Wir fahren zusammen, Gewerkschaften und Klimabewegung – erfolgreich für gute Arbeit im Nahverkehr. Können wir auch zusammen produzieren für eine soziale und ökologische industrielle Konversion und die Verkehrswende?
Lässt sich aus der Kampagne von Verdi und der Klimagerechtigkeitsbewegung für gute Arbeit im Nahverkehr (Tarifvertrag Nahverkehr TVN) etwas lernen? Ist es denkbar, dieses Bündnis auf die Industrie, auf die Gewerkschaften und auf die Arbeiterinnen und Arbeiter dort zu übertragen?
Darum ging es im Workshop bei der Konferenz zur Auswertung der Erfahrungen der in der Tendenz erfolgreichen Kampagne zum TVN: In Hamburg wird die wöchentliche Arbeitszeit um zwei Stunden von 39 auf 37 Stunden reduziert; in Berlin werden die bezahlten Pausen verlängert. Das sind beispielhafte Schritte zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Erreicht wurden diese Schritte durch von Verdi landesweit gebündelte Verhandlungen, Forderungen und Streiks, durch eine gute Öffentlichkeitsarbeit sowie durch die Kooperation mit der Klimagerechtigkeitsbewegung: Wir fahren zusammen. Gemeinsam gegen die gesellschaftliche Spaltung führt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen trotz extremen Drucks durch die Regierung und die (öffentlichen) Arbeitgeber.1 Den Aktiven der Kampagne #wirfahrenzusammen ist also zu gratulieren, wenngleich nicht im ersten Anlauf alle Ziele erreicht wurden.2
Ist es also denkbar, dieses Bündnis auf die Industrie, auf die Gewerkschaften und auf die Arbeiterinnen und Arbeiter dort zu übertragen? Und wäre das eine richtige Strategie?
I. Deindustrialisierung oder Konversion
Zur Beantwortung dieser Frage lohnt ein Blick auf die Industrie; ich beschränke mich im wesentlichen auf die Autoindustrie, weil sie eine große ökonomische Macht in unserem Lande darstellt und eine Beschneidung dieser Macht und das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie die Voraussetzungen dafür sind, die anderen industriellen Bereiche bedarfsgerecht zu entwickeln. Die anderen für das Thema relevanten Bereiche sind die Stahlindustrie, der Bau von Bussen, Schienenfahrzeugen und Fahrrädern mit Bedeutung für die Verkehrswende sowie die Teile der Industrie, die für die Energiewende von Bedeutung sind (Windkraftanlagen, PV-Anlagen und Anlagen für Solarthermie jeweils mit allen Komponenten).
In dem Zusammenhang ist wirklich nur schwer zu ertragen, dass das, was für eine Verkehrswende nötig wäre (Schienenfahrzeugbau), systematisch ausgebremst wird. Und das, was die Klimakatastrophe beschleunigt (Autoproduktion) mit Milliarden gefördert wird. Die Regierung macht keine Industriepolitik und die IG Metall ist sich uneins.
Nun also Vertragsbruch durch Alstom, einem der größten Betriebe der Bahnindustrie. Der Schienenfahrzeugbau muss als systemrelevant und als Teil der Daseinsvorsorge vergesellschaftet werden nach Artikel 14/15 Grundgesetz. Bundes- und Landesregierungen müssen den Schienennah- und Fernverkehr ausreichend mit Geld ausstatten, damit es eine sichere Auftragslage, Zukunftsinvestitionen und kontinuierliche Produktion und Wartung von Schienenfahrzeugen gibt. Das Elend kaputter und überfüllte Züge muss ein Ende haben.
Kapitalismus am Limit?
Allein bei Alstom in in Hennigsdorf sollen 450 Jobs wegfallen bzw. nach Polen verlagert werden. Der Bereitschaft seitens der Belegschaft auf Urlaubsgeld – immerhin 34 Millionen Euro pro Jahr – zu verzichten, begegnete Alstom mit der Zusage, die Produktionsbedingungen und damit die Konkurrenzfähigkeit zu verbessern, Investitionen vorzunehmen und die Werke mit entsprechenden Aufträgen zu versorgen. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass die Zusagen von Alstom eingehalten werden. Bundes- und Landesregierung schauen weiterhin nur zu, wie diese wichtige Zukunftsindustrie aus Profitgier zerstört wird.
Das Neue Deutschland berichtet über die Probleme, die sich daraus für die IG Metall ergeben3: Während die Geschäftsstelle Oranienburg/Potsdam den Standort in Hennigsdorf betreut, liegen in der Zuständigkeit der Geschäftsstelle Berlin die Unternehmen Stadler und Siemens-Mobility. Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin, positioniert sich im Bieterverfahren klar. »Für die Industrie in der Hauptstadtregion ist die Vergabe des S-Bahn-Auftrags an Siemens und Stadler die beste Lösung«, hatte Otto ebenfalls dem »Tagesspiegel« gesagt. »Unser Anliegen ist local content: Wir möchten so viel Wertschöpfung wie möglich in den deutschen Werken, doch das scheint mir mit Alstom nicht möglich«, zitiert der »Tagesspiegel« ihn weiter. Alstom bzw. das Management in Paris riskiert mit der Verlagerungsstrategie ganz bewusst diesen und viele weitere Aufträge zu verlieren.
Gleichzeitig haben wir es mit einer Beschäftigungskrise in der Auto- und Zulieferindustrie zu tun.
Seit 2018 ist der Absatz rückläufig, in diesem Jahr 2024 gibt es einen regelrechten Absatzeinbruch bei dem Zukunftsprojekt E-Auto. Die Fabriken sind nicht annähernd ausgelastet bei einer Produktion von der Hälfte dessen, wozu die Fabriken und die Anlagen gebaut worden sind. Ein typisch kapitalistisches Problem von Überkapazitäten, für das es jetzt wirklich keinen neuen Markt gibt – weder räumlich noch technologisch: In den bisherigen großen Märkten scheint Peak Car erreicht. Die staatliche Förderung von Passagierdrohnen bzw. Flugtaxis – Wissing spendiert großzügig 150 Millionen für Volocopter, ein Konsortium von Blackrock, Mercedes, Schenker, Intel und einer saudischen Projektgesellschaft – wäre ein geradezu lachhaftes Projekt, wenn es nicht so traurig wäre und so zerstörerische Folgen hätte4.
Neben den Überkapazitäten wird die Krise der Beschäftigung in der Autoindustrie dadurch befeuert, dass die chinesischen Hersteller inzwischen sehr gute Autos zu günstigeren Preisen auf den chinesischen Markt bringen und diese jetzt auch nach Europa exportieren werden; mehr noch, sie werden selbst in Europa produzieren. In Barcelona beginnt Chery mit der Produktion im ehemaligen Nissan-Werk in der Zona Franca, BYD hat ein großes Projekt zur Autoproduktion in Szeged in Ungarn gestartet und demnächst könnte SAIC an seinem britischen MG-Entwicklungsstandort in Birmingham mit einer Autofabrik folgen. Dann bricht nicht nur China als volumenstarker Markt für Volkswagen, Daimler und BMW weg, sondern Überkapazitäten und daraus resultierende ruinöse Preiskämpfe werden in Europa ausgetragen. 40 Jahre sehr profitabler Absatz und Produktion in China sind für die deutsche Autoindustrie vorbei, in China selbst fahren die deutschen Hersteller der Konkurrenz von BYD und anderen nur hinterher. Großmäulig wie immer kündigt Matthias Glodny, Produktstratege bei VW in China, bei der Automesse in Beijing vor ein paar Tagen an, auf dem chinesischen Markt „im Preiskrieg zurück zu schlagen“5. Die milliardenteure Plattformstrategie wird dabei gleich mit über den Haufen geworfen, eine eigene Plattform für China soll die Kosten um 40 Prozent im Vergleich zum Modularen E-Antriebsbaukasten (MEB) senken. Dieses wird sicher nicht ohne Folgen für die Produktion und für die Arbeiterinnen und Arbeiter auch in den deutschen Werken sein. Die EU hingegen plant protektionistische Zölle zu erheben, was nichts mit fairem Wirtschaftsbeziehungen zu tun hat, sondern nur den Handelskrieg verschärfen würde.
Verschärft wird die Krise durch eine falsche Produktpolitik der Autokonzerne, insbesondere von Volkswagen. Wenn es keinen Verbrenner unter 25.000 Euro und kein Elektro-Auto unter 40.000 Euro im Angebot gibt, kann man wohl kaum noch von „Volkswagen“ sprechen. Die Produktion von kleinen und preiswerteren Autos wurde eingestellt, weil die Profite bei SUV und Luxus höher sind. In diese Lücke springen jetzt wiederum chinesische Hersteller. Gleichzeitig haben die big three (VW, Daimler und BMW) die fällige Transformation verschlafen und die Verkehrswende blockiert. Die Manager der deutschen Autoindustrie haben sich einseitig auf große, teure Fahrzeuge und E-Antrieb festgelegt. Sie stehen jetzt vor dem Scherbenhaufen und sie haben keinen Plan B – außer wahrscheinlich, ihr Kapital in andere Regionen zu verschieben. Die Arbeiterinnen und Arbeiter und diejenigen in der Hierarchie der Unternehmen, die die Werke am Laufen halten sollen, sind wegen der drastischen Unterauslastung maximal verunsichert. 2018 gab Volkswagen bekannt, dass die Produktion im Wolfsburger Stammwerk auf etwa eine Million Fahrzeuge ansteigen soll. Stattdessen jetzt eine Auslastung von weniger als 500.000 Autos pro Jahr – schlimmer noch sieht es in Zwickau und Emden aus. Herkömmliche kapitalistische Antworten wie Entlassungen oder Werksschließungen sind wegen Tarifverträgen mit der IG Metall und der Mitbestimmung im Aufsichtsrat ausgeschlossen, Kurzarbeitergeld geht wegen gesetzlicher Regelungen nicht mehr. Namentlich bei Volkswagen wird seitens des Managements ernsthaft über Lohnkürzungen von zehn Prozent gesprochen6. Das würde an der falschen Strategie zwar nichts ändern, die Eigentümer hätten aber rund 500 Millionen Euro pro Jahr an Lohnkosten eingespart – und die 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter im Schnitt 5.000 Euro brutto weniger in der Tasche.
Andererseits zahlt Volkswagen wegen des gigantischen Abgasbetruges eine Geldbuße von 1.000 Millionen Euro (1 Milliarde), Conti 100 Millionen, Bosch 90 Millionen und ZF 42,5 Millionen Euro, davon jeweils fünf Millionen Euro Bußgeld – mehr sieht das Gesetz für die fahrlässige Verletzung von Aufsichtspflichten nicht vor – und der Rest jeweils als Abschöpfung illegal erworbener Profite.
Statt die Chance zu nutzen und planmäßig aus der Produktion von Autos auszusteigen und z.B. ähnliche Fahrzeuge wie die von MOIA oder SPRINTI7 für einen neuen, smarten öffentlichen Verkehr und innerstädtische Transporte zu bauen, den Busbau voranzutreiben und massenhaft vernünftige Fahrzeuge für die Verkehrswende zu produzieren, halten die Auto- und die großen Zulieferkonzerne stur an ihrer falschen Produktpolitik fest. Der motorisierte Verkehr muss drastisch reduziert werden, der öffentliche Verkehr mit Bus und Bahn muss schnell verdoppelt werden. Und die Bundesregierung macht ihrerseits keine Industriepolitik für diesen Umbau, sondern schaut tatenlos zu, wenn Eigentümer und Manager der Auto- und Bahnindustrie die Klimaziele hintertreiben und das Land deindustrialisiert wird.
II. Der Elefant im Raum
Während die Regierung weiter auf die Autoindustrie setzt, statt auf industriepolitisch andere, richtige Schwerpunkte zu orientieren und den Schienenfahrzeugbau in Hennigsdorf, Brandenburg, Salzgitter oder Cottbus zu fördern, statt die Insolvenz des letzten Herstellers von Güterwagen in Deutschland, des Waggonbau Niesky, zu verhindern, wenden sich die Menschen gegen die Giga-Gaga-Factory in Grünheide, stimmen in einer Bürger*innen-Befragung gegen den Ausbau der Fabrik und wünschen sich deutlich weniger Autos in den Städten8. In ländlichen Regionen sieht es anders aus – und selbstverständlich muss die Verkehrswende in den Städten beginnen. Aber da ist noch der Elefant im Raum, das große Problem, über das geredet werden muss: In der Auto- und Zulieferindustrie geht es um 760.000 Arbeiter*innen und ihre Familien, um regionale Autocluster in Baden-Württemberg, Sachsen, Bayern und Niedersachsen. In diesen Regionen sollte es nicht so laufen wie aktuell im Saarland: Ford verlagert die Produktion des Fiesta aus Saarlouis nach Spanien. Der saarländischen Regierung ist es nicht gelungen, eine ökologisch und sozial vertretbare Nachnutzung zu organisieren und industrielle Arbeitsplätze zu erhalten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Autoindustrie haben Aufgrund eines guten Organisationsgrades in der Gewerkschaft (ein Viertel aller Mitglieder der IG Metall), hoher Wertschöpfung daraus abgeleitet relativ hohe Löhne. Daraus ergibt sich die volkswirtschaftliche und damit auch die politische, ökologische und soziale Bedeutung dieser Branche.
Insgesamt wurden in den zurückliegenden fünf Jahren jedoch schon über 60.000 Arbeitsplätze in der Auto- und Zulieferindustrie verlagert oder vollständig abgebaut.
Standortschließungen oder Personalabbau von 100 bis 12.000 Beschäftigten
Unternehmen | Orte |
Autoliv | Elmshorn |
Benteler | Bottrop |
Bosch | Bietigheim, Reutlingen, Salzgitter, München, Göttingen, Sindelfingen und Arnstadt |
Brose | Wuppertal, Würzburg und Coburg |
Continental | Aachen, Salzgitter, Gifhorn, Nürnberg, Schwalbach, Wetzlar, Northeim, Oedelsheim und Mühlhausen |
Eberspächer | Esslingen |
e-Go | Aachen |
Eissmann | Bad Urach / Reutlingen |
Faurecia, Hella / Forvia | Böblingen, Hagenbach, Heilbronn, Stadthagen, Peine, Lippstadt |
FEV | Aachen |
Ford | Saarlouis und Aachen |
Franken-Guss | Kitzingen |
Freudenberg | Weinheim |
GKN | Zwickau |
H.C. Müller | Reichenberg |
Kamax | Homberg |
Lear | Kronach und Besigheim |
Leoni | Brake |
Mahle | Gaildorf, Freiberg, Öhringen und Mattighofen |
Magna | Dorfprozelten, Roitzsch |
Marelli | Brotterode / Schmalkalden |
Mercedes | Verkauf aller Niederlassungen |
Michelin | Homburg, Trier, Karlsruhe |
Rehau | Schwarzenbach, Feuchtwangen, Viechtach |
Schaeffler | Herzogenaurach, Bühl und Homburg, |
SD Automotive | Osnabrück |
Sitech | Hannover |
Tesla | Grünheide |
Valeo | Friedrichsdorf und Ebern |
Volkswagen | Zwickau, Emden, Wolfsburg |
Webasto | Hengersberg / Niederbayern |
ZF | Damme, Gelsenkirchen, Eitorf |
Eines der Unternehmen aus dem sächsischen Vogtland schreibst stolz in seiner 150-Jahre-Chronik, „das Unternehmen überstand unter der Führung der Familien zwei Weltkriege, die große Weltwirtschaftskrise sowie 45 Jahre kommunistische Planwirtschaft“, bevor es jetzt in Insolvenz ging und bestenfalls von Finanzinvestoren aufgekauft werden wird9.
Autoarbeiter*innen sind keine Aliens, sondern Menschen wie Du und ich. Sie leben mit ihren Familien, mit Kindern und Enkeln im Hier und Jetzt. Sie wissen um die Notwendigkeit von Veränderungen angesichts der Krise, um das Leben künftiger Generationen zu ermöglichen. Aber sie haben auch viel zu verlieren, einen soliden Lebensstandard, einen gut entlohnten Job, ein Häuschen vielleicht; einerseits. Andererseits können sie wenig bis gar keinen Einfluss nehmen auf die Produktpolitik „ihrer“ Unternehmen. Das verunsichert extrem und macht Angst, Existenzangst, Angst vor dem Absturz ins Bürgergeld mit allen Konsequenzen. An diese Ängste wiederum docken rechte Demagogen an. Ohne soziale Garantien für diese Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Autoindustrie ist eine progressive, soziale und ökologische Lösung, eine Konversion der Produktion nicht denkbar. Wie bei jedem Prozess, zum Beispiel auch beim Ausstieg aus der Kohle, braucht es Zeit und Geld zum Umbau. Bei der Kohle geht es „nur“ um gut 20.000 Beschäftigte, um einen Zeitraum von 20 Jahren und um 40 Milliarden Euro, die Basis des Konsenses auch mit der Gewerkschaft (IGBCE) zum Ausstieg waren.
III. Aktive Industriepolitik – kämpfen für die sozial-ökologische Transformation
Warum sollte es in der Autoindustrie und mit der IG Metall nicht genau so auch laufen? Die IG Metall hat sich mehrfach und eindeutig zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens bekannt. Aber wie unabhängig von Kabinett und Kapital ist eine Gewerkschaft, die vielfach in das politische und ökonomische System eingebunden ist über das Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetz, über Aufsichtsräte, Arbeitsgerichte, Sozialversicherungen und vieles mehr. Andererseits hat die Gewerkschaft kein Vertrauen in die Unternehmen und die Regierung, dass die Verkehrswende gewollt ist und gelingen wird. Deshalb hängt die IG Metall an dem , was sie hat – also an der Autoindustrie. Es ist meines Erachtens ein strategischer Fehler der Gewerkschaft, den Schienenfahrzeugbau nicht stärker zu unterstützen und den Ausbau energisch zu fordern. Die Mitglieder, die die Gewerkschaft in der Autoindustrie verliert (und das sind nicht wenige), könnte sie im Schienenfahrzeugbau gewinnen. Also jetzt nur mal so aus der Organisationsperspektive, die nicht gering zu schätzen ist. Sie tut jedoch zu wenig auf der politischen Ebene um zu intervenieren und sie verbindet die betrieblichen Kämpfe nicht – weder auf Branchenebene noch zwischen den Branchen. Das ist dramatisch und geht schon auch zu Lasten der Gewerkschaft selbst.
Gesellschaftlich kommt die Aufgabe hinzu, die in Jahrzehnten konstruierte Abhängigkeit vieler Menschen vom Auto zu überwinden; konstruiert wegen der Trennung von Wohnen und Arbeiten, wegen der Stadt- und Raumplanung, wegen der Bevorzugung des Autos beim Straßenbau, wegen der Gefährlichkeit der Autos für alle anderen Verkehrsteilnehmer*innen. Wegen der Freiheit, auch ohne Auto leben zu können und wegen der hohen Kosten des eigenen Autos wollen viele Menschen diese Abhängigkeit überwinden10. Individuell und gesellschaftlich ist das aber schwierig, wenn keine Alternativen für Arbeit und für Mobilität vorhanden sind. Und genau da ist anzusetzen oder, besser gesagt, weiterzumachen, wenn es um eine andere Industriepolitik geht. Weitermachen deshalb, weil es viele gute Ansätze für solche Bündnisse gibt; ich will mich nur auf die jüngsten zwei Beispiele beschränken:
Im April 2021 wurden von DGB, IG Metall, ver.di, SoVD, VdK, AWO, BUND, VCD, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und dem NABU Handlungsempfehlungen für eine sozial gerechte und ökologische Mobilitätswende vorgestellt11. Das Bündnis wollte zeigen, dass es für diese Themen bereits gesellschaftliche Unterstützung gibt und dringend gehandelt werden muss. In den Regionen, in den Geschäftsstellen der IG Metall sind diese Empfehlungen aber eben sowenig Handlungsgrundlage wie bei der Kirche und den Umwelt- und Sozialverbänden.
Zu Beginn des Jahres 2024 erblickte ein weiteres, neues Bündnis das Licht der Welt: „Verkehrswende braucht Zeitenwende“12. Gewerkschaften, Schienen- und Fahrradverbände werben für eindeutige Priorisierung umweltfreundlicher Verkehrsträger. Darin fordern die IG Metall, die EVG, der ADFC, die Allianz pro Schiene und Zukunft Fahrrad, die Verkehrswende zu starten: ökologisch, ökonomisch und sozial. Darin solche „revolutionären“ Positionen wie:
- Wir brauchen ein neues Zusammenspiel und einen anderen Verkehrsträger-Mix mit einer deutlich gestärkten Rolle von Schienenverkehr, öffentlichem Verkehr und Radverkehr sowie einer neuen, darauf abgestimmten und in Anzahl und Wege-Umfang reduzierten Rolle des Automobils.
- Autobahnen und Bundesstraßen hat Deutschland genug, Schienenstrecken und Radschnellwege viel zu wenig.
- Für die Verkehrswende brauchen wir einen verkehrsträgerübergreifenden Infrastrukturfonds nach Schweizer Vorbild mit Finanzierungssäulen für die Bahn, den ÖPNV sowie den Fuß- und Radverkehr, der aus verschiedenen Quellen gespeist wird.
- Reform des übergeordneten Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und darauf aufbauend der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO).
- Freiwerdende Steuermittel und freiwerdende Mittel aus dem Fernstraßenbau sollten in die Verkehrswende investiert werden.
- Politik soll die Transformation aktiv begleiten, durch eine aktive Industriepolitik, Instrumente der Weiterbildungspolitik (Qualifizierungsgeld, Bildungsteilzeit, Verbesserung des Transfer-Kurzarbeitergeldes), Unterstützung von Unternehmen im Wandel (Innovationsförderung, im Extremfall auch Liquiditätshilfen zur Investition in neue Geschäftsmodelle), und regionale Strukturpolitik in besonders betroffenen Regionen.
- Gemeinwohlaspekte bei öffentlichen Ausschreibungen stärker berücksichtigen.
- Es sollte eine Mindestwertschöpfungsquote von 50 Prozent für „Made in Europe“ (Art. 85 2014/25/EU) bei Bietern aus Drittstaaten und bundesgesetzlich in Deutschland bei der Fahrzeugbeschaffung öffentlicher Verkehrsunternehmen sowie bei der Beschaffung im Rahmen der Vergabe öffentlicher Verkehrsdienste – insbesondere im ÖPNV und SPNV – implementiert werden.
Von großen und wichtigen Organisationen gibt es gute Positionen zur Verkehrswende und richtige Forderungen an die Regierungen in Bund und Ländern. Aber was, wenn die Regierungen, ob SPD, Grüne und FDP, SPD und CDU oder CDU und Grüne, nicht ansatzweise auf diese Forderungen eingehen? Die Beschäftigungskrise in der Autoindustrie zwingt dazu und beinhaltet die Chance, mit überzeugenden Alternativen für eine Wende, eine Zeitenwende in der Industrieproduktion zu kämpfen – mit den Arbeiterinnen und Arbeitern dieser Industrien. Von Nöten ist eine andere sozial-ökologischen Industriepolitik: Für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs braucht es entsprechende Produktion von Schienenfahrzeugen, unterschiedlichsten smarten Bussen für städtischen Verkehr und für ländliche Regionen, Straßenbahnen, Fahrräder und ganz neue Fahrzeugkonzepte für Velomobile und Leichtfahrzeuge (Microcars oder Kei-Cars; in Japan sind das fast die Hälfte aller zugelassenen Autos).
Eine solche Industriepolitik bedeutet Planungssicherheit für Unternehmen. Sie erfordert aber ein Eingreifen der öffentlichen Hand, wenn private Unternehmen nicht mehr Willens oder in der Lage sind, Standorte in der Bus- oder Schienenfahrzeugindustrie zu erhalten und für die Transformation fit zu machen. Das Grundgesetz bietet und gebietet Möglichkeiten der Vergesellschaftung von industrieller Produktion, damit sie dem Wohle der Allgemeinheit dient (Art. 14/15 GG), in der Satzung der IG Metall ist analog zum Grundgesetz die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien vorgesehen. Die angelaufene Klimakatastrophe zwingt uns, Wirtschaft künftig nicht mehr am Profit auszurichten, sondern an den planetaren Grenzen, an der Nachhaltigkeit und an den grundlegenden Bedürfnissen der Menschen nach einem guten Leben für alle. Künftig muss es um Kooperation statt um Konkurrenz gehen – auch in den internationalen Beziehungen und im Welthandel. Künftig muss es um weniger Erwerbsarbeit, um eine gerechtere Verteilung der Sorge- und Familienarbeit, um Arbeitszeitverkürzung gehen: Die durchschnittliche 28-Stunden-/ oder Vier-Tage-Woche. So bieten sich Möglichkeiten von Klimabewegung und Gewerkschaftsbewegung hin zu gemeinsamen Kämpfen für die sozial-ökologische Transformation der Industrie. Die Möglichkeiten und Notwendigkeiten, etwas anderes als Autos für den individuellen Nutzen zu produzieren sind vorhanden und genannt.
Nun kommt es darauf an, diese Zusammenarbeit, gleich ob wir sie „transformative Zellen“ (Wissen/Brand1) oder Transformationsräte (IG Metall / RLS) nennen, konkret zu planen und zu beginnen.
- In welchen Regionen können wir anknüpfen an welche Industrie (Auto, Schienenfahrzeuge, Windkraftanlagen usw.)?
- Wer sind die Ansprechpartner (in den Gewerkschaften, Betriebsräte, Umwelt- und Sozialverbände, Verkehrsinitiativen)?
- Wie kann eine regionale Kampagne entwickelt und in eine bundesweite Kampagne integriert werden?
Die gemeinsamen Positionen von DGB, IG Metall, EVG, Verdi, Fridays for Future, BUND, SoVD, NABU, VCD, EKD, Allianz pro Schiene, mercator-Stiftung und anderen sind eine gute Ausgangsposition dafür.
1https://www.oekom.de/buch/kapitalismus-am-limit-9783987260650
1https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-fahren-zusammen/
2Tatsächlich gab es einen ersten Anlauf bereits 2020, der durch die Pandemie aber nicht zu Ende geführt werden konnte.
3https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181516.wirtschaft-ig-metall-bald-keine-zuege-mehr-aus-hennigsdorf.html?sstr=alstom
4https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/lobbyismus/diese-investoren-stecken-hinter-der-flugtaxi-firma-die-millionen-aus-steuermitteln-erhalten-soll
5Wolfsburger Nachrichten, 25.4.2024; https://www.braunschweiger-zeitung.de/wirtschaft/article242172938/VW-kuendigt-Offensive-in-China-an-Wir-schlagen-zurueck.html
6https://www.waz-online.de/lokales/wolfsburg/vw-pauschale-lohnkuerzung-von-10-prozent-so-wuerde-sie-sich-auswirken-4ZDEMB2ZNJDH3MSWOOKQNAHKAU.html
7Da die Förderung des Bundes ausläuft, ÖPNV aber niemals kostendeckend arbeitet, finanziert die Region Hannover den Betrieb des sprinti ab 2025 vorerst aus dem eigenen Haushalt. Hierfür sind durchschnittliche Kosten von rund 24 Millionen Euro jährlich einzuplanen. Gleichzeitig spart die Region Hannover rund 5,5 Millionen Euro jährlich durch den Wegfall von Bus- und Bedarfverkehrsleistungen an Orten, an denen der sprinti etwa Stadtbusse ersetzt, ein. https://www.hannover.de/Leben-in-der-Region-Hannover/Verwaltungen-Kommunen/Die-Verwaltung-der-Region-Hannover/Region-Hannover/Region-Hannover-plant-Verl%C3%A4ngerung-des-%E2%80%9Esprinti%E2%80%9C-bis-Ende-2027
8Das Hamburger Abendblatt berichtet am 24.4.24, dass „Hamburger sich mehr als alle anderen weniger Autos in der Stadt wünschen.“
9https://www.chmueller.com/de/ueber-uns/
10https://www.abendblatt.de/hamburg/politik/article242171176/Neue-Umfrage-Hamburger-wuenschen-sich-weniger-Autoverkehr.html?utm_medium=social&utm_campaign=HA&utm_source=Facebook&tpcc=artikel_facebook_ha#Echobox=1713967269
11https://www.igmetall.de/presse/pressemitteilungen/buendnis-fordert-sozialvertraegliche-mobilitaet
12https://www.igmetall.de/presse/pressemitteilungen/buendnis-verkehrswende-braucht-zeitenwende
https://www.oekom.de/buch/kapitalismus-am-limit-9783987260650