Flyer der Initiative „Arbeitszeitverkürzung jetzt!“
http://www.who-owns-the-world.org/wp-content/uploads/2012/09/Zeitung_Arbeitszeit.pdf
Flyer der Initiative „Arbeitszeitverkürzung jetzt!“
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In der Krise erleben viele Menschen, dass Arbeitszeitverkürzung, Kurzarbeit und existenzielle Unsicherheit miteinander zusammenhängen. Die Hängepartie bei Opel dauert schon über zwei Jahre. Vorläufiger Endpunkt im Sommer 2010: Die Beschäftigten verzichten auf hunderte Millionen Euro für die »Sanierung« – die darin besteht, tausende Beschäftigte zu entlassen und Werke zu schließen. Nach Kurzarbeit kommen nun Sonderschichten und Entlassungen zugleich.
Die Arbeitszeit ist – neben Entgelt und Verfügungsgewalt – entscheidendes Feld im Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Zu Beginn der Industrialisierung gab es ungeregelte Arbeitszeiten, nur durch Tag- und Nachtrhythmus bestimmt. In England wurde der 10-Stunden-Tag vor 150 Jahren eingeführt (Engels, MEW 1, 135ff). 1886 riefen die nordamerikanischen Gewerkschaften zum Generalstreik für den 8-Stunden-Tag, dieser eskalierte in Chicago, als die Polizei zwei Demonstranten erschoss. Im Jahr 1900 wurden zehn Stunden Arbeitszeit an sechs Tagen pro Woche durchgesetzt. Seit der Novemberrevolution 1918 ist der 8-Stunden-Tag Gesetz. Im Ergebnis der Aktionen der Arbeiter- und Soldatenräte gelten seither die Tage von Montag bis Samstag als Werktage. Im Zeichen der Systemkonkurrenz begann 1955 der Kampf um die 5-Tage- und 40-Stunden-Woche, die ca. zehn Jahre später zum tariflichen, allerdings nie zum gesetzlichen Standard wurde. Wieder 20 Jahre später wurde die 35-Stunden-Woche von den Gewerkschaften auf die Tagesordnung gesetzt und im Verlaufe weiterer zehn Jahre und massiver Kämpfe in der Metall-, Elektro- und Druckindustrie durchgesetzt, aber weder zum allgemeinen noch zum gesetzlichen Standard. Die Streiks dafür dauerten bis zu zwölf Wochen.
Die Verkürzung von Arbeitszeit bedeutet eine Verkürzung der Zeit, in der die Arbeitenden Anweisungen folgen müssen – auch wenn Beschäftigte den Eindruck haben, Arbeitszeitverkürzung sei verantwortlich für Lohnkürzung und Leistungsverdichtung. Auch bei Arbeitszeitverlängerung werden in der Krise Löhne gekürzt und Leistung verdichtet.
1960 haben 26 Mio. Erwerbstätige in der alten BRD 56 Mrd. Arbeitsstunden geleistet; 2006 haben 39 Mio. Erwerbstätige in Deutschland (davon nur 27 Mio. in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen) ebenfalls 56 Mrd. Stunden gearbeitet. In den letzten Jahrzehnten ist die Produktivität der Arbeit enorm gestiegen. Und immer mehr Menschen in Deutschland haben gearbeitet. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigen und Jahr ist stetig gesunken. 1970 arbeitete ein Erwerbstätiger in der BRD durchschnittlich noch 1966 Stunden pro Jahr. 1991 waren es nur noch 1559 Stunden. Die durchschnittliche Stundenzahl sank weiter und hat sich seit 2003 stabilisiert. Im Jahr 2006 arbeitete ein Erwerbstätiger durchschnittlich 1436 Stunden.
Während in Industrie und Handwerk oft deutlich über 40 Stunden gearbeitet wird, sind dies im Versorgungs- und Dienstleistungsbereich oft nur 15 bis 20 Stunden, manchmal sogar nur 5 bis 10 Stunden mit entsprechend geringen Einkommen. Rund 9 Mio. Menschen waren im Juni 2010 in Deutschland unterbeschäftigt.1 Die tatsächliche durchschnittliche Arbeitszeit beträgt ca. 30 Stunden – für die meisten Menschen die Wunscharbeitszeit. Wenn geringes Wachstum und weitere Produktivitätssteigerungen vorausgesetzt werden, sind nur noch 20 Stunden pro Woche mit sinkender Tendenz erforderlich, um das Wohlstandniveau zu halten.
