Arbeitszeitfragen sind Machtfragen – Rezension des Jahrbuch GUTE ARBEIT

Arbeitszeitgesetz § 1:

Zweck des Gesetzes ist es, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der

Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland (…) bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten und die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern sowie den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer zu schützen.

Die Dauer und die Lage der Arbeitszeit sind das Kernelement guter Arbeit – unter Berücksichtigung von Intensivierung der Arbeit und Produktivitätsentwicklung bedeutet »gesundheitsverträgliche Arbeit« verkürzte Arbeitszeiten, möglichst keine Nachtarbeit und ausreichend Pausen während der Arbeit und zwischen den Arbeitstagen. Das, was eine Binsenweisheit gewerkschaftlicher Tarifpolitik und des »gesellschaftspolitischen Mandats« gewerkschaftlicher Arbeit sein müsste, übersetzt sich bislang allerdings nicht in eine gewerkschaftliche Praxis. Deutet sich mit dem neuen Jahrbuch Gute Arbeit nun auch eine neue Initiative zu dieser lange vernachlässigten Forderung an? Seit nunmehr zehn Jahren erscheint das »Jahrbuch Gute Arbeit«, seit 2009 gemeinsam herausgegeben von IG Metall und ver.di. Angesichts der Widersprüche und der Konkurrenz zwischen diesen beiden großen Gewerkschaften ist schon dieser Umstand ein erfreulicher Lichtblick. Schaut man sich das Thema der diesjährigen Ausgabe und die Ähnlichkeit der Positionen in Sachen Arbeitszeit an, könnte die Hoffnung aufkeimen, dass beide Gewerkschaften gemeinsam für solche gute Arbeit aktiv werden,die zwingend gute und weniger gesundheitsschädliche Arbeitszeiten voraussetzt.

Hans-Jürgen Urban und Felix Stumpf schreiben im Vorwort für die Ausgabe der IG Metall: »Die Arbeitszeitpolitik rückt wieder ins Zentrum gewerkschaftlicher Debatten und Aktivitäten. Ein Streit um die Zeit scheint programmiert. Die Arbeitgeber wollen … Eckpunkte einer gesundheitsverträglichen Arbeitszeitregulierung schleifen.« Wohl mit Blick auf das »Pforzheimer Abkommen« schreiben sie (selbstkritisch): »Schon heute sind Arbeitszeiten vielfach durch Entgrenzung und Flexibilisierung geprägt.« Mit ihrer Tarifvereinbarung »zur Sicherung von Arbeitsplätzen, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit« hatte die IGM 2004 die Möglichkeit der befristeten betrieblichen Abweichung von Tarifverträgen geschaffen, »um Arbeitsplätze zu sichern oder zu schaffen«. Diese »Öffnungsklauseln« konnten auf alle tariflichen Mindeststandards angewandt werden und führten zu Arbeitszeitsenkungen oder -erhöhungen, mit oder auch ohne Lohnausgleich.

Das Buch versammelt Beiträge von AutorInnen aus Wissenschaft und Gewerkschaften rund um das Konfliktfeld Arbeitszeit und die gewerkschaftlichen Projekte dazu, es werden wissenschaftliche Befunde und arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse unterbreitet; den Schluss bilden ermutigende Berichte über erfolgreiche Kämpfe und praktische Erfahrungen.

Der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann begründet die aktuelle Arbeitszeitkampagne »Mein Leben, meine Zeit: Arbeit neu denken« damit, dass »bei der Arbeitszeit vieles aus dem Ruder gelaufen« sei. »In der Konsequenz brauchen wir einen Neustart unserer Arbeitszeitpolitik.« (S. 55) An die Erfahrungen der harten, letztlich erfolgreichen Kämpfe um den 8-Stunden-Tag, um die 5-Tage-Woche und um die 35-Stunden-Woche mit einer gesellschaftspolitisch mobilisierenden Forderung nach einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung mag der IG Metall-Vorsitzende nicht anknüpfen. Ursächlich für diese Defensive scheint »eine neue Vielfalt von Realitäten und Wünschen«, die der Arbeitszeitforscher Steffen Lehndorff entdeckt und die Hofmann aufgegriffen hat: Die unterschiedlichen Arbeitszeitrealitäten von Frauen und Männern, von Minijobberinnen, Teilzeitbeschäftigten, Leiharbeitern und Vollzeitbeschäftigten führen dazu, dass es »das eine große Arbeitszeitproblem der großen Mehrheit der Beschäftigten offenbar nicht mehr gibt« (S. 83). Beide schließen daraus, dass eine Forderung nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung deshalb nicht vermittelbar und somit auch nicht mobilisierungsfähig sei. Ähnelt dieses Argument nicht jenen, die in den zurückliegenden 200 Jahren gegen jede kollektive Arbeitszeitverkürzung ins Feld geführt wurden? Lehndorff fährt fort: »Die in Umfragen geäußerten individuellen Arbeitszeitpräferenzen zeigen zwar im Durchschnitt einen Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten bei Vollzeitbeschäftigen und nach längeren Arbeitszeiten vor allem bei weiblichen Teilzeitbeschäftigten, woraus sich insgesamt ein Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten ergibt. Doch im Einzelnen hängen Arbeitszeitwünsche u.a. davon ab, was im konkreten Arbeitsalltag für realisierbar gehalten wird, und sie ändern sich mit unterschiedlichen Lebenssituationen im Erwerbsverlauf.« (S. 83) Das trifft wohl zu, ist aber keine neue Erscheinung, sondern das Problem bei allen kollektiven Vereinbarungen. Sollten die Gewerkschaften ob der Vielfalt der Wünsche auf eben solche, die Konkurrenz unter den abhängig Beschäftigten minimierende Verträge verzichten?

