Für eine Neuausrichtung der Autoindustrie – die Sicht von Beschäftigten

Kein Ding der Unmöglichkeit

Warum Belegschaften einer Neuausrichtung der Autoindustrie offener gegenüberstehen als gedacht.

Ein Text von Jörn Böwe, Stephan Krull und Johannes Schulten.

Die Krise der Autoindustrie ist offensichtlich, die Produktion von zwei Tonnen Stahl mit High-Tech auf vier Rädern ist objektiv aus der Zeit gefallen: Das in Stahl gegossene Dementi der Zweckrationalität. Produktion und Absatz sinken weltweit. Diese Krise hat lange vor der Pandemie begonnen und wird durch sie weiter beschleunigt. Als Beispiel nur einige wenige Zahlen:

PKW-Produktion in ausgewählten Ländern in Millionen Einheiten

2016

2017

2018

2019

China

24,4

24,8

23,5

21,4

USA

12,2

11,2

11,3

10,9

Japan

7,9

8,4

8,4

8,2

BRD

5,8

5,6

5,1

4,7

Welt

72,1

73,4

70,5

67,0

Quelle: Lunapark21, Heft 49/2020

Dieser Trend hat sich im Jahr 2020 verstärkt: Produktion und Export sanken in Deutschland bis September um 30 Prozent, die Neuzulassungen um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Und auch die ökologische Krise und die verstopften Städte machen „Weiter so“ nicht mehr möglich.

Diese Entwicklung knabbert an den Umsätzen der Unternehmen, inzwischen auch an den Profiten. Unbeschadet der Tatsache, dass die „Kriegskassen“ der Big Three (VW, Daimler und BMW) mit sagenhaften 180 Milliarden Euro immer noch gut gefüllt sind, bekommen insbesondere kleinere Zulieferbetriebe in arge Liquiditätsengpässe. Der „Ausweg“ E-Auto entpuppt sich in mehrfacher Hinsicht als Sackgasse. Dies vor allem deshalb, weil die Fahrzeuge wegen der größeren Profitrate ebenso groß, so schnell und so weitreichend sein sollen wie Autos mit Verbrennermotoren. Das macht sie teuer und widerspricht der häufigsten Nutzung von Autos.

Die Unternehmen reagieren mit Produktionsverlagerungen. Und bereits seit Ende 2019 mit Kapazitäts- und Personalabbau. Betroffen sind Hunderttausende Beschäftigte in der Auto- und Zulieferindustrie. Allerdings wurden bisher nur wenige Anstrengungen unternommen, um von einzelbetrieblichen Aktionen zu einer Verbindung der Kämpfe zu kommen. Wenn wir alternative Produkte als Weg aus der Krise in die Überlegungen einbeziehen, sind weitere Hunderttausende Menschen in der Bahnindustrie und in den Betrieben des Nah- und Fernverkehrs von der Transformation betroffen.

Ausbau Schiene als organisationspolitische Chance

Ein Weg aus der Krise wird ohne den Ausbau der Bahnindustrie und der Schaffung von Jobs in den Betrieben des Nah-und Fernverkehrs kaum möglich sein. Damit sind neben der IG Metall auch Gewerkschaften wie ver.di, die EVG und die IGBCE zentrale Akteure der Transformation. Die IG Metall ist für die Erreichung des Zwei-Grad-Zieles des Pariser Klimaschutzabkommens. Sie hat das in einer gemeinsamen Erklärung mit dem BUND und dem Naturschutzbund sowie in Gesprächen mit den Jugendlichen von Fridays for Future unterstrichen: Gute Voraussetzungen, um die Kämpfe um Klima und Gute Arbeit miteinander zu verbinden. Und vielleicht die Geburt von regionalen Mobilitäts- und Transformationsräten.

Alles paletti, stünde da nicht der Elefant im Raum: die 800.000 Arbeitsplätze, die an der Autoindustrie hängen. Gut nachvollziehbar ist zu hören, die Gewerkschaft werde um jeden Arbeitsplatz kämpfen. Kai Burmeister, der sich im IG Metall-Bezirk Baden-Württemberg um die Transformation der Automobilindustrie kümmert, schreibt in Abwandlung des Schlusssatzes des Manifestes von Marx und Engels, die Beschäftigten könnten viel verlieren und „und eine bessere Welt gewinnen.“ … jedoch zeigten sich erste Brüche. „Befristete Beschäftigungsverhältnisse werden nicht verlängert. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust und Prekarisierung greift allmählich um sich.“ (Burmeister 2020: 64).

Aber: Der von der IG Metall proklamierte „Kampf um jeden Arbeitsplatz“ kann unter den gegebenen Umständen nicht gewonnen. Unverständlich sind deshalb die blinden Flecken? Warum sieht die IG Metall nicht die organisationspolitische Chance, die Bahnindustrie kräftig auszubauen? Die EVG rechnet in den nächsten fünf Jahren mit Investitionen in Höhe von 20 Milliarden Euro für den Ausbau des Schienennetzes. Für den Nah- und Fernverkehr müssen viele Schienenfahrzeuge neu gebaut werden. Dabei handelt es sich um Betriebe im Organisationsbereich der IG Metall. Der Schienenfahrzeugbau könnte in dem Maße an Bedeutung gewinnen, wie die Autoindustrie an Bedeutung verliert. Die IG Metall aus Ostsachsen ist zur Lage der Bahnindustrie (Bombardier in Görlitz und Bautzen) schon länger im Gespräch mit der Landespolitik und erklärt unter anderem: „Ein Unding, wenn die deutsche Bahn ihre Züge woanders bestellt und fertigen lässt als hier. Eine höhere Fertigungstiefe vor Ort ist durch politische Einflussnahme, aber auch durch die Selbstverpflichtung der Unternehmen machbar und möglich.“1 Nach vorsichtigen Schätzungen müssen im Schienenfahrzeugbau in den Betrieben von Siemens, Alstom und Bombardier und in den Bahnreparaturbetrieben um die 100.000 Stellen neu geschaffen werden, um die absehbaren Bedarfe zu decken (vgl. Krull 2020). Diese Annahme wird gestützt durch eine Studie des Forschungsinstituts M-FIVE, die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt wurde. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass eine Mobilitätswende mit einer Reduktion der Verkehrsleistung um 15 Prozent, dem Ausbau „sanfter“ Mobilität (Bahn, Rad, Bus) und einer Multi-Modalität innerhalb von 15 Jahren möglich ist und unterm Strich zu nicht weniger Beschäftigung als bisher führen wird – wohl aber berufliche, sektorale und regionale Herausforderungen mit sich bringt (M-FIVE: 2020).

Die Vier-Tage-Woche, die jetzt endlich wieder auf der Tagesordnung steht, ist in diese Berechnungen noch gar nicht eingerechnet. Es bedarf „politischer Einflussnahme“, also einer entsprechenden Verkehrspolitik von Bund, Ländern und Gemeinden, um diese Wende zu vollziehen. Sie ist aber auch Voraussetzung, um die völkerrechtlich vereinbarten Klimaziele aus dem Pariser Abkommen zu erreichen. Finanzierbar ist das durch ein kräftiges Konjunkturprogramm, wenn der öffentliche Verkehr, wie von ver.di gefordert, auf eine steuerfinanzierte Basis gestellt wird und durch die Streichung der Subventionen für die Autoindustrie in Höhe von vielen hundert Millionen Euro pro Jahr.2

Keine Wende ohne Belegschaften

Für die IG Metall ist eine solche Wende in der Mobilitätspolitik von größter Bedeutung. Natürlich muss eine solche Wende demokratisch gestaltet werden – und dazu gehört es, die Beschäftigten in der Autoindustrie mitzunehmen. Die Gewerkschaft, aber auch große Teile der Klimabewegung, sehen aber genau hier die größten Probleme.

Aber ist die Blockade durch die Beschäftigten wirklich so groß, wie angenommen? Das Problem ist, dass es bisher kaum Untersuchungen darüber gibt, wie Beschäftigte der Automobilindustrie zu Themen wie Mobilität, Transformation und Klimawandel stehen.3 Eine erste Annäherung soll eine kleine qualitative Studie bringen, die die Autoren seit einigen Monaten im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung durchführen. Dabei handelt es sich um eine qualitative explorative Studie. Den Großteil unserer Interviews haben wir mit mittleren betrieblichen GewerkschaftsfunktionärInnnen großer Automobilproduzenten und Zulieferer geführt.4 Für diesen Zugang gibt es zwei Gründe: Zum einen nehmen die Interviewten in ihren Betrieben eine Scharnierposition ein. Sie kennen die Diskussion- und Entscheidungsprozesse in den Betriebsrats- und Vertrauenskörpergremien. Gleichzeitig bilden sie das Gesicht der Gewerkschaft auf dem Shop Floor. So können sie einen glaubwürdigen Einblick in die betrieblichen Meinungsbildungs- und Diskussionsprozesse geben. Diese gewerkschaftliche Repräsentationsfunktion, und das ist der zweite Grund, macht sie zu den zentralen Akteuren, wenn es darum geht, gewerkschaftliche Gegenmacht im Betrieb aufzubauen. Auch deshalb ist ihre Sicht sehr interessant. Auch wenn die Studie noch läuft, können wir bereits festhalten: Die Beschäftigten der Automobilindustrie sind keine Bastion von VerfechterInnen einer vorökologischen Industriepolitik. Vielmehr ist die Sicht in den Gremien und Belegschaften sehr differenziert und bietet eine Reihe von Anknüpfungspunkten für Diskussionen über eine progressive Mobilitätswende (vgl. etwa Riexinger 2020; Candeias/Krull 2020; Urban 2020; Dörre u.a. 2020).

Dies soll im Folgenden am Beispiel der Sicht der Befragten auf vier für eine sozial-ökologischen Transformation zentrale Stellschrauben deutlich gemacht werden: 1. die Elektromobilität; 2. die „Abrwackprämie; 3. den Ausbau des ÖPNV; 4. einem Wandel des Geschäftsmodells der Branche.

Elektromobilität:

Die Befragten sind durchgängig der Meinung, dass Elektromobilität eine wesentliche Achse für eine zukunftsfähige Automobilindustrie in Deutschland ist. Auch in den Belegschaften, so unser Eindruck, dürfte die Position eines „Weiter so, wie bisher!“ eine Minderheitenposition sein, wenngleich eine starke. Das heißt allerdings nicht, dass die E-Mobilität unkritisch gesehen wird. Diese Skepsis speist sich aus mehreren Quellen:

Chance für Verbrenner: Diese Sichtweise beklagt eine gesellschaftliche „Verdammung“ des Verbrennungsmotors. Gefordert wird allerdings keine Rückkehr zum Verbrenner. Sehr wohl wird der Technologie aber als Brücke hin zu einer Transformation betrachtet. Interviewte betonen etwa sehr kenntnisreich die Effizienzpotenziale moderner Verbrennermotoren, sowohl von Benzinern wie auch im Bereich noch weiter zu entwickelnder alternativer Antriebe. Exemplarisch hierzu ein Betriebsratsmitglied eines der größten deutschen Automobilzulieferern:

Für uns ist es nicht nachvollziehbar, dass der Verbrenner so verteufelt wird. So wie wir es einschätzen, wird es noch in den nächsten 15 Jahren weiterhin Verbrenner geben. Man muss die Technologie halt weiterentwickeln, das muss ja kein Diesel sein. Es gibt ja auch andere Brennstoffe, wie Wasserstoff oder synthetische Brennstoffe, die kommen in der Ökobilanz auch an die E-Autos ran.“ (B4)

Ökologische Bedenken: Gleichzeitig hinterfragt die Mehrheit der Interviewten die dem E-Motor ihrer Meinung nach medial zugeschriebene Sauberkeit. Begründet wird diese Sichtweise durch den Hinweis auf Abbau- und Entsorgungsprobleme, die „in unseren Industrieländern ausgeblendet werden“, wie es ein im IG Management bei Daimler beschäftigter Vertrauensmann ausdrückt. Oder indem kritisiert wird, dass dessen Klimabilanz nur „ab der Steckdose“ gemessen werde. Interessant ist, dass die Klimaproblematik häufig mit der Modell-Politik der Automobilunternehmen in Verbindung gebracht wird. Statt die Diskussion auf die Antriebstechnologie zu reduzieren, fordert ein Daimler-Vertrauensmann:

Man sollte lieber das Vorhandene weiterentwickeln, an zwei- oder drei-Liter-Autos anknüpfen, mit entsprechenden Abgasreinigungen, dann wären die Verbrenner relativ sauber.“

Misstrauen gegenüber dem Management: Stark verbreitet ist zudem ein erhebliches Misstrauen gegenüber der Fähigkeit des Managements, die Transformation zur Produktion von E-Autos überhaupt erfolgreich zu gestalten. “Auf die Frage, was passiert, wenn die Elektro-Strategie versagt, gibt es keine Antwort“, beklag sich ein Beschäftigter von VW. Diese Skepsis speist sich zum einen aus  Frustrationen über Schwierigkeiten, die mit dem technologischen Wandel verbunden sind: Notwendige Qualifizierungen finden aufgrund von Produktivitätsvorgaben nicht statt, Softwareprobleme führen zu permanenten Stockungen in Produktionsabläufen usw. Problematisiert wird aber auch ein fehlender Wille der Konzerne, überhaupt umstellen zu wollen, was mit den Lieferengpässen für E-Autos begründet wird sowie mit den hohen Renditen, die große „Verbrenner“ versprechen. Ein Betriebsratsmitglied von VW hierzu:

Am liebsten würden die ihre Touaregs weiterverkaufen, die garantieren nur nämlich Gewinne von 10.000 Euro aufwärts. Eine solche Gewinnmarge gibt es bei den kleinen E-Autos überhaupt nicht.“

Dem Staat wird nicht zugetraut, die für einen Ausbau derE-Mobilität notwendige Infrastruktur zu stellen.

Sorge vor Arbeitsplatzverlust: Natürlich schwing bei der Sicht auf die befürwortete Umstellung auf E-Mobilität auch die Sorge vor Arbeitsplatzverlust mit. Die von uns befragten gewerkschaftlich organisierten FunktionärInnen der OEMs thematisieren hier natürlich die geringeren Vertiegungstiefe von E-Antriebssträngen, die aus sehr viel weniger Teilen bestehen als diejenigen Verbrenner-Antriebsstränge. Für ebenso wichtig halten sie allerdings die Gefahr, dass das Management die Fertigung der neuen Komponenten direkt in sogenannten Best-Cost-Countries ansiedelt.

Abrwackprämie

Im Übrigen weicht die Sicht der Interviewten stark ab von der zumindest medial dominanten, teils schrillen Kritik führenden IG Metall und BetriebsratsvertreterInnen am Nicht-Zustandekommen staatlicher Kaufanreize für PKW mit reinem Verbrennungsmotor. Das Spektrum der Einschätzungen reicht von moderater Befürwortung der Prämie als sinnvolle Übergangslösung für bestimmte Segmente der Industrie wie Produzenten von Klein- und Mittelklasseautos, bis zu einer nicht zu vernachlässigenden Zahl expliziter GegnerInnen derartiger Subventionierung. Allerdings muss auch betont werden, dass es sich hierbei um eine wenn auch nicht unbedeutende Minderheitsposition in den Betriebsratsgremien der Branche handelt, die sich aber Gehör verschafft. So betont ein Betriebsrat eines großen deutschen VW-Standorts:

In unserer Geschäftsführung des Betriebsrates, wo wir den Austausch dazu hatten, haben wir eine sehr kritische Haltung eingenommen, von Beginn an. Wir haben gesagt, dass wir eine Förderung von Verbrennern nicht richtig finden […] Unsere Position ist, dass die Marktanteile und das Überschwemmen mit Verbrennern nicht die Lösung für jedes Problem sein können. Und schon gar nicht gefördert aus unseren eigenen Steuergeldern“

Ausbau des ÖPNV

Einem Ausbau des ÖPNV stehen die Interviewten und nach deren Einschätzung auch die Belegschaften sehr wohlwollend gegenüber. Auch existiert eine hohe Bereitschaft mit dem ÖPNV zur Arbeit zu fahren. Gleichwohl gibt es verbreitete Zweifel an Fähigkeit der Verkehrspolitik der Budnes-, Landes- und kommunalen Ebene, einen angemessenen Ausbau voranzutreiben. Bereits jetzt sei Nutzung frustrierend. So dass, auch wenn gewünscht, doch wieder aufs Auto zurückgegriffen wird. Nicht nur in ländlichen Gegenden.  Ein Kollege aus einem ostdeutschen Automobilwerk sagt: „ich würde am liebsten alles mit Bus und Bahn fahren, aber es geht einfach nicht. Es gibt für meinen Arbeitsweg keine Verbindung in akzeptabler Zeit.“

Dieser Trend geht einher, mit einer abnehmenden Begeisterung für das Auto als solchen, so wie wir es sehen, vor allem bei jüngeren Beschäftigten. So konstatiert etwa ein IG Metall-Vertrauensmann bei Daimler Untertürkheim „ein gewandeltes Bewusstsein in der Belegschaft zum Verhältnis zum Auto […] in den letzten 10/15 Jahren“.

Aber auch das gehört zur Wahrheit: „Am Ende stehen dann doch zwei Autos vor der Tür“, bilanziert ein Vertrauensmann und junger Familienvater. Der Grund: Er lebe auf dem Land, da die Preise in der Stadt zu hoch seien: „Am Ende ist der Mensch ein Gewohnheitstier.“

Wandel des Geschäftsmodells

Wie bereits dargestellt, gibt es unter den Befragten wenig Zweifel an der Endlichkeit des Verbrennungsmotors. Interviewte Betriebsräte von zwei großen Zulieferern sehen ihre Unternehmen sehr wohl im Stande, neue Marktfelder zu erschließen. Das begründen sie sie vor allem mit der hohen „Innovationsfähigkeit“ ihrer Unternehmen. Das heißt jedoch nicht, dass auch die aktuellen Beschäftigungs- und Lohnstandards einfach gehalten werden können. Dem stehe die Marktorientierung entgegen:

Was allerdings anders ist als in der Vergangenheit, ist, dass die aktuellen Kennzahlen immer weiter in den Vordergrund gestellt werden. Das haben wir jetzt ganz deutlich gesehen, auch zu Corona-Zeiten haben die ihre Erwartungen an Gewinne nicht zurückgeschraubt. Das macht es schwierig, weil dann intern auch noch eine Verteilungsfrage kommt, wenn ein neues Produkt da ist, wer bekommt den Zuschlag.“

Was die Möglichkeiten angeht, die Produktion der großen Automobilunternehmen zu wandeln, ist die Lage unübersichtlicher. Viele Standorte sind hochgradig spezialisiert. Hier glauben die Interviewten nicht, dass mit den Maschinen alternative Produkte gefertigt werden können. Andere Standorte sind dagegen so aufgestellt, dass „jede metallverarbeitende Industrie denkbar wäre, von der Technologie und vom Know-how her“.

Gegenmacht aufbauen

Fakt ist, eine von den Unternehmensstrategien unabhängige gewerkschaftliche Transformationsstrategien benötigt betriebliche Durchsetzungsfähigkeit und damit Mehrheiten. Dass es dafür mehr Anknüpfungspunkte in den Belegschaften und Funktionärskörpern gibt als vielfach gedacht, ist ein eine notwendige aber noch keine hinreichende Bedingung für eine sozial-ökologische Transformation. Geht man davon aus, dass in höheren Betriebsratsebenen Sozialpartnerschaft und Standortkonservatismus stärker ausgeprägt sind als unter den für diese Studie hauptsächlich befragten mittleren FunktionärInnen, sind letztere diejenigen Akteure, auf die es in den betrieblichen „Transformationskonflikten“ (Dörre 2020) ankommt. Doch gerade unter diesen, das wurde in den Interviews klar, scheinen die Kenntnisse über die strategischen Leitlinien und Diskussionen der Vorstands- oder Bezirksleitungsebene vergleichsweise gering ausgeprägt zu sein. Das gilt umso mehr für alternative, linke Konzepte, die in und um die IG Metall diskutiert werden (vgl. Urban 2020; Burmeister 2020; Candeias/Krull 2020).

Das Problem ist, dass Vieles von dem, was in der IG Metall dazu gesagt wird, nicht in den Belegschaften ankommt. Wenn die sich beim Automobilgipfel treffen und dann kommt eine 70seitige Brochüre raus, das wird kein Schwein lesen. Es muss vielmehr sichergestellt werden, dass die Angebote so geschaffen werden […] dass es verständlich ist. Und: Dass die Betroffenen auch beteiligt werden.“

So überspitzt diese Sichtweise eines VK-Mitgliedes von Mercedes Benz vielleicht auch sein mag, zeigt sie doch das klare Bedürfnis nach Partizipation. Darüber hinaus fehlt es in der Transformationsdebatte der IG Metall vor allem an der illusionslosen Einsicht, dass alle Fragen der Neuausrichtung von Unternehmen und Industrien letztlich nicht durch clevere Expertise, sondern reale Macht entschieden werden. Nur organisierte Belegschaften, die in der Lage sind, ihre Interessen zu artikulieren und im Konflikt durchzusetzen, werden am Ende den Gang der Entwicklung nennenswert beeinflussen können. In der Debatte um die Zukunft der Automobilindustrie und ihrer Arbeitsplätze spielt dies bisher eine erstaunlich untergeordnete Rolle. Wenn es der IG Metall gelänge, den Impuls der anwachsenden Welle von Abwehrkämpfen bei diversen Automobilzulieferern mit einer Kampagne für einen sozial-ökologischen Wandel zu verbinden, könnte die Auseinandersetzung tatsächlich eine gesellschaftspolitische Dynamik entfalten, die ein „window of opportunity“ eröffnet.

Literatur

Bätzold, Carstren/Lacher, Michael (2020): „Die Autoindustrie am Scheideweg“, Denknetz.-Workingpaper, online verfügbar unter: http://www.denknetz.ch/wp-content/uploads/2020/05/Baetzold_Autoindustrie_Scheideweg.pdf

Burmeister, Kai (2020): Zwischen Rotstift und Transformation. Arbeit in der Automobildindustrie, in: Sozialismus.de, Heft 10-2020, S. 43-47

Hirsekorn, Lars (2020): Keine Angst vor der Wende. Wer braucht eigentlich Autos und für was?, in express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 10/2020, 58. Jahrgang, S. 1-2.

Candeias, Mario, Stephan Krull, 2020: Vom Bohren dicker Bretter. Die Debatte zur Konversion der Autoindustrie, www.rosalux.de/news/id/42848 

Dörre, Klaus/Holzschuh, Madeleine/Köster, Jakob/ Sittel, Johanna (2020): Abschied von Kohle und Auto?, Frankfurt, New York: Campus

Laßhof, Maurice/Karg, Luca (2020): Klimakrise im Krisenklima: Krisenwahrnehmungen und -empfindungen von Jugendlichen, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 123, September.

Krull, Stephan (2020): Nicht nur den Motor wechseln, sondern das System! Skizze für einen Ausstieg aus dem Automobilismus. Der Schlüssel: Ausbau des öffentlichen Verkehrs und Arbeitszeitverkürzung!, online verfügbar unter: http://stephankrull.info/2020/10/26/nicht-nur-den-motor-wechseln-sondern-das-system/

M-FIVE (2020): Beschäftigungseffekte nachhaltiger Mobilität: Eine systemische Analyse der Perspektiven in Deutschland bis 2035, online verfügbar unter: https://m-five.de/nationales_projekt05.html

Urban, Hans-Jürgen 2020): Transformation als Bewährungsprobe, in: Sozialismus.de, Heft 9—2020, S. 34-42.

Jörn Böwe und Johannes Schulten betreiben das Journalistenbüro „work in progress“ in Berlin.

Stephan Krull; ehemals Betriebsrat im Volkswagen-Werk Wolfsburg, Koordinator des RLS-Gesprächskreises Zukunft Auto, Umwelt Mobilität. Weitere Texte im Internet stephankrull.info

:

1 https://www.igmetall-ostsachsen.de/aktuelles/meldung/wie-gehts-weiter-bei-bombardier-betriebrat-und-ig-metall-ostsachsen-im-gespraech-mit-michael-kret/

2 https://www.linksfraktion.de/nc/parlament/parlamentarische-initiativen/detail/subventionen-an-die-automobilindustrie/

3 Eine rühmliche Ausnahme bildet eine von WissenschaftlerInnend er Universität Darmstadt durchgeführte quantitative Studie, in der die politischen Einstellungen von Auszubildenden der Automobilindustrie mit denen von TeilnehmerInnen der Fridays-for-Future-Protesten verglichen werden. Ein Beitrag mit ersten Ergebnissen des noch laufenden Projekts ist bereits publiziert (Karg/Laßhof 2020). Sehr interessant in diesem Zusammenhang sind ebenfalls ein Interview mit dem Betriebsratsvorsitzenden von VW-Kassel Kassel, Carsten Bätzold, für das schweizer Medienportal denknetz.ch (Bätzold/Lacher 2020) sowie ein Beitrag des IG Metall-Verrtrauensmanns Lars Hirsekorn (VW Braunschweig) zu Alternativen zur Autoproduktion im aktuellen express (Hirsekorn 2020).

4  Bisher wurden 35 Interviews mit Beschäftigten unterschiedlicher verkehrsmittelprozierender Unternehmen geführt, darunter OEMs der Automobilindustrie, Zulieferer und Ausrüster, aber auch Bus- , LKW- und Schienenfahrzeugproduzenten. Eine erste längere Auswertung findet sich auf der Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung: https://www.rosalux.de/news/id/42956/wo-ist-die-ladestation-beim-aldi

 

Ein Gedanke zu „Für eine Neuausrichtung der Autoindustrie – die Sicht von Beschäftigten“

  1. Lieber Stephan, der Artikel legt den Schluss nahe, dass nicht nur die Produktion, sondern das gesamte Unternehmen transformiert werden muss. Die Arbeiter*innen bilden Organisationen zur Betriebs- und Produktionsleitung. Das Management steht mehr im Weg, als dass es zu irgendwas nütze ist. Abgesehen davon dass diese Leute Unsummen verschlingen. Ich habe kürzlich die IG Metall Seite angeschaut und dort nichts gefunden von einem neuen Mobilitätskonzept. Alles dreht sich immer noch um das Auto. Die hinken Jahrzehnte hinterher. Dass es so nicht weitergeht, wissen wir seit den 70er Jahren.

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