Der Arbeitsbegriff muss weiter gefasst werden als bisher. Fordismus und unbegrenztes Wachstum sind erodiert, es geht um eine Umfairteilung aller Arbeit. Die bisher bezahlte »produktive« Erwerbsarbeit wird reduziert durch Produktivitätssteigerungen, Nachfragerückgang und erschöpfte Energie- und Rohstoffquellen. Es wachsen die oft unbezahlten, aber gesellschaftlich und individuell erforderlichen Tätigkeiten wie Beziehungsarbeit, Eigenarbeit, ehrenamtliche und politische Arbeit, Hausarbeit, Erziehungsarbeit, Kulturarbeit, Bildungsarbeit oder Pflegearbeit. Mit Profitlogik ist Erziehung, Pflege, Kultur aber nicht zu bemessen.
Das Erleben der 4-Tage-Woche bzw. des 6-Stunden-Tages (28,8-Stunden-Woche in den Werken der VW-AG zwischen 1994 und 2006) verdeutlicht die kulturellen Veränderungen im Leben und Bewusstsein der Arbeitenden, ihrer Familien und ihres sozialen Umfeldes. Das Recht, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, war immer ein Begründungszusammenhang für Arbeitszeitverkürzung – selten konnte empirisch ermittelt werden, wie die betroffenen Menschen von diesem Recht Besitz ergriffen haben. Die Vier-Tage-Woche bei Volkswagen in Wolfsburg war eine kulturelle Revolution: Über 40 Jahre gab es einen Rhythmus, der von Früh- und Spätschicht geprägt war, die Stadt, die Kneipen, die Geschäfte, die Vereine atmeten im Rhythmus der Fabrik. In der Frühschicht klingelte morgens um 4 Uhr der Wecker, mit Bus oder Fahrgemeinschaft zur Arbeit, Arbeiten von 5.30 Uhr bis 14 Uhr, um 15 Uhr zu Hause müde und kaputt von zu wenig Schlaf und 8 Stunden Arbeit, Hausarbeit, etwas Familienzeit und ab ins Bett, bevor der Wecker wieder um 4 Uhr klingelt. In der Spätschicht frühes Aufstehen mit den Kindern, etwas Hausarbeit, Einkaufen, Kochen und Essen und um 13 Uhr zur Arbeit. Von 14 Uhr bis 22.30 Uhr 8 Stunden am Fließband, dann Duschen, Umziehen und gegen 23.30 wieder zu Hause – alles schläft, keiner wacht. In diesem Rhythmus war kaum Platz für Familienleben, für aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ab März 1994 ein ganz anderer Rhythmus: 4-Tage-Woche und 6-Stunden-Tag! »Du kommst Donnerstagabend nach Hause, du weißt, du hast Wochenende. Freitag, Samstag, Sonntag freie Zeit, nicht fremdbestimmt. … Das nenne ich leben.« (Hildebrandt/Hielscher 1999, 104f). Beim 6-Stunden-Tag beginnt die Frühschicht nach ausreichendem Schlaf um 7 Uhr und endet um 13 Uhr mit viel Zeit für Aktivitäten, die Spätschicht beginnt um 13 Uhr und endet vor der Tagesschau oder dem Sporttreff um 19 Uhr.
Die Arbeitszeitverkürzung führt
1 | zu einer »Entdichtung der Alltagsabläufe durch ein ›Einsickern‹ der Arbeitszeitverkürzung in den Alltag« (Hildebrandt/Hielscher, 107).
2 | Die Arbeitszeitverkürzung stellt ein »Potenzial dar für eine verbesserte Koordination von Beruf und privatem Leben, insbesondere dem Familienleben«. Dieser Effekt kann noch verstärkt werden durch Verbindung mit einer »Ausweitung von persönlicher Arbeitszeitoptionalität, etwa durch Gleitzeit«. »Eine wesentliche Voraussetzung für erweiterte Möglichkeiten der Lebensgestaltung durch Arbeitszeitverkürzung ist die Stabilität und Verlässlichkeit von betrieblichen Vorgaben für individuelle Arbeitszeiten und Freizeitblöcke.«
Durch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten wurden die Vorteile der Arbeitszeitverkürzung bei Volkswagen wieder vernichtet, durch zusätzliche Entgeltverluste in ihr Gegenteil verkehrt und schließlich im Jahr 2006 durch eine tariflich vereinbarte unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit vollständig aufgehoben. Dieses auch, weil dem »Modell Volkswagen« keine anderen Betriebe folgten. Der Umbau der Automobilindustrie ist im vollen Gange. Kapazitäten werden um- und abgebaut, verbunden mit Standortverlagerungen, Arbeitszeitverlängerungen, Arbeitsintensivierung und Produktivitätssteigerungen. Wesentliche Punkte für die Erneuerung der Arbeitszeitdebatte im linken politischen und gewerkschaftlichen Diskurs sind:
1 | Die Prekarisierung der Arbeit durch Teilzeitarbeit, Kurzarbeit und Lohnkürzung wirkt massiv auf ›Normalarbeitsverhältnisse‹, die kaum noch Norm sind. Die Angst vor dem Absturz in Hartz IV führt zu Zugeständnissen seitens der Gewerkschaften und der Beschäftigten, die vor wenigen Jahren nicht möglich waren. Der Prekarisierung entgegenzuwirken, stützt also im wohlverstandenen eigenen Interesse auch diejenigen, die in tariflich gesicherten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind.
2 | In der Krise und bei der Transformation der Branche geht es um die Verteidigung dessen, was in Jahrzehnten errungen wurde; dies ist mit dem Festhalten an Verträgen und Strukturen allein nicht möglich; sie sind mit offensiven Forderungen nach Mitbestimmung bei Planung und Produktion zu verbinden und in den Belegschaften zu verankern.
3 | Arbeitszeitverkürzung ist nicht als ein ökonomisches Projekt zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit anzugehen, sondern gleichwertig und gleichzeitig als emanzipatorisches, kulturelles und demokratisches Projekt. Der maßlosen Vernutzung der Arbeitskraft wird der Anspruch auf Partizipation entgegengesetzt.
4 | Es geht weder um Arbeit noch um Produktion an sich. Es geht um gute Arbeit und nützliche und nachhaltige Produkte. Zeitreichtum und Zeitsouveränität mit einer sozialen Grundsicherung sind Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Lebensführung neuer Art: Weniger Konsum von dem, was uns ohnehin nicht glücklich macht – stattdessen mehr Zeit zum Leben, Lieben und Lachen!
5 | Die Durchsetzung bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses, der nicht allein durch linke, gewerkschaftliche Strömungen zu erreichen ist. Wie bei früheren Etappen der Arbeitszeitverkürzung ist an Bündnissen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zielstrebig zu arbeiten (vgl. Für ein linkes Mosaik, Luxemburg 1/2010). Voraussetzung ist programmatische Klarheit über den Umbau der Industrie, die Grenzen des Produktions- und Konsumtionsmodells und den Anspruch auf gesellschaftliche Planung.
Was tun, wenn die »Freiheit« zu fahren und zu reisen, so viel und so schnell mensch will, an versiegten Ressourcen, hohen Preisen, vergiftetem Klima oder verstopften Straßen endet? Beginnt dann die Bereitschaft, über Veränderungen nachzudenken, endet das irrationale Verhältnis, das wir zum Auto und den Produktionsbedingungen haben. Ein Branchenrat, zunächst wohl ohne Unternehmensvorstände und bürgerliche Regierungen, aber mit vielen kritischen Wissenschaftler/innen, mit Ingenieur/innen, mit Beschäftigten und Interessenvertreter/innen, mit Verkehrspolitiker/innen, mit Umweltschützer/innen, mit Internationalist/innen und Künstler/innen könnte ein Anfang sein, um viel Zeit zum Leben zu gewinnen.
Hildebrandt, Eckart, und Volker Hielscher, 1999: Zeit für Lebensqualität, Berlin
Krull, Stephan, Mohssen Massarrat und Margareta Steinrücke, 2009: Schritte aus der Krise, Hamburg
1 www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Navigation/Publikationen/STATmagazin/2010/Arbeitsmarkt2010__06,templateId=renderPrint.psml__nnn=true
Erschienen in LuXemburg 3/2010, 94ff.
http://www.zeitschrift-luxemburg.de/radikale-arbeitszeitverkuerzung-zwischen-traum-und-albtraum/
Stephan Krull* plädiert für einen neuen Anlauf zur Arbeitszeitverkürzung und stellt eine Initiative von attac vor
»Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.« (Karl Marx)
Zeit ist das mit Abstand am häufigsten gebrauchte Substantiv der deutschen Sprache, Ausdruck der Dynamik, mit der Zeitthemen für uns existenziell wichtig geworden sind.
Im Titel dieses Aufsatzes fehlen die Begriffe Arbeit und Arbeitszeit, denn der Kampf wird um alle verfügbare Zeit geführt. Die Menschen, die nicht von ihrem Reichtum, vom angehäuften Kapital leben können, sind gezwungen, immer mehr von ihrer Lebenszeit für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen aufzuwenden. Dafür stehen die Verlängerung täglicher, wöchentlicher, jährlicher Arbeitszeiten ebenso wie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch Verkürzung der Schulzeit und Verschiebung des Renteneintrittsalters auf vorläufig 67 Jahre. Dafür hat die Menschheit Jahrhunderte gekämpft, das Rad erfunden, die Dampfmaschine, elektrische Energie und vieles mehr: Die Arbeit sollte leichter werden. Seit einigen Jahren erleben wir, dass immer mehr Menschen an zuviel Arbeit und bei der Arbeit verzweifeln, immer mehr Menschen werden krank durch die Arbeit; viele andere verzweifeln daran, keine (Erwerbs-)Arbeit zu haben, »nicht gebraucht« zu werden, »überflüssig« zu sein. Nie waren wir in der Lage, mit den Ressourcen der Natur und technisch-wissenschaftlichen Innovationen einerseits und mit so wenigen Menschen andererseits so viele Güter herzustellen. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich bei dem Verbrauch von Zeit für Erwerbsarbeit ein Rückschritt in die Anfänge der industriellen Produktion und des Kapitalismus. Es geht den Herrschenden um mehr Verfügung über die Menschen, über unsere Zeit, über unser Leben! Der Kampf um die Zeit weiterlesen
Berechnung durch Die Linke, Bundestagsfraktion, aus der Statistik der BA
Offizielle Arbeitslosigkeit im Februar 2017 110.643
Nicht gezählte Arbeitslose verbergen sich hinter:
Älter als 58, beziehen Arbeitslosengeld II 9.767
Ein-Euro-Jobs (Arbeitsgelegenheiten) 6.659
Förderung von Arbeitsverhältnissen 131
Fremdförderung 6.218
Bundesprogramm Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt 1.155
berufliche Weiterbildung 6.284
Aktivierung und berufliche Eingliederung (z. B. Vermittlung durch Dritte) 8.401
Beschäftigungszuschuss (für schwer vermittelbare Arbeitslose) 68
Kranke Arbeitslose (§146 SGB III) 2.987
Nicht gezählte Arbeitslose gesamt 41.670
Tatsächliche Arbeitslosigkeit im Februar 2017 152.313
Arbeitszeitgesetz § 1:
Zweck des Gesetzes ist es, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der
Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland (…) bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten und die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern sowie den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer zu schützen.
Die Dauer und die Lage der Arbeitszeit sind das Kernelement guter Arbeit – unter Berücksichtigung von Intensivierung der Arbeit und Produktivitätsentwicklung bedeutet »gesundheitsverträgliche Arbeit« verkürzte Arbeitszeiten, möglichst keine Nachtarbeit und ausreichend Pausen während der Arbeit und zwischen den Arbeitstagen. Das, was eine Binsenweisheit gewerkschaftlicher Tarifpolitik und des »gesellschaftspolitischen Mandats« gewerkschaftlicher Arbeit sein müsste, übersetzt sich bislang allerdings nicht in eine gewerkschaftliche Praxis. Deutet sich mit dem neuen Jahrbuch Gute Arbeit nun auch eine neue Initiative zu dieser lange vernachlässigten Forderung an? Arbeitszeitfragen sind Machtfragen – Rezension des Jahrbuch GUTE ARBEIT weiterlesen
Zum nötigen Umbau der Arbeitsgesellschaft
Die Organisation der Arbeit ist aus den Fugen. Wir müssen weg von der Spaltung in entfremdete Industriearbeit, nicht anerkannte unbezahlte »weibliche« Reproduktionsarbeit und erzwungene Erwerbslosigkeit. Dafür gibt es kein Patentrezept, aber ein paar schlüssige Überlegungen wie das Konzept des Versorgenden Wirtschaftens von Adelheid Biesecker, das Konzept der Tätigkeitsgesellschaft von André Gorz oder die Vier-in-einem-Perspektive von Frigga Haug. Die Lösung kann nur ein Gesellschaftsumbau sein, der bei den Ursachen ansetzt. Arbeiten wie noch nie!? Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit weiterlesen
Arbeitszeitkonferenz. Das Thema zog. Und so folgten viele dem Ruf von DGB und Friedrich-Ebert-Stiftung Mitte Januar nach Berlin: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Politiker aller Couleur, darunter Carola Reimann (SPD), Uwe Lagosky (CDU), Brigitte Potmer (Bündnis 90/Die Grünen) und Klaus Ernst (Die Linke). Für ver.di sprach Andrea Kocsis. Andere Gewerkschaften tauchten im Programm nicht auf.
Reiner Hoffmann begann seinen Beitrag mit DGB Arbeitszeittagung: Falsche Bescheidenheit weiterlesen
Als »Kongress voller Widersprüche« charakterisiert jW-Autor Stephan Krull den zurückliegenden Gewerkschaftstag der IG Metall in Express. Die Industriegewerkschaft kritisiere das Freihandelsabkommen TTIP, spreche sich zugleich aber für weitere Verhandlungen aus. Sie positioniere sich für das uneingeschränkte Streikrecht, unterstütze aber das Gesetz zur »Tarifeinheit«, das selbiges aushebelt. Und die IG Metall stehe für gewerkschaftliche Solidarität, schwäche aber den Deutschen Gewerkschaftsbund. So änderte die IG Metall ihre Satzung dahingehend, dass nur noch solche DGB-Beschlüsse bindend sind, die von den eigenen Leitungsgremien befürwortet werden. Diese »Schwächung des DGB könnte sich als verhängnisvoll herausstellen«, warnt Krull. Die Widersprüche in den Kongressbeschlüssen führt er auf »eine gewisse Orientierungslosigkeit« der Gewerkschaft zurück, der eine brauchbare Analyse der gegenwärtigen Krise fehle.
Ein weiterer zentraler Kritikpunkt Krulls ist, dass die Spaltung des Arbeitsmarkts in der Debatte auf die Problematik von Stamm- und Randbelegschaften reduziert worden sei. »Die Erwerbslosigkeit und die Erwerbslosen waren und sind für die IG Metall erkennbar kein Thema.« Das zeige sich auch beim Thema Arbeitszeit: Zwar will sich die IG Metall in den kommenden drei Jahren dafür einsetzen, die Wochenarbeitszeiten in den von ihr vertretenen Branchen, vor allem in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie, auf 35 Stunden zu senken. Ein Zusammenhang zur Überwindung der Erwerbslosigkeit wird dabei allerdings nicht hergestellt. Ein neuer Anlauf für die 35-Stunden-Woche im Osten müsse – insbesondere nach der »traumatischen Niederlage im Sommer 2003« – als große gesellschaftliche Auseinandersetzung geführt und entsprechend vorbereitet werden, so Krull, der seine Kritik nicht allein auf die IG-Metall-Führung beschränkte. Es sei eine Schwäche gewesen, dass sich linke Metaller »nicht bzw. nicht gemeinsam auf die Debatten dieses Gewerkschaftstages« vorbereitet hatten. (dab)
Express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/2015, 16 Seiten, 3,50 Euro,
Neues Deutschland, 18.9.2015
Die Erwerbsarbeit verändert sich: Digitalisierung, Globalisierung und demografischer Wandel sind die Stichworte. Die Produktivität steigt, die Absatzmärkte stagnieren. Weniger Beschäftigte werden mehr Güter und Dienstleistungen herstellen, die auf weniger Nachfrage und geringere Kaufkraft stoßen.
Der »Arbeitsmarkt« ist vielfach gespalten: Vollzeit und Teilzeit, Männer und Frauen, hohe Einkommen und Mini-Löhne, Erwerbstätige und Erwerbslose. Es steigen die Anforderungen an die Beschäftigten und an gute Arbeit. Mehr Mitsprache, mehr Eigeninitiative, mehr Anerkennung bei der Arbeit werden gefordert. Die Jahre der Stagnation haben zu großen Ungerechtigkeiten geführt. Männer arbeiten häufig zu lang, oft mit Überstunden; überwiegend Frauen arbeiten unfreiwillig in Teilzeit und Minijobs. Die Regierung lobt sich selbst wegen der vielen Erwerbstätigen, aber es gab noch nie so viel Unterbeschäftigung wie heute: Zehn Millionen Menschen sind erwerbslos oder unfreiwillig in Minijob oder kurzer Teilzeit.
Durch Gleitzeit und »Vertrauensarbeitszeit« haben wir eine gewisse Autonomie schätzen gelernt. Die Arbeitgeber verlangen von den Beschäftigten jedoch grenzenlose Mobilität und zeitlose Flexibilität. Flexibilität, zu der die Beschäftigten bereit sind, kann sich nicht nur auf betriebliche Belange beziehen, sondern muss auch persönliche Bedürfnisse und die Wechselfälle des Lebens berücksichtigen. Die Menschen wollen sich nicht mehr vorschreiben lassen, wann die Arbeit beginnt und wann Schluss ist. Flexibilität und Autonomie wollen wir in Lebensphasen mit Kindern, wenn Pflege von Angehörigen nötig ist, wenn wir uns weiterbilden oder wenn wir einfach eine Pause brauchen und wollen.
Diese nötige Flexibilität und gewünschte Autonomie wird durch kurze Vollzeit von 30 Stunden steigen, wenn persönliche Belange in sicherem Rahmen berücksichtigt werden: Vier-Tage-Woche oder Sechs-Stunden-Tag, drei Wochen arbeiten – eine Woche frei, ein Viertel Jahr durcharbeiten im Projekt – dann eine Auszeit von sechs Wochen oder ein Jahr lang 40 Stunden pro Woche, dann ein Jahr Kunststudium und dann wieder ein Jahr 40 Stunden pro Woche. Wichtig ist der sichere Rahmen: Es gibt das Recht auf diese kurze Vollzeit, das Recht auf eine vereinbarte und gewünschte Abwesenheit im Unternehmen. Die gesetzliche Begrenzung der regelmäßigen Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung, nachdem der Acht-Stunden-Tag vor fast 100 Jahren erstmals Gesetz wurde. Es wäre ein wichtiger Schritt zur Normalisierung der Verhältnisse in Europa und eine Unterstützung der Gewerkschaften bei ihren tarifpolitischen Zielen. In einem solchen Rahmen kollektiver gesetzlicher und tariflicher Regelungen ist eine individuelle Gestaltung der Arbeits- und Lebenszeit möglich.
Unter den Erwerbslosen und unfreiwillig in Teilzeit Beschäftigten sind viele gut qualifizierte Personen, vor allem Frauen. So könnte auch der Mangel an Fachkräften in der Pflege oder bei Ingenieurinnen und Ingenieuren, bei Facharbeiterinnen und Facharbeitern durch kurze Vollzeit für alle, durch gesicherte Flexibilität und durch gute Bildung und Ausbildung überwunden werden. Dafür ist gleiches Geld und etwa gleich verteilte Zeit für Erwerbsarbeit erforderlich: equal pay und equal time, das ganze Leben für alle!
Der Autor war Mitglied des Volkswagen-Betriebsrates und der IG-Metall-Tarifkommission, beteiligt an der Umsetzung der 30-Stunden-Woche bei VW, Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen bis März 2015 und Mitbegründer der Attac AG Arbeit/Fair/Teilen.
Stephan Krull argumentiert schlüssig für die zwingende Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzungen mit einer neuen Norm, was die tarifliche Normalarbeitszeit betrifft. Zurück aus der Flexibilisierung weiterlesen