An dieser Stelle lässt das Buch eine offene Kontroverse links liegen. Es täte der Debatte gut (und hätte dem Buch gut getan), wenn Lehndorff widersprechende Positionen, z.B. von Prof. Heinz-J. Bontrup (30-Stunden-Woche) und von Prof. Jutta Allmendinger (32-Stunden-Woche), gegenübergestellt würden; und es entspräche der tatsächlichen Debatte in den Gewerkschaften, die ebenso kontrovers verläuft.

Reinhard Bispinck vom WSI beschreibt tarifliche Regelungen, u.a. für befristete Arbeitszeitverkürzungen in Krisensituationen – und liefert Belege dafür, dass deren Umsetzung betriebs- und arbeitsorganisatorisch keine großen Hürden darstellt. Unternehmen wie Volkswagen können mit über 100 verschiedenen Arbeitszeitmodellen umgehen, kleine Betriebe dann wohl – so könnte man schließen – mit zehn Modellen und andere wiederum mit vielen individuellen Umsetzungsvereinbarungen.

Hartmut Meine, der ehemalige Bezirksleiter der IG Metall in Niedersachsen, beschreibt den Zusammenhang zwischen Arbeitspensum, Arbeitszeit und Personalbemessung und liefert die Begründung für mehr Mitbestimmung der Beschäftigten bei der Personalplanung in den Unternehmen, für die tarifliche und gesetzliche Einschränkung der Alleinherrschaft der Eigentümer bzw. deren Manager. Der Tarifvertrag bei der Charité aus dem letzten Jahr gibt dazu – über den Gesundheitsbereich hinaus – gute und wichtige Impulse, wie Meine richtig feststellt.

Der besonders anregende Praxisteil beginnt mit dem Beitrag von Kalle Kunkel und Meike Jäger (beide ver.di) über den genannten Tarifvertrag zu Mindestbesetzungsregelungen in der Charité. Jürgen Klippert (IG Metall) schreibt über Arbeitszeitverkürzung zur Beschäftigungssicherung in der Stahlindustrie – dafür gibt es mehrere Beispiele: 31-Stunden-Woche bei Thyssen-Krupp in Duisburg, die 34-Stunden-Woche bei Voest-Alpine in Österreich oder, was er allerdings nicht beschreibt, die 32-Stunden-Woche bei EKO-Stahl in Eisenhüttenstadt. Die Erfahrungen laufen darauf hinaus, dass die Kolleginnen und Kollegen den »Luxus« von mehr freier Zeit nicht mehr missen wollen. Die relativ gute Einkommensstruktur spielt dabei eine unterstützende Rolle, zumal Teillohnausgleiche durchgesetzt werden konnten. Bemerkt wird von Klippert, dass solche Arbeitszeitverkürzung durchaus auch im betrieblichen Interesse sein kann: Die betriebliche Flexibilität wird erhöht und der Krankenstand reduziert (S. 309ff). »Angesichts dieser Erfahrungen in der betrieblichen Realität und vor dem Hintergrund der Forderung nach >kurzer Vollzeit für alle< … erscheint Arbeitszeitverkürzung wieder als eine Option gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik. Es zeichnet sich ab, dass die Verfolgung dieser Option konfliktreiche Auseinandersetzungen erfordern wird.« (S. 310)

Im Kern geht es also um Macht. Das beschreibt Hans-Jürgen Urban mit sehr verständlichen Worten: »Wer über die eigene Zeit verfügt, hält den Schlüssel für eine autonome, eine selbstbestimmte Lebensführung in der Hand. Wer über die Zeit anderer verfügt, übt Fremdherrschaft aus.«

Bleibt als Hoffnung die Feststellung, dass die Gewerkschaftstage von ver.di und IG Metall Arbeitszeitverkürzungen auf verschiedenen Ebenen anvisiert haben: ver.di die »kurze Vollzeit«, die IG Metall die 35-Stunden-Woche in allen Tarifgebieten wie auch die gesetzliche Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden – eine Aufgabenstellung nicht nur für die politischen Parteien und ihre Parlamentsfraktionen. Würde das Thema offensiv in die Bundestagswahl eingebracht, könnte es durchaus eines der Gewinnerthemen sein: die Offensive gegen den Ausschluss von Millionen Menschen aus der Gesellschaft, für ein »Gutes Leben« für jede und jeden!

Abgeschlossen wird das Buch mit einem informativen, umfangreichen und nützlichen Statistik-Anhang; zu haben ist es für Gewerkschaftsmitglieder zum Sonderpreis von 8,60 Euro beim Bund-Verlag – eine lohnende Investition für die Debatte um Arbeitszeit und »Gute Arbeit«.

 

Lothar Schröder / Hans-Jürgen Urban (Hrsg.): »Jahrbuch Gute Arbeit 2017″, Der Streit um Zeit – Arbeitszeit und Gesundheit«, Bund Verlag:

Frankfurt a.M. 2017, 384 S., 39,90 Euro, ISBN: 978-3-7663-6524-8

2017-01_Krull_Arbeitszeitfragen–Machtfragen

Mit dem Untertitel „Der Streit um Zeit – Arbeitszeit und Gesundheit“ ist das Jahrbuch GUTE ARBEIT 2017 erschienen.

In „express – Zeitung für sozialsitische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“ 1-2/2017 wurde die Rezension von mir veröffentlicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert