Humanisierung oder Rationalisierung? Das doppeltes Lottchen.
Besprechung einer Promotionsschrift zur Umsetzung des Projektes „Humanisierung der Arbeit“ mit der gescheiterten Einführung von Gruppenarbeit bei Volkswagen.
Gina Fuhrich hat in ihrer Promotionsschrift eine wichtige Etappe in der Entwicklung von Arbeitsorganisation bei Volkswagen einer sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Beschreibung und Analyse unterzogen. Es ist eine Premiere für mich, der ich selbst bei der Aushandlung und Einführung neuer Formen der Arbeitsorganisation als Betriebsrat im Volkswagen-Werk Wolfsburg beteiligt war, nunmehr die Beobachter:innen bzw. eine umfangreiche Arbeit über die Ergebnisse der Beobachtung der frühen diesbezüglichen Prozesse zu lesen und kritisch zu würdigen. Aber es ist eine Gelegenheit, etwas vom Beobachtungsobjekt zurückzugeben: Humanisierung oder Rationalisierung – Arbeiter als Akteure im Bundesprogramm „Humanisierung des Arbeitslebens“ bei der VW AG; Gina Fuhrich; Franz Steiner Verlag Stuttgart; 2020
Gina Fuhrich beschreibt die Prozesse der Aushandlung und Implementierung neuer Formen der Arbeitsorganisation im Zuge von technischer Rationalisierung bei Volkswagen in den Werken Salzgitter, Wolfsburg und Hannover aus einer umfangreichen Recherche heraus. Daraus ergibt sich eine Distanz, die für Historiker:innen normal ist, für Zeitzeugen selbstredend nicht. Schwerpunkt der damaligen Begleitforschung und der vorliegenden Untersuchung dieser Begleitforschung ist die arbeitsorganisatorische Rationalisierung, weil neue Technik und neue Prozesse mehr und andere Qualifikation und Eigeninitiative der Produzenten bedürfen, als das vorher bei den überwiegend repetitiven Tätigkeiten der Fall war. Die Autorin untersucht die Frage, ob Humanisierung und Rationalisierung sich ergänzen oder grundsätzlich widersprechen.
Das HdA-Regierungsprogramm
Das Regierungsprogramm „Humanisierung des Arbeitslebens“ wird in seiner ersten Etappe der 1970er Jahre betrachtet – orientiert an Förderprojekten, die von Volkswagen, der IG Metall und dem Betriebsrat gemeinsam getragen wurden. Dieses Regierungsprogramm wurde wesentlich durch den damaligen Bundesminister für Forschung und Technologie, Hans Matthöfer, initiiert. Der Sozialdemokrat Matthöfer kam aus der IG Metall, war unter anderem Leiter der Bildungsabteilung beim Vorstand der Gewerkschaft. Die Reflektion der Begleitforschung ist in drei Hauptkapitel gegliedert: Die Arbeiter als Akteure (1), als Kooperationspartner (2) und, wie die Autorin es nennt, als Konfliktpartner (3).
Die beschriebenen Prozesse vollzogen sich in den 1970er Umbruchjahren. Ursächlich waren massive Krisenerscheinungen nach der Wiederaufbauphase, den sogenannten Jahren des „Wirtschaftswunders“. Regierung, Industrie und Gewerkschaften sahen sich im Schatten der Systemauseinandersetzung gezwungen, die sozialen Auseinandersetzungen zu befrieden und die technischen und arbeitsorganisatorischen Voraussetzungen für einen Modernisierungsschub von Industrie und Gesellschaft zu nutzen. Gut nachvollziehbar beschreibt die Autorin die ökonomischen Krisen, ebenso die Systemkonkurrenz zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft, zwischen DDR und BRD. Die „Arbeiter als Akteure“ im Betrieb werden differenziert beschrieben: als Innovationsgestalter und Innovationsverweigerer, als Kooperationspartner anderer betrieblicher Akteure und der externen Begleitforschung ebenso wie als Konfliktpartei in betrieblichen Auseinandersetzungen. Als seltsam distanziert erscheint die Beschreibung von „Elementen des Klassendenkens“ (S. 336), weist die Autorin doch andererseits darauf hin, dass es fundamentale Interessengegensätze im Betrieb gibt: Das Interesse an Rationalisierung und Einsparung von Arbeitskraft auf Unternehmensseite und das Interesse an guter und sicherer Arbeit auf der Seite der „Werker“: Der Eigensinn stößt sich an den Rahmenbedingungen1. Das korrespondiert mit dem Fazit, in dem es u.a heißt: „Insbesondere die direkte und erweiterte Mitbestimmung von Arbeitern im Betrieb gelang nicht. … die betrieblichen Machtstrukturen konnten durch das Programm nicht aufgebrochen oder abgebaut werden. Ebenso ließen die strikte betriebliche Hierarchisierung und die Beharrungskraft eines bestimmten Arbeiterbildes der Vorgesetzten die Entfaltung des Kreativpotenzials und der Selbstverantwortung von Arbeitern nur begrenzt zu.2“ Gut nachvollziehbar arbeitet die Autorin im Kapitel 3 (Arbeiter als Kooperationspartner) den Aspekt der Integration der Arbeiter in das Unternehmen mit dem Ziel der Vermeidung des Klassenkampfes heraus, belegt mit einer kurzen Historie der Sozialpartnerschaft. Seltsam mutet in diesem Zusammenhang die Formulierung, der Betrieb sei somit „mitnichten ein privater, sondern ein eminent politischer Raum“3 – als seien die unterschiedlichen Interessen von Beschäftigten, Managern und Eigentümern außerhalb der Fabrik eine rein private, persönliche Angelegenheit und eben nicht konstitutiv für die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
Solidarität muss gelernt werden
In Fortschreibung dessen wird das „Vertrauensverhältnis“ zwischen den Hierarchieebenen überbetont und sogar bis zur „Schicksalsgemeinschaft“ überhöht.4 Die weitere Entwicklung mit der Androhung von Werksschließungen und Massenentlassungen gebietet einen anderen Blick auf das Verhältnis von Management und Beschäftigten. Richtig und zugleich verstörend ist die Beschreibung der Fragilität von Solidarität und der Verinnerlichung des Konkurrenzgedankens zwischen den Arbeitern selbst und zwischen den Arbeitern unterschiedlicher Standorte oder Hersteller.5
Nicht wirklich ableitbar erscheint angesichts der immer wieder folgenden Krisen der Autoindustrie die These im Fazit, dass es Volkswagen mit diesem Projekt und mit der Integration der Arbeiter gelungen sei „die Anpassungskrise erfolgreich zu überwinden und damit einhergehend den Strukturwandel in den 1970er Jahren zu bewältigen.“6 Volkswagen hat all diese Krisen bisher „bewältigt“ durch die Verschärfung der Konkurrenz bis hin zur Monopolbildung. Nur mit der Stärke der Gewerkschaft und des Betriebsrates, mit den Besonderheiten des VW-Gesetzes aus der Historie des Unternehmens heraus, mit einer aggressiven Exportpolitik und befristeten kreativen Lösungen wie der Vier-Tage-Woche ist zu erklären, dass es nicht zu Standortschließungen und Massenentlassungen kam.
Abschließend macht die Autorin auf einen weitgehend blinden Fleck in der Aufarbeitung der Geschichte aufmerksam: Die Rolle von Betriebsrat und Gewerkschaft in diesem Prozess war uneindeutig7 – einerseits drohte Machtverlust durch ein höheres Maß an Autonomie für die Arbeiter, andererseits gab es diese Tendenz zur Entsolidarisierung und zur Verinnerlichung der Konkurrenz. Das etwas später aufgesetzte Programm „Arbeit und Technik – der Mensch muss bleiben“ hat viele Mängel des HdA-Projektes überwunden gehabt und es gibt vorzeigbare Ergebnisse der Bemühungen von Gewerkschaft und Betriebsräten.8 Wenn die Beschäftigten das Recht mitzureden bekommen oder sich erstritten haben, muss den Tendenzen der Entsolidarisierung durch systematische gewerkschaftliche Bildung entgegengewirkt werden.
Das Machtgefälle bleibt
Kaum sichtbar zwischen den Zeilen werden die ungleichen Bedingungen zwischen Unternehmensvertretern einerseits und Beschäftigten bzw. Betriebsrat und IG Metall andererseits. Moritz Müller zitiert aus einem Brief des zuständigen Vorstandsmitgliedes der IG Metall, Karl-Heinz Janzen, dass es „ein unmöglicher Zustand sei“, dass den Betriebsräten oft ganze Stabsabteilungen der Unternehmen gegenüberstanden und die Beschäftigten und ihre Interessenvertreter ständig mit lechzender Zunge hinter den Initiativen des Unternehmens her laufen und diesen weitgehend machtlos ausgeliefert sind.9“
Ein großes Verdienst der Autorin ist es, diverse Quellen wieder erschlossen zu haben und der Öffentlichkeit diese breite Quellenbasis zur Verfügung zu stellen. Dazu wurden Protokolle, Berichte und Tonbandaufzeichnungen von Gruppengesprächen vor allem beim Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen, beim Institut für Sozialforschung in Frankfurt und im Unternehmensarchiv gründlich ausgewertet.
Zum Schluss bleibt zu beantworten, ob beim HdA-Projekt Humanisierung oder Rationalisierung überwiegen bzw. wie die Ergebnisse von der Autorin bewertet werden. Vielleicht ist die Fragestellung nicht wirklich zielführend: Rationalisierung kann Humanisierung bedeuten, zum Beispiel durch die Ersetzung körperlich schwerer Arbeit in schlecht belüfteten Räumen durch Roboter. Wenn die Person, die von schwerer körperlicher Arbeit befreit wurde, nun die Anlage mit dem Roboter führt und technisch betreut, also erstens einen Arbeitsplatz behält, zweitens Gelegenheit zur Qualifikation bekommt und drittens besser entlohnt wird, dann erfüllt Rationalisierung ihren ursprünglichen Sinn, nämlich das Leben für die Menschen leichter zu machen und mehr Zeit zur Verfügung zu haben, um eigenen Bedürfnissen nachzugehen. Während die Beschäftigten um ihren Humanisierungsanteil an der Rationalisierung, wie höhere Qualifikation, bessere Entlohnung, kürzere Arbeitszeiten kämpfen müssen, stellt sich der Gewinn für das Unternehmen fast alleine ein: Die Produktivität erhöht sich, Krankentage werden reduziert, die Kosten sinken und der Gewinn steigt.
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8 Bericht über die Untersuchungen der Arbeitsbelastungen in der Lackiererei der Volkswagen AG Werk Wolfsburg; Wolfsburg, Dezember 1988; der Bericht über das Planungsseminar „Neue Lackiererei Wolfsburg vom 16.01. – 20.011989 in Hustedt/Celle, März 1989; Herausgeber jeweils Betriebsrat VW AG Wolfsburg; beides als wesentliche Ergebnisse des gemeinsamen Projektes „Lack 2000“ von Betriebsrat und IG Metall zur Gestaltung der neuen Lackiererei im Werk Wolfsburg.
9 Moritz Müller,’Hilfe zur Selbsthilfe‘: die Entstehung und das (vorläufige) Scheitern eines Gestaltungsansatzes der IG Metall in den 1970er und 1980er Jahren; erschienen in: Transformation als soziale Praxis; Berlin; Metropol, [2020]