IG Metall: Der Kongress tanzt – nicht

Vom 22. bis 26. Oktober tagte in Frankfurt a. Main der 25. Ordentliche Gewerkschaftstag der IG Metall. 421 Delegierte aus 148 Geschäftsstellen berieten fast 500 Anträge, die unter anderem den Fahrplan der IG Metall für die kommenden vier Jahre abbilden sollten. Zunächst aber wählten sie wie auf jedem Gewerkschaftstag die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands, der zusammen mit weiteren 29 ehrenamtlichen Vorstandmitgliedern die Gewerkschaft leitet (AK Kongressbeobachtung).

Neue Vorsitzende: was ist zu erwarten?

Die medial wichtigste Nachricht des Gewerkschaftstags war: Die Metallgewerkschaft wählt erstmals eine Frau an ihre Spitze. Ein Überraschung war es am Ende nicht mehr, es blieb allein die Frage, wie stark der Rückhalt von Christiane Benner sein würde. Mit über 96 Prozent erhielt sie ein Traumergebnis. Die Erleichterung darüber war zu spüren.

Verkleinerung des Vorstands im zweiten Anlauf: Eigentlich hätte der geschäftsführende Vorstand bereits vor 12 Jahren von sieben auf fünf Mitglieder verkleinert werden sollen, doch verfehlte ein entsprechender Antrag des Vorstands auf dem Gewerkschaftstag 2011 in Karlsruhe die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit. Dies hatte zur Folge, dass Plan B zum Zuge kam und mit Christiane Benner und Jürgen Kerner zwei Hauptamtliche in den Vorstand aufrückten, die nun 2023 als 1. bzw. 2. Vorsitzende zum neuen Führungsduo gewählt wurden.

Christiane Benners Weg an die Spitze der IG Metall verdankt sich also einer Abstimmungsniederlage des Vorstands. Spätestens als sie 2015 mit über 91 % Zustimmung zur 2. Vorsitzenden gewählt worden war, war vorgezeichnet, dass sie, so sie denn wollte, nach dem altersbedingten Ausscheiden von Jörg Hofmann das ungeschriebene Vorrecht auf die Spitzenkandidatur hätte. Vor allem viele Männer im Apparat der Gewerkschaft wollten dies damals nicht wahrhaben. Keine Erfahrung in der Tarifpolitik, kein Rückhalt in den Bezirken, als 1. Vorsitzende nicht geeignet, so lauteten zahlreiche, wie üblich nie öffentlich geäußerte Einwände. Dabei war bereits 2015 klar, sollte Benner ihren Hut in den Ring werfen, würde es keiner ihrer Konkurrenten wagen, öffentlich eine Kampfkandidatur anzukündigen. Die Papstwahl ist im Vergleich zur Besetzung der Vorstände der IG Metall vergleichsweise transparent, offene Personalkontroversen werden nicht geschätzt, Intrigen werden praktiziert, aber nicht kommuniziert. Also setzten manche zunächst darauf, sie an die DGB-Spitze wegloben zu können. Doch Benner, die lange genug in der Organisation war, um zu wissen, wie die hochgradig vermachtete IG Metal tickte, spielte nicht mit. Der Versuch von Jörg Hofmann über den Vorschlag einer „Doppelspitze“ doch den von ihm und anderen favorisierten Bezirksleiter Baden-Württembergs, Roman Zitzelsberger, an die Spitze zu hieven, scheiterte. Außerhalb seines Heimatbezirks sahen viele Ehren- wie Hauptamtliche nicht ein, warum ausgerechnet nun, da erstmals eine Frau an die Spitze der IG Metall rücken konnte, die Satzung geändert werden solle. Zitzelsberger war zudem mit seinen Vorschlägen zu einer Sozialpartnerrente genannten kapitalgedeckten Betriebsrente keineswegs überall so populär, wie von seinen Unterstützer*innen erhofft. Mit seinem am Ende auch gesundheitsbedingt erfolgten Rückzug war der Weg endgültig frei. Benner hatte demonstriert, dass sie auch im Haifischbecken IG Metall schwimmen kann, was am besten geht, wenn man selbst auch etwas Hai ist.

Neuer Stil – alter Kurs

Misst man den neuen Kurs an dem von Benner am Tag nach ihrer Wahl präsentierten „Zukunftsreferat“, so lässt sich sagen: Ein neuer Stil, aber keine neue Richtung. Letzteres war angesichts der von Benner in den letzten Jahren vertretenen Positionen nicht zu erwarten. Sie ist wie der neue zweite Vorsitzende fest in der SPD verankert und in der Vergangenheit nicht durch linke Positionsbestimmungen aufgefallen. Dies war und bleibt die Domäne von Hans-Jürgen Urban, der, wie bei den vorigen Gewerkschaftstagen auch diesmal wieder, mit über 95 Prozent ein gutes Wahlergebnis einfuhr und als einziger aller Vorstandskandidaten politische Vorstellungen nicht nur zu seinem Schwerpunkt Sozialpolitik, sondern auch zur gesellschaftlichen Perspektive präsentierte. Allein, er wird geschätzt, aber in der eigenen Organisation wenig gelesen und seine Thesen bestimmen nicht den Kurs.

Benner legte einen beeindruckend dynamischen Vortrag hin. Sie rockte in jeder Hinsicht den Saal, der ihr mit stürmischem Beifall zu Füßen lag. Stilistisch der komplette Gegenentwurf zum eher drögen Schwaben Hofmann. Allein wenn man die Rede sacken ließ, fielen Leerstellen auf. Schwerpunkt war die durch die Klimakatastrophe auf die Tagesordnung gesetzte Transformation der Wirtschaft in Richtung einer post-fossilen Wirtschaftsweise. Aber die aktuellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die IG Metall gegenwärtig zu bewegen hat, bleiben außen vor. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der Terror der Hamas und dessen Folgen, die sich abzeichnende Konfrontation mit China – nichts davon fand Erwähnung.

Benner beschwor, wie zuvor Jörg Hofmann und in ihren Grußworten Wirtschaftsminister Habeck sowie Bundeskanzler Scholz, den Industriestandort Deutschland und dessen notwendige Verteidigung. Wichtigstes Instrument dabei: Die als Brückenstrompreis titulierte Subventionierung der Energiekosten der Unternehmen. Über die Kontroversen darüber in der Ampel – kein Wort. Es müsse gewährleistet bleiben, dass auch in Zukunft Autos in Deutschland produziert werden und die dazugehörigen Batterien und Computerchips am besten auch. Industriepolitik im Interesse der Beschäftigten, eine verständliche Position für eine Gewerkschaft, die die Arbeitsplatzsorgen ihrer Mitglieder ernst nimmt. Allein: ein nachdenklicher Hinweis auf die dabei notwendiger Weise auftretenden Widersprüche zwischen Konkurrenzfähigkeit und Standorterhalt, mit denen die Gewerkschaft tagtäglich sich auseinandersetzen muss kein Wort. E-Autos, so Benner müssen in Deutschland gebaut werden. Wenn BMW aber ein nagelneues Werk für E-Autos der Kosten wegen in Ungarn errichten lässt, so geschieht dies mit Billigung des in der IG Metall organisierten Gesamtbetriebsrats. Mischkalkulation heißt das Zauberwort und meint: Wenn BMW in Ungarn günstig produzieren kann, sichert dies auch die im Vergleich zu Ungarn ungleich besser bezahlten Arbeitsplätze in München und Regensburg. Das Gleiche gilt für Leiharbeit und Werkverträge.

Benner forderte, dass die Förderung industrieller Ansiedlungen an Tariftreue und Beschäftigungszusagen geknüpft werden müsse, überging aber geflissentlich, dass ihr SPD Parteigenosse und Wirtschaftsminister in Brandenburg Jörg Steinbach nichts davon bei der Tesla-Ansiedlung von Elon Musk eingefordert hatte. Die Schuldenbremse wurde mehrfach attackiert, Scholz bei seinem Besuch aber nicht mit der Frage konfrontiert, warum die SPD und er persönlich in Hamburg mit großem Engagement genau dieser zum Verfassungsrang verholfen hatten. Dafür gab es für Scholz immerhin verhaltenen Beifall im Saal, als er ähnlich wie Wagenknecht behauptete, eine humane Asylpolitik müsse harte Abschiebungen einschließen.

Die neue Vorsitzende folgte der Tradition ihrer Vorgänger und positionierte die IG Metall entschieden gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus, womit sie bei den Delegierten offene Türen einrannte. Die IG Metall-Jugend trat mit einer beeindruckenden Aktion auf, bei der Said Etris Hashemi von der „Initiative 19. Februar Hanau“, der damals selbst schwer verwundet worden war und seinen Bruder und Freunde verloren hatte, an die rechtsextrem motivierten Hanauer Morde erinnerte und ein engagiertes Erinnern an diese und ähnliche Taten anmahnte. Allein ein nachdenkliches Wort der Vorsitzenden dazu, dass Rassismus und faschistisches Gedankengut nicht nur außerhalb der IG Metall zu finden sind, sondern z.B. in Hessen gerade ein Viertel der gewerkschaftlich organisierten Männer die AfD wählte, hätte ihrem Referat eine Tiefe gegeben, die es über eine reine Sonntagsrede hinausgehoben hätte. Ebenso Überlegungen dazu, warum die ohne Zweifel von der IG Metall betriebene Aufklärung über die Rechten bisher ganz offensichtlich nur begrenzte Erfolge aufweist.

Stattdessen zog sie das für Außenstehende kaum verständliche Thema der Betriebsratsvergütungen hoch. Betriebsräte sollen angemessen bezahlt werden, soweit so gut. Dazu, dass es aber die sechsstelligen Jahresgehälter und Bonuszahlungen einiger weniger Automobilbetriebsräte waren, die dafür sorgten, dass Veruntreuung und übermäßige Gehälter zu einem Fall für die Gerichte wurden, sagte sie nichts.

Es war auffallend, dass sie immer wieder betonte der neue Vorstand wolle als Team gemeinsam arbeiten. Allein, wie häufig dies betont wurde, offenbarte, wie wenig dies unter ihren Vorgängern Praxis gewesen war. Es bleibt abzuwarten was daraus wird. Nur dadurch, dass alle auf der gleichen oberen Etage ihre Büros beziehen sollen, wird kein Teamgeist entstehen.

Nachdenklich konnte stimmen, dass die Verabschiedung der drei auf Grund der Verkleinerung und dem von Baden-Württemberg durchgesetzten Aufrücken der Stuttgarter Bevollmächtigten Nadine Boguslawski in den Vorstand, ausscheidenden Geschäftsführenden, Ralph Kutzner, Wolfgang Lemb und Irene Schulz geradezu im Eiltempo abgewickelt wurde. Angeblich aus Zeitgründen war ihnen keine Gelegenheit gegeben worden, sich mit eigenen Beiträgen von den Delegierten zu verabschieden. Umso mehr Zeit war dann vorhanden, um Jörg Hofmann mit schier nicht enden wollenden Elogen in den Ruhestand zu schicken. Er durfte auch nochmals ans Rednerpult – es sind eben nicht alle gleich im Team IG Metall.

Im Rechenschaftsbericht von Jörg Hofmann wird die Widersprüchlichkeit in dieser Endphase der neoliberalen Globalisierung unter anderem so beschrieben:

„Nachdem die Förderung der E-Autos gesenkt wurde, bricht der Markt ein. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass die Konzerne (er meint deutsche Konzerne) endlich E-Autos unter 30.000 Euro auf den Markt bringen müssen. Seit der IAA wissen wir: Die Chinesen und andere Importeure drücken in diesen Markt. Wir müssen auch feststellen, dass die Konzerne der Zulieferindustrie weiter massiv in Best-Cost-Countries investieren und deutsche Standorte unter Druck kommen. Wir müssen feststellen, dass spätestens nach dem IRA (Inflation Reduction Act in den USA) massiv Investitionen in den NAFTA-Raum fließen.“

Als Antwort auf diese Veränderung kommen von Hofmann Forderungen nach „vergleichbaren Investitionsbedingungen“, nach Veränderung des europäischen „Beihilferechts“, nach Subventionen „wo blühende Industrieregionen drohen, zu Wüsten zu werden“ mit Hinweis auf einen ersten Erfolg mit dem Net-Zero-Industrial-Act der EU-Kommission. Hofmann: „Aber hier muss klar sein: Subventionen an Unternehmen darf es nur geben, wenn Verpflichtungen zu Standort, Beschäftigung und Tarifbindung abgegeben werden. Was wir mit unseren Kollegen in der Automobilbranche befürworten, sind local-content-Auflagen bei öffentlicher Förderung. Wenn wir weiter E-Mobilität fördern, dann aber bitte die Fahrzeuge, die in Europa produziert werden. Das gilt ebenso für Photovoltaik, Windenergie und andere Branchen. Keine öffentliche Förderung ohne Verpflichtung zur Wertschöpfung in unserem Land!“ Hofmann verkniff sich die Bemerkung, das sei der sozial-ökologische Wandel, den die Gewerkschaft fordere. Zwar hat Hofmann ausführlich über die Krise der Auto- und Zulieferindustrie gesprochen – zum großen Potenzial im Schienenfahrzeugbau und im Busbau für den öffentlichen Verkehr jedoch kein Wort. Zwei Anträge, die sich diesem Thema widmeten, wurden nicht diskutiert, sondern an den Vorstand überwiesen.

Auffällig an den Reden von Hofmann und Benner war, dass sie nichts gesagt haben zum unvorstellbaren Reichtum in unserem Land und nichts zu den durchschnittlich hohen Gewinnen der Unternehmen. Keine Rede wert, dass das private Geldvermögen auf mehr als 7 Billionen Euro gestiegen und höchst ungleich verteilt ist? Keine Rede wert, dass die Reichen reicher und die Armen mehr und ärmer werden? Keine Rede wert, dass die Unternehmen in der Auto-, Metall- und Elektroindustrie Milliarden Profite an die großen Anteilseigner abgeführt haben, kein Wort vom Vorsitzenden der Gewerkschaften zur durchaus möglichen Abschöpfung von Gewinnen, kein Wort zu Vermögensabgabe, Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung, kein Wort zu den Subventionen für die fossile Industrie, keine Kritik, wie noch wenige Wochen zuvor beim verdi-Kongress (siehe express 10/23), an der Position der DGB-Vorsitzenden Fahimi, dass auch staatlich gestützte Unternehmen keine Grenzen bei der Dividendenzahlung gesetzt werden dürften. Indem beide dazu nicht gesprochen haben, haben sie die Gelegenheit ausgespart, über die mögliche Finanzierung der Transformation zu sprechen. Die IG Metall-Spitze weiß es besser, oder könnte es bei Urban nachlesen: Wenn die Reichen nicht zur Kasse gebeten werden, werden die Beschäftigten und der Staat über Subventionen die Transformation bezahlen. Ob die deutsche Autoindustrie ohne Willen zu wirklicher Konversion ihren Platz wird halten können, ist dennoch nicht garantiert.

Ungenutzt bleibt die Chance, sich für faire Handels- und Wirtschaftsbeziehungen stark zu machen, ungenutzt die Chance, mit Klima- und Umweltbewegung, mit faire-trade-Initiativen und den Schwester- und Brudergewerkschaften in aller Welt sich der neuen Blockbildung entgegenzustellen. Der Streik der Automobilarbeiter in den USA wäre eine Gelegenheit gewesen, die Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Aber auch dieser Arbeitskampf blieb unerwähnt.

Dekarbonisierung, Transformation der Autoindustrie und Sicherung der Beschäftigung sind große gewerkschaftliche Herausforderungen. Der Anteil des Autos an den Treibhausgasemissionen ist zu hoch und in den vergangenen Jahrzehnten nicht gesunken. Die Strategie der Autokonzerne, mit großen und schweren Autos hohe Renditen zu erzielen, hat in die schwere Krise geführt. So ist die Autoproduktion in Deutschland stark gesunken (von 5,7 Millionen Stück in 2017 auf 3,5 Millionen in 2022), ohne dass alternative Produktion und Beschäftigung aufgebaut worden wären. Die Folgen waren jahrelange Kurzarbeit, Personalabbau und Betriebsschließungen bei Volkswagen, Mercedes, Audi, Opel, Ford, Continental, Bosch und vielen kleinen Betrieben, die die Belegschaften verunsichern. Seit 2018 wurden in der Automobil- und Zulieferindustrie 60 000 Arbeitsplätze abgebaut. Die IG Metall will deshalb umfassende Investitionen in neue Technologien und Infrastrukturen durchsetzen. Aber nicht ohne »einen langfristigen, verlässlichen und konsistenten Planungsrahmen zur Sicherung von Beschäftigung in der Transformation«, wie die Delegierten auf dem Gewerkschaftstag beschlossen. Aus Sicht der Beschäftigten entscheidet sich in den Regionen, ob der Wandel gelingt oder zu Arbeitsplatz- und Wohlstandsverlusten führen wird. Das wirft auch in der Gewerkschaft grundsätzliche Fragen auf. »Ohne neuen Wohlstandsbegriff, ohne gesamtgesellschaftlichen Plan für die Verkehrswende wird das nicht funktionieren, sondern Stückwerk bleiben«, kritisiert zum Beispiel der Delegierte Marc Treude aus Aachen, selbst Betriebsratsvorsitzender bei einem E-Auto-Hersteller. »Die notwendige Transformation muss gegen das Kapital durchgesetzt werden.« Die weitreichendere Forderung nach einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel wurde »als Material an den Vorstand« weitergeleitet – anders als in einer vergleichbaren Krise vor 40 Jahren. Da wurde auf dem Gewerkschaftstag ein Beschluss zur Vergesellschaftung der Stahlindustrie gefasst. Damals arbeiteten 230 000 Menschen in der Branche. Seither hat sich die Industrie stark verändert: 150 000 Beschäftigte weniger, Diversifikation, Fusionen und Konzentration in Unternehmen mit teilweise öffentlicher Beteiligung. Über den Wohlstandbegriff wurde nicht weiter diskutiert, ein entsprechender Antrag an den Vorstand überwiesen.

Beschlossen wurde u.a. folgender Antrag: „Der Gewerkschaftstag spricht sich für eine aktive Interessenpolitik aus, die über die Kernfelder der Betriebs- und Tarifpolitik hinausreichen muss. Wir wollen im Interessen unserer Mitglieder die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen mitgestalten. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen wir unsere Mobilisierungsfähigkeit ausbauen, uns deutlich vernehmbar in die gesellschaftlichen und politischen Debatten einmischen und Bündnispartner in sozialen Bewegungen und Initiativen gewinnen.“ Es gab weniger Debatte über das Thema Krieg und Waffenlieferungen als noch beim Kongress von Verdi. Die gegensätzlichen Positionierungen wurden im Vorfeld so moderiert, dass ein Leitantrag vorgelegt wurde, der es allen erlaubt, sich wieder zu finden. Die Debattenbeiträge zeigten aber, dass es starke Stimmen gegen Waffenlieferungen gibt, andere fragen, wie sich ein angegriffenes Land denn anders als mit Waffen verteidigen soll. Schließlich wurde in einem Initiativantrag zu einem Waffenstillstand im Krieg zwischen Israel und der Hamas aufgerufen.

Das Modell einer Aktienrente, in Baden-Württemberg entwickelt und Sozialpartnermodell genannt, war der umstrittenste Punkt auf dem Gewerkschaftstag – in der Debatte kam viel Gegenwind u.a. von Delegierten aus den Bezirken NRW, Mitte und Bayern. Der Delegierte Mark Seeger aus Braunschweig sagte: „Wenn ich den Glauben hätte, dass ich mein Geld irgendwo gewinne, dann spiele ich Roulette. Aber das mache ich nicht. Warum? Weil wir als IG Metall Verantwortung für die Kolleg*innen haben. Diese Verantwortung bedeutet: Ich kann das Geld nicht verzocken, ich darf ein Sozialpartnermodell, wo es keine Garantien gibt, nicht machen. Deswegen müssen wir heute diese Tür zuschlagen.“ Schließlich stimmten 252 von 411 Delegierten gegen die Aktienrente – für die Stärkung der gesetzlichen Rente, für eine solidarische Rentenversicherung in die alle Erwerbstätigen einzahlen und für die tarifierte arbeitgeberfinanzierten Betriebsrente.

Jürgen Kerner wies in seiner Vorstellungsrede nicht nur auf die Vertretung der Beschäftigten in der Rüstungsindustrie hin, sondern ging weit darüber hinaus: „Ich bin der festen Ansicht, dass wir diese Branche in Deutschland und Europa halten müssen.“ „Ein gutes Leben in Demokratie, in Solidarität und im Einklang mit der Natur“ will Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. Christiane Benner und ihr Vorstandsteam müssen in den nächsten vier Jahren beweisen, ob und wie sie die Gewerkschaft trotz dieser Widersprüche bündnisfähig machen und nach vorne bringen.

Wenn die Gewerkschaft in der Zeit der Neuordnung der kapitalistischen Weltwirtschaft, in geopolitisch und geoökonomisch unsicheren Zeiten soziale Rechte verteidigen, Mitbestimmung und Demokratie erweitern will, sollte sie ihre Politik autonom an den umfassenden und differenzierten Interessen und Widersprüchen der globalen Arbeiter*innenklasse entwickeln. Dazu gehört die Autonomie, Kritik an der Regierung zu üben, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, wenn diese die Reichen schont, die Klimaziele nicht ernst nimmt und in den Chor rechter Fremdenfeindlichkeit einstimmt.

Der Gewerkschaftstag

Der Gewerkschaftstag ist analog zum Bundeskongress bei ver.di das höchste Gremium der IG Metall. Anders als bei ver.di können bei der IG Metall auch Angestellte der Gewerkschaft Delegierte sein. Dies traf in Frankfurt auf 54 Delegierte zu, 367 Delegierte waren nicht bei der Gewerkschaft beschäftigt. Die Delegierten werden in den jeweiligen örtlichen Geschäftsstellen gewählt. Angesichts der Tatsache, dass für rund 5.000 Mitglieder ein/e Delegierte/r kommt, ist die Hürde auf den Kongress zu gelangen, relativ hoch. Auch wenn dazu keine Angaben vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass ein Großteil von ihnen Betriebsratsmitglieder, nicht selten Betriebsratsvorsitzende sind.

Das „normale“ Mitglied erfährt vom Gewerkschaftstag über die Mitgliederzeitung, das Interesse beschränkt sich zumeist darauf, zu erfahren, wer zukünftig die Gewerkschaft leitet. Wichtig ist der Gewerkschaftstag aber nach innen für den mittleren ehren- und hauptamtlichen Funktionärskörper. Die in der gewerkschaftlichen Tagesarbeit engagierten Ehrenamtliche (Vertrauensleute und Betriebsratsmitglieder), aber auch die in der Vorstandsverwaltung, den regionalen Bezirken und Ortsverwaltungen Beschäftigten der IG Metall interessiert nicht nur, wer mit welchem Ergebnis gewählt wird, sondern auch, wie sich die Gewerkschaft öffentlich und nach innen positioniert. Entsprechend sind auf dem Gewerkschaftstag neben den Delegierten auch ungefähr noch einmal so viele Hauptamtliche anwesend, die als nicht stimmberechtige Gäste den Verlauf verfolgen.

Die IG Metall hatte es nach langer Diskussion erst 1999 geschafft, ihre Satzung so zu ändern, dass Frauen mindestens gemäß ihrem Anteil in der Mitgliedschaft in den Organen der Gewerkschaft vertreten sein mussten. Auf dem Gewerkschaftstag 1995 war ein erster Anlauf noch knapp gescheitert. 2023 hätten mindestens 77 Frauen als Delegierte gewählt werden müssen, tatsächlich waren es mit 142 fast doppelt so viele. Und der Jubel, mit dem die Delegierten die Wahl von Christiane Benner begrüßten, zeigte, dass auch in der nach wie vor von Männern dominierten Organisation sich die Zeiten geändert haben.

Mit 47 Jahren lag das Durchschnittsalter der Delegierten gut fünf Jahre unter dem des ver.di-Bundeskongresses (52,5 Jahre). Zwei Drittel der Delegierten, so war zu erfahren, nahmen zum ersten Mal an einem Gewerkschaftstag teil.

Die IG Metall

Die IG Metall ist mit aktuell 2,1 Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft Deutschlands (und Europas). Rund 21 Prozent der Mitglieder sind im Ruhestand, knapp 6 Prozent erwerbslos. Rund 18,3 Prozent der Mitglieder sind weiblich. Knapp 9 Prozent haben keinen deutschen Pass.

Im Gegensatz zu ver.di ist die IG Metall eine branchenmäßig relativ homogene Gewerkschaft. Gut 80 Prozent aller Mitglieder kommen aus der Metall- und Elektroindustrie, im Stahl arbeiten nur noch vier Prozent, weitere vier Prozent im Metall-Handwerk. Die Anteile der Textil- sowie Holz- und Kunststoffindustrie sind noch geringer.

Veröffentlicht in https://express-afp.info/express-11-2023-erschienen

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