Zu wenig gefordert! Tarifabschluss der IG Metall

Veröffentlicht in analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Ausgabe 635 vom 20. Februar 2018

Die IG Metall setzte  in der Tarifrunde ein Thema und unterschätzte die Kampfbereitschaft der Belegschaften

Die Entgeltforderung der IG Metall in der jüngsten Tarifrunde im Pilotbezirk Baden-Württemberg war einfach und bescheiden: Sechs Prozent mehr Entgelt für zwölf Monate. Eine Forderung gestellt vor dem Hintergrund, dass die Gewinnsituation der Betriebe besser ist als in den letzten zehn Jahren. Und selbstverständlich haben die Beschäftigten den Anspruch, die Inflation (Zielinflation 2%) auszugleichen und am Mehrwert beteiligt zu werden (1,5% Trendproduktivität in der Gesamtwirtschaft, ca. 5% in der Metall- und Elektroindustrie). Üblicherweise kommt eine weitere Umverteilungskomponente hinzu, um von den Gewinnen des Unternehmen etwas mehr auf die Arbeitsentgelte zu übertragen.

Die Arbeitszeitforderung der Metallgewerkschaft war nicht ganz so einfach: Es ging um die Möglichkeit einer befristeten Verkürzung der individuellen Arbeitszeit für alle Beschäftigten auf 28 Stunden pro Woche – mit einem Entgeltausgleich für Väter oder Mütter mit Kindern unter 14 Jahren oder für Beschäftigte mit pflegebedürftigen Angehörigen sowie für Schichtarbeiter_innen. Grundlage für diese Forderungen waren Beschlüsse des Gewerkschaftstages und eine Befragung von über 700.000 Beschäftigten in den Betrieben. Fast 70 Prozent der Befragten wollten selbstbestimmter und kürzer arbeiten. Hintergrund der Forderung war überdies, dass pro Jahr ca. zwei Milliarden Überstunden geleistet  und fast die Hälfte davon ohne Vergütung an die Unternehmer_innen verschenkt werden. Rund 600.000 Vollzeitstellen werden dadurch nicht geschaffen.

Von Beginn an war klar, dass die Arbeitszeitforderung der Knackpunkt der Verhandlungen wird. Von Anfang an gab es berechtigte Kritik an der Unzulänglichkeit der Forderung: Es ging nicht um kollektive Arbeitszeitverkürzung, weil weder ein allgemeiner  Entgeltausgleich noch ein  Personalausgleich gefordert wurden.

Merke: Was die Gewerkschaft nicht fordert, wird weder verhandelt noch erreicht werden.

Eine Besonderheit besteht in der Forderung, für die Tarifgebiete in den ostdeutschen Bundesländern die 35-Stunden-Woche umzusetzen. Diese Forderung wurde auf dem Gewerkschaftstag von den Delegierten aus Berlin-Brandenburg-Sachsen erkämpft, vom Vorstand unwillig aufgenommen. Die Erkenntnis dahinter: Die Angleichung der Arbeitszeiten kommt ohnehin; entweder Angleichung des Ostens an die 35 Stunden im Westen oder Angleichung im Westen an die 38 und mehr Stunden im Osten. Diese Auseinandersetzung steht nun unmittelbar bevor.

Komplexes Verhandlungsergebnis

Eine genaue Bewertung des Tarifergebnisses im Pilotbezirk Baden-Württemberg von Anfang Februar ist nicht einfach, weil es nicht einen neuen Tarifvertrag gibt, sondern ein bisher unveröffentlichtes Verhandlungsergebnis mit Auswirkungen auf eine Vielzahl von Tarifverträgen. Die Komplexität ist für Laien kaum noch durchschaubar. Grundlage der folgenden Bewertung sind die Erklärungen von IG Metall und Arbeitgebern zum Verhandlungsergebnis.
Die Entgelterhöhung beläuft sich auf 100 Euro für Januar bis März 2018 plus 4,3 Prozent ab April 2018 bis Ende der Laufzeit des Tarifvertrages im März 2020 (24 Monate) plus eines (jährlichen) tarifliches Zusatzgeld von 27,5 Prozent eines Monatsentgeltes ab Juli 2019 plus 400 Euro im Juli 2019. (»Ab 2020 wird der Festbetrag von 400 Euro tabellenwirksam und fließt in das Volumen des tariflichen Zusatzgeldes ein«). Für 2018 entspricht das etwa vier Prozent und liegt damit knapp über dem verteilungspolitisch neutralem Spielraum von Inflation und Produktivität. 2019 gibt es keine Erhöhung des monatlichen Entgeltes, es kommen mit dem tariflichen Zusatzgeld und dem Festbetrag von 400 Euro aufs Jahr umgerechnet je nach Entgeltstufe ca. zwei Prozent dazu. Das liegt aus heutiger Sicht klar unterhalb des verteilungspolitisch neutralen Spielraumes. Über die 27 Monate gerechnet ergibt sich also etwa die Hälfte dessen, was bescheiden für zwölf Monate gefordert wurde. Inflationsrate und durchschnittliche Produktivitätsentwicklung werden in der Laufzeit des Tarifvertrages damit nicht ausgeglichen. An der Umverteilung des Reichtums zulasten der abhängig Beschäftigten ändert sich durch diesen Tarifabschluss nichts, Anteile an den wachsenden Profiten der Unternehmen konnten nicht erreicht werden.

Gewerkschaft brachte Arbeitszeitverkürzung in die Diskussion

Die Arbeitszeitkomponente hat weniger Licht als Schatten. Gut ist, dass mit dem Anspruch auf Verkürzung der Arbeitszeit auf 28 Wochenstunden mit Rückkehrrecht in Vollzeit das Thema Arbeitszeitverkürzung unwiderruflich in der öffentlichen Debatte angekommen ist. Schlecht ist, dass das nur für zehn Prozent der Beschäftigten wirksam werden kann und dass es dafür keinen Lohnausgleich gibt: Ohnehin werden sich das Beschäftigte mit geringen Einkommen nicht leisten können. Ehrlicherweise muss – so traurig das ist – gesagt werden, dass die IG Metall auch keinen Lohnausgleich gefordert hatte.
Positiv ist, dass die Beschäftigten mit der kurzen Vollzeit Erfahrungen sammeln werden, die Lust auf mehr freie Zeit machen könnten. Negativ ist, dass die ausfallende Arbeitszeit nicht durch Neueinstellungen (Personalausgleich) ausgeglichen wird, sondern durch bereits Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit über die 35 Stunden hinaus verlängern können bzw. müssen. Die Schleuse für eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche ist noch weiter geöffnet worden. Ehrlicherweise muss gesagt werden – so traurig das ist –, dass die IG Metall keinen Personalausgleich durch Neueinstellungen gefordert hat.
Statt des tariflichen Zusatzgeldes können bestimmte Beschäftigtengruppen (mit Kindern bis zu acht Jahren oder pflegende Angehörige mindestens der Pflegestufe I bzw. Schichtarbeiter_innen) alternativ acht Freistellungstage maximal in zwei aufeinanderfolgenden Jahren in Anspruch nehmen. Dieser Anspruch kann per Betriebsvereinbarung auf alle Beschäftigten oder andere Beschäftigtengruppen erweitert werden. Aus der Stahlindustrie wissen wir, dass 80 Prozent der Beschäftigten, wenn sie die Wahl haben, die Freizeitoption wählen.
Flexibilisierung zugunsten der Unternehmen

Kritisch zu sehen ist des Weiteren, dass die Flexibilisierung zugunsten der Unternehmen ausgeweitet wird und dass die Arbeitsverhältnisse immer ungleicher werden. Mehr Beschäftigte als bisher werden künftig länger arbeiten müssen. Um ein neues Normalarbeitsverhältnis anzustreben, wäre es wichtig, dieser Atomisierung von Arbeitsverhältnissen entgegenzuwirken. Das war auch der Grundgedanke der Diskussion und Beschlussfassung des Gewerkschaftstages der IG Metall 2015: die 35 Stunden-Woche im gesamten Land fest verankern, um von dort aus weitere nötige Schritte in Richtung kollektiver Arbeitszeitverkürzung zu gehen. Negativ ist, dass die 35-Stunden-Woche so noch weiter durchlöchert wird und dass wieder mehr Verantwortung auf die betriebliche Ebene verlagert wurde – obwohl Betriebsräte strukturell schwächer sind als Arbeitgeber und auch als Gewerkschaften. In Betrieben ohne Betriebsräte, die ja auch tarifgebunden sein können, entscheidet über all das allein der Arbeitgeber.

Der vielleicht größte Fehler der Gewerkschaft besteht in der Furcht vor der Bereitschaft der Beschäftigten, für eine kräftige Lohnerhöhung und eine radikale Arbeitszeitverkürzung zu kämpfen. Wenn Betriebsratsvorsitzende und IG Metall-Geschäftsführer berichten, das mobilisierende Element sei die Entgeltforderung, steht das in einem unübersehbaren Widerspruch zu den Ergebnissen der Beschäftigtenbefragung. Es korrespondiert aber mit dem Unwillen der Führung, das Thema Arbeitszeit überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen. Dokumentiert ist die Bereitschaft der Beschäftigten in einer hunderttausendfachen Beteiligung an den Streikaktionen und der guten und kämpferischen Stimmung bei diesen Streiks. Wichtiger als ein Flugblatt oder eine Kundgebung ist die Erfahrung der vielen Menschen, mit einem Streik etwas bewirkt zu haben und aus einer passiven Rolle herausgetreten zu sein.

Was bleibt, ist die Chance auf eine Arbeitszeitverkürzung und die Erfahrung, durch Arbeitskämpfe etwas bewegen zu können. Und da es sich beim jüngsten Tarifabschluss um einen Türöffner für die Kämpfe um Zeit handelt, kommt es nun darauf an, in die politischen und gewerkschaftlichen Debatten um Zeit zu intervenieren. Herausgearbeitet werden sollte: Nur eine kollektive Arbeitszeitverkürzung kann am Elend der Flexibilisierung, der prekären Arbeit und der Erwerbslosigkeit etwa ändern.

Stephan Krull, 12.2.2018

http://www.igmetall-bbs.de/aktuelles/meldung/metall-tarifabschluss-fuer-sachsen-steht-mehr-geld-und-arbeitszeiten-die-zum-leben-passen/

 

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