„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert“ – mit dieser Lebensweisheit von Albert Schweitzer eröffnete Wolfgang Müller-Pietralla seinen Vortag bei der Jahrestagung der niedersächsischen Allianz für Nachhaltigkeit (28.8.2019 in Hannover.)
Wer ist Müller-Pietralla und was ist die Allianz für Nachhaltigkeit?
Müller-Pietralla ist „Leiter Zukunftsforschung und Trendtransfer“ bei der Volkswagen AG – ein hohes Tier und ein wichtiger Mann mit – nach Selbstauskunft – direktem Zugang zum Vorstand des Konzerns. War viel zu erwarten von seinem Vortrag mit dem Titel „Perspektive Individualverkehr“?
Die Allianz für Nachhaltigkeit ist eine von der Landesregierung unterstützte und weitgehend finanzierte Kooperation zwischen Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und Kammern (IHK und Handwerkskammer). Wie üblich sind Gewerkschaften krass unterrepräsentiert und Umwelt- und Verkehrsverbände fehlen gleich ganz in dieser „Allianz“. Nach eigener Definition gibt es drei Säulen, die fein säuberlich getrennt von den Partnern der Allianz vertreten werden: Für Ökologie ist die Klimaschutzagentur zuständig, für Ökonomie die Arbeitgeberverbände und für Soziales der DGB.
Nun zu dem, was Müller-Pietralla als Perspektive Individualverkehr angeboten hat: enttäuschend oder erwartungsgemäß wenig bis nichts. Ein Teilnehmer fasste den Vortrag, bezogen auf eine andere Sucht, so zusammen: „Raucht ruhig weiter, wir entwickeln eine gute Therapie zur Krebsbekämpfung.“
Der leitende Zukunftsforscher des größten Autoherstellers der Welt ever überraschte mit solch umwerfenden Erkenntnissen: