2023 minus 85 gleich 1938 – Wolfsburg feiert Geburtstag.

Die Stadt Wolfsburg feiert ganz unbeschwert und geschichtsvergessen ihren Tag der Gründung im Jahr 1938. „Jung, dynamisch, gutaussehend – Wolfsburg wird knackige 85 und feiert ein Festwochenende für alle Wolfsburger*innen sowie Gäste von Nah und Fern. Mit Live-Konzerten, Aftershow-Partys, einer Info-Meile, einer Ehrenamtsbörse, der Volkswagen Classic Tour und einem Bürgerfrühstück ist sicher für jeden etwas dabei!“

Tatsächlich wurde 1938 die „Stadt des KdF-Wagen“ als NS-Musterstadt gegründet – eine Stadt bei Fallersleben, wo vorher nur ein Sumpf war. Der Name „Wolfsburg“, vielleicht in Anlehnung an Hitlers Tarnnamen und die Wolfsschanze, wurde erst kurz nach der Befreiung vom Faschismus durch die Stadtverwaltung beschlossen.

Was war sonst noch im Jahr 1938?

Synagogen brennen, jüdische Geschäfte werden geplündert und brutale Übergriffe finden auf offener Straße statt. Das Jahr 1938 zeigt exemplarisch, welche verheerenden Folgen Diffamierung, Ausgrenzung und Entrechtung von Menschen haben.

1938: Das faschistische Deutschland verleibt sich Österreich ein. Das Münchener Abkommen wird geschlossen, das „Sudetenland“ besetzt und die Tschechoslowakei zerschlagen.

1938: Adolf Hitler legt bei einer Propagandaveranstaltung und im Beisein des späteren Wehrwirtschaftsführers, SS-Oberführers, Vorsitzendem der Panzerkommission und Kriegsverbrechers Ferdinand Porsche und des fanatischen Nazi Anton Piëch den Grundstein für das „Volkswagenwerk“. Vorher war Porsche mehrfach in die USA gereist, hatte in den Fabriken von Ford spioniert, Ingenieure von dort abgeworben und so das Fabriklayout, die Arbeitsorganisation und die Fließbänder vom River-Rouge-Komplex von Ford in Detroit kopiert.

Es begann die Rekrutierung von Arbeitskräften, es entstand eine erste Wohnsiedlung für die Nazi-Führung des Betriebes, Lager für 3.000 italienische „Fremdarbeiter“, für zehntausende Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, die als Arbeitssklaven zum Bau des Werkes und zur Produktion dort gezwungen wurden. Vernichtung durch Arbeit. Tatsächlich war das Werk ein Propaganda- und Rüstungsprojekt der Nazis. Es wurden Fahrzeuge für Wehrmacht und SS gebaut sowie Minen, Flugzeugteile und manches andere für die Kriegsführung der Nazis. „Das Jahr 1944 soll uns in der Arbeit immer enger zusammenschließen, auf daß der Sieg unser sei. Es lebe der Führer“ – so Ferdinand Porsche in der Werkszeitschrift der Volkswagenwerk GmbH im Dezember 1943.

Zeichnung: Mechthild Hartung

Nach 1945 entwickelte sich das Unternehmen vom NS-Musterbetrieb zum sozialpartnerschaftlichen Vorzeigebetrieb – wobei die „Sozialpartnerschaft“ in der NS-“Betriebsgemeinschaft“ schon angelegt war. In der ersten Werksordnung vom 10 Mai 1947 heißt es u.a.: „Vergehen gegen den Arbeitsfrieden und Disziplinlosigkeit gegenüber dem Leistungswillen der Betriebsgemeinschaft werden energisch bekämpft. Gegen Diebstähle, Arbeitsbummelei, Denunzianten und Betriebsschwätzer werden außerdem alle verantwortungsbewußten Stammarbeiter des Werkes aufgerufen.“ Eine Entnazifizierung innerhalb des Werkes misslang mehrmals. Heinrich Nordhoff, der von den US-Alliierten noch mit Berufsverbote belegte ehemalige „Wehrwirtschaftsführer“, wurde Generaldirektor des von den Briten der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Bundesregierung „zu treuen Händen“ übergebenen Werkes.

Heute werden die Autobahn, Porsche und der KdF-Wagen als die vermeintlich „guten Seiten“ des Naziregimes in Wolfsburg wieder unkritisch verschwiegen. Häufig wurden in den letzten Jahrzehnten Anträge von Grünen oder Linken zur Umbenennung der Porsche-Straße, der Porsche-Schule oder des Porsche-Stadions im Stadtrat durch CDU und SPD abgelehnt. Am Rathaus steht nach wie vor eine Büste des Kriegsverbrechers Ferdinand Porsche. „Wir feiern Geburtstag. Nach langer Zeit der Entbehrungen durch die Corona-Pandemie hat sich Wolfsburg ein gemeinsames Fest einfach verdient. Mit einem Festwochenende am Nordkopf stärken wir zudem die Innenstadt mit einem tollen Event. Wolfsburg und die Region können sich auf einen tollen Geburtstag freuen“, hebt CDU-Oberbürgermeister Weilmann hervor.

Von 1970 bis 1973 wurden etwa 2.600 Tunesier bei VW in Wolfsburg eingestellt – die größte Gruppe ehemaliger „Gastarbeiter“ nach den Italienern. Längst sind sie Teil der Stadtgesellschaft geworden. Der 85. Geburtstag jedoch wird mit einem christlichen Gottesdienst eröffnet und klingt aus in einem Volksfest auf der Porsche-Straße. Von der Vergangenheit der Stadt, vom Leid der Zwangsarbeit und den Verbrechen der Werkleitung ist heute in Wolfsburg zum 85. Geburtstag nichts zu hören.

Näheres zur Geschichte von Werk und Stadt im von mir herausgegeben Buch: Volksburg – Wolfswagen, 75 Jahre „Stadt des Kdf-Wagen“ / Wolfsburg, Ossietzky-Verlag, 2013 https://www.ossietzky.net/laden/75-jahre-stadt-des-kdf-wagen-wolfsburg-stephan-krull-hg/

2 Gedanken zu „2023 minus 85 gleich 1938 – Wolfsburg feiert Geburtstag.“

  1. Und 1972 sortiert der 1. Bevollmächtigte der IG-Metall und Faschist Bernhard Tyrakowsk Gewerkschaftsmitglieder aus und sein Spezi Horst Giersch fabriziert schwarze Listen. Für seine Verdienste ist Tyrakowsky Ehrenbürger der Stadt Gifhorn. Wieviel Seife braucht die Menschenrechtsbeauftragte Frau Hiltrud bei VW?

    1. Tyrakowsky war NSDAP-Mitglied seit dem 1. Mai 1937, das ist korrekt (Mitgliedsnummer 4632522). Das wird in dem genannten Buch auch beschrieben (Seite 25/26). Hugo Bork war ebenfalls NSDAP-Mitglied. Fast 20 Jahre lang bis Anfang der 1970er Jahre prägten die beiden die Betriebsratsarbeit bei VW und Gewerkschaftsarbeit in Wolfsburg. Die IG Metall selber hat diese Erkenntnisse öffentlich gemacht und aufgearbeitet.
      https://www.axel-troost.de/de/article/7001.buchtipp-75-jahre-stadt-des-kdf-wagen.html

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert