infrastruktur, die Elektrifizierung, Schienenwege, Leittechnik, Busse und ganz viel gut ausgebildetes und gut bezahltes Personal – aber das muss und sollte nicht gegen die Idee eines preiswerten, bundesweit gültigen Tickets gestellt werden. Denn ohne das 9-Euro-Ticket wird nichts besser.

Auftrieb erhalten diejenigen, die zum alten Status mit Verkehrsverbundgrenzen und teuren Tickets zurückkehren wollen, von vielfältigen Bedenken vor allem der Bahnbeschäftigten. Diese Bedenken müssen ernst genommen werden, denn es geht um die Gesundheit zehntausender Beschäftigter im Nahverkehr.

Unterfinanzierung und schlechtes Management machen krank!

Ausgangspunkt sind Äußerungen von Vertretern der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG: Der Ansturm und die Arbeitsbedingungen führten zu hohen Krankenständen. Und wörtlich: „Das 9-Euro-Ticket macht krank.“ Das griff die Presse sofort auf. Gewerkschaften sind besorgt wegen des Zustandes der Deutschen Bahn. Sie hätten „Zustände, wie in diesem Sommer noch nie erlebt“. „Wir stellen schon sehr frühzeitig Schäden durch die starke Nutzung des 9-Euro-Tickets fest: Aufzüge sind defekt, Toiletten in Zügen funktionieren nicht mehr, es wird einfach alles sehr stark belastet“, sagte der stellvertretende EVG-Vorsitzende Burkert. „Viele Kolleginnen und Kollegen sind bereits an der Belastungsgrenze.“ Die Krankenstände stiegen. „Wir merken: Das 9-Euro-Ticket macht krank.“

Ursache dieser Zustände ist nicht das Ticket, sondern das Missmanagement der hoch bezahlten Bahnmanager und die durch die Verkehrsminister und die Unterfinanzierung verursachten Missstände, die brutal offensichtlich wurden und jetzt vorrangig beseitigt werden müssen.

Alles sind sich einig, dass eine Personal- und Ausbauoffensive erforderlich ist. Das ist ein dickes Brett und geht nur gegen massive Widerstände. Es reicht nicht, nur zusätzlich Personal einzustellen. Eine gute Ausbildung ist nicht in ein paar Wochen getan. Dadurch, dass wieder mehr Haushaltsmittel für den Straßenverkehr eingesetzt werden, werden die Probleme größer statt kleiner. Solange wir keinen sicheren, komfortablen und verlässlichen ÖPNV und gute Radfahrer- und Fußgängerinfrastruktur anbieten, sind viele Menschen in ländlichen Regionen weiterhin auf das Auto angewiesen. In städtischen Regionen ist die Umsetzung kurzfristig möglich und erforderlich. In ländlichen Regionen können recht schnell kleine, smarte, algorithmusgesteuerte Busse eingesetzt werden, um Bedarfe zu befriedigen und MIV zu verringern. Zurecht sagen Menschen auf dem Land, dass sie zwar das 9-Euro-Ticket haben, aber eben kein Bus kommt. Unsere Nachbarländer Schweiz, Luxemburg und Österreich haben den Ausbau des ÖPNV jahrzehntelang forciert und ernten jetzt die Früchte. Aber in diesen Ländern gibt es auch keine oder viel weniger Autoindustrie und Autolobby, die den Ausbau des ÖPNV blockiert. Dort ist der ÖPNV ganz anders in der Bevölkerung verankert, es ist gesellschaftlicher Konsens, dass man dafür Geld in die Hand nehmen muss.

Berechtigte Bedenken sind eine hohe Baustellendichte, die im normalen Verkehr schon zu Behinderungen führt. Fernverkehr, Nahverkehr und Güterzüge müssen sich die Schiene teilen, stauen und verspäten sich. Irgendwann steigt der Lokführer aus, weil seine Lenkzeit überschritten ist. Die Verspätungen bauen sich auf, die Ein- und Ausstiegszeiten verlängern sich, es kommt zu weiteren Verspätungen und irgendwann wird ein Zug ausgesetzt, weil sich die Verspätungen hochgeschaukelt haben. Folge: Der nächste Umlauf ist um so voller. Schnell kann es auch dann passieren, dass die Klimaanlage ausfällt oder die WC´s nicht geleert werden können. Das ganze System wird personell und materiell auf Verschleiß gefahren.

Beschäftigte der Bahnbetriebe sagen: „Wir brauchen keine Ramschdiskussion, sondern eine Ausbau- und Kapazitätsdiskussion.“ Die Zustände bei der Bahn, die Zugausfälle, die Verspätungen, die überfüllten Züge – all das ist unhaltbar und unwürdig für eines der reichsten Länder der Erde. Aber natürlich ist das 9-Euro-Ticket nicht die Ursache. All diese Missstände gab es schon vor dem 9-Euro-Ticket. Und nicht das 9-Euro-Ticket macht krank, sondern das Missmanagement und die Missstände sind es, die die Menschen fertig machen. Diese Verhältnisse müssen geändert werden, um das Recht auf Mobilität als Teil der Daseinsvorsorge für alle Menschen und als Inflationsbremse zu gewährleisten.

Wir brauchen mehr Mobilität mit weniger Verkehr durch den massiven Ausbau von Bus und Bahn, durch vernetzte Angebote. Stillgelegte Bahnstrecken müssen reaktiviert, Bahnprivatisierungen verhindert werden, das Verkehrsangebot ausgeweitet und die Ticketpreise gesenkt werden. Die LINKE fordert ein Investitionsprogramm über 17 Milliarden Euro pro Jahr in die sozial-ökologische Verkehrswende. Das 9-Euro-Ticket als Teil der Verkehrswende kann zum Anstoß für ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm in Industrie und Dienstleistungssektor werden und Arbeitsplatzverluste in der Autoindustrie überkompensieren (siehe die Veröffentlichung „Spurwechsel“),

Gesellschaftlicher Konsens

Es besteht schon ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die begonnene und sichtbare Klimakatastrophe aufgehalten werden muss mit allen Mitteln, die die wir zur Verfügung haben. Südeuropa entwickelt sich gerade zu einer Wüste; wir haben eine Hitzewelle, der tausende Menschen zum Opfer fallen; die Elbe, die Oder, sogar der Rhein und viele andere Flüsse versiegen beinahe und sind kaum noch beschiffbar. Die Alpen verändern ihren Charakter, Polkappen, Permafrostgebiete und Gletscher schmelzen ab, der Meeresspiegel steigt.

Es geht bei allen Debatten um die Verkehrswende und das 9-Euro-Ticket darum, den Ausstoß von klimschädlichen Treibhausgasen aus dem motorisierten Individualverkehr (MIV) zu minimieren. Mit „Abrüstung“ bei jedem Auto (Größen- und Gewichtsbegrenzungen), mit strikten Geschwindigkeitsbegrenzungen und der Halbierung des innerstädtischen Autoverkehrs wäre schon viel erreicht. Die Verdoppelung der Fahrgastzahlen im ÖPNV entspricht übrigens auch den proklamierten Zielen der Bundesregierung. Abrüstung und Halbierung des MIV sind besonders drängend, weil dieser Teil unserer Ökonomie bisher keinerlei positiven Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasen geleistet hat.

Warum passiert in diesem Bereich seit Jahren nichts, obwohl es von der Mehrheit der Gesellschaft erkannt und gewollt ist – besserer und preiswerterer öffentlicher Verkehr, größere autofreie Zonen in den Städten, Geschwindigkeitsbegrenzungen innerstädtisch und auf Autobahnen? Warum passiert nichts dauerhaft? Nur, weil die CSU oder die FDP die Verkehrsminister stellen? Es passiert nichts wegen der ökonomischen Macht der Autokonzerne, wegen der vielen Milliarden Euro an Subventionen, die diese Konzerne bekommen, obwohl sie selbst Milliarden Profite an die Eigentümer auszahlen. Es sind, neben der Ideologie von der „freien Fahr für freie Bürger“ vor allem korrupte und mafiöse Beziehungen zwischen Autoindustrie und Staat bzw. Politik, die die Verkehrswende seit Jahren blockieren. Diese Blockade muss aufgelöst werden.

Es ist infam, nachdem politisch gewollt mehrere Jahrzehnte die Bahn ausgedünnt und der ÖPNV unterfinanziert wird, auf diese Schwächen zu verweisen als Beleg, dass der öffentliche Verkehr es eben nicht kann. Beschäftigte der Bahnindustrie würden gerne mehr Züge bauen, bekommen aber zu wenige und nicht kontinuierlich Aufträge; deshalb werden keine Kapazitäten aufgebaut. Sie bekommen keine Aufträge, weil die Gelder in der Autoindustrie und im Straßenbau verballert werden und weil die Kommunen systematisch verarmt wurden.

Die Not der Beschäftigten und die Hilfeschreie dürfen nicht überhört werden. Die Gewerkschaften fordern und sind dabei zu unterstützen, dass die Beschäftigten der Betriebe des öffentlichen Verkehrs grundlegend höher tariflich eingestuft werden. Die EVG schreibt (4.8.22): „Der Vorstands-Chef der Deutschen Bahn räumt ein, dass Chaos auf den Schienen herrscht. Immerhin. Seine Analyse aber überrascht: an Personalmangel soll das angeblich nicht liegen. Das sehen wir ganz anders. Der DB-Vorstand muss sich endlich ehrlich machen und eingestehen: Wir haben einfach nicht genug Leute. Ja, es wird eingestellt: Auszubildende und Quereinsteiger. Aber viele verlassen den Konzern schnell wieder. Da muss sich der Vorstand auch fragen, warum die Fluktuation so groß ist. Die Folgen: Überlastung der Beschäftigten, ein immer weiter wachsender Berg an Überstunden, hoher Krankenstand, Frust überall. Und die Qualität im Bahnbetrieb wird immer schlechter. Darunter leiden nicht nur die Kund:innen, sondern auch die Eisenbahner:innen selbst. Wir müssen raus aus dieser Situation. Dafür brauchen wir bessere Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, wir brauchen bei der nächsten Tarifrunde ein ordentliches Plus, wir brauchen mehr Wertschätzung für die Beschäftigten. Die EVG erwartet, dass der DB-Vorstand sich hier endlich ehrlich macht und klare Maßnahmen dafür einleitet. Wir wollen, dass es wieder Spaß macht, Eisenbahner:in zu sein.“

Personalmangel überwinden, aktiv werden

Genau das gehört zur Idee der sozial-ökologischen Verkehrswende und zur Fortsetzung des 9-Euro-Tickets, denn bei besseren Arbeits- und Entgeltbedingungen wären Ingenieure, Planerinnen und Facharbeiter aus der Autoindustrie für die Bahn und die Bahnindustrie zu gewinnen – und der Personalmangel könnte mit geringem Aufwand gelöst werden.

Das alles ist voraussetzungsvoll, es dauert vom Start weg fünf bis 10 Jahre. Vom Start weg – das heißt, es muss endlich begonnen werden! Das 9-€-Ticket muss aus sozialen Gründen als Teil der Entlastung fortgeführt werden, weil Mobilität sonst für viele Menschen unbezahlbar wird.

Unbestreitbar kann – im Gegensatz zu den Aussagen von Linder – das 9-Euro-Ticket finanziert werden. Georg Restle twitterte dazu: „Dass derselbe Finanzminister, der Pendler, Dienstwagen und Fluggesellschaften mit Steuerprivilegien subventioniert, beim 9-Euro-Ticket von >Gratismentalität< und >Umverteilung< spricht, macht einen dann doch ziemlich fassungslos.“ Die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, Katja Mast, sagt: „Dass all das nicht dauerhaft nur neun Euro kosten kann, ist aber auch klar.“ Beispiele aus unseren Nachbarländern Österreich (Klimaticket), Spanien (Gratiszugfahrten) und Luxemburg (Fahrgäste benötigen keinen Fahrschein mehr) werden konsequent ignoriert.

Das 9-Euro-Ticket kostet rund 10 Milliarden Euro im Jahr. Zur Gegenfinanzierung stehen jährlich unter anderem zur Verfügung 8,5 Milliarden Euro Steuersubvention für Diesel, 5 Milliarden Euro Steuersubvention für Dienstwagen, 13 Mrd. Euro für Neu- und Ausbau von Bundesfernstraßen. Für die Schäden durch den Abgasbetrug der Autoindustrie könnte diese mit 20 Milliarden Euro belastet werden und diesen Betrag umstandslos aus ihren Rücklagen finanzieren. Durch eine Nahverkehrsabgabe wie z.B. in Frankreich und eine mindestens kostendeckende Parkraumbewirtschaftung wird die Finanzierung dauerhaft sicher. Eingespart werden können weitgehend Ticketautomaten, deren regelmäßige Bestückung, der Druck vieler Tickets, die Ticketkontrollen.

Wir brauchen radikale Lösungen für Klimaschutz und für die Bewältigung der Klimafolgen, um unseren Enkeln eine lebenswerte Erde zu hinterlassen. Die Verkehrswende mag Geld kosten, aber kein Klimaschutz ist teurer als Klimaschutz mit Verkehrswende. Und ohne das 9-Euro-Ticket wird nichts besser.

In vielen Beiträgen wurde Kluges und Richtiges dazu gesagt und geschrieben. Nun kommt es darauf an, soviel Druck auf die Bundesregierung und die Autoindustrie zu entwickeln, dass die Verkehrswende nicht weiter auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben werden kann. Mit breiten Bündnissen, vielfältigen Klimaaktionen und dem dezentralen, bundesweiten Aktionstag am 27. August ist das zu schaffen.

Veröffentlicht beim Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung ISW München, https://www.isw-muenchen.de/https://9-euro-ticket-weiterfahren.de/https://9-euro-ticket-weiterfahren.de/

https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/spurwechsel/

https://www.sovd.de/aktuelles/meldung/breites-buendnis-fordert-sozial-und-klimavertraegliche-mobilitaetswende

Cover der Broschüre Bündnsis Sozialverträgliche Mobilitätswende / Comcihafte Darstellung einer Stadt mit umweltfreundlicher Fortbewegung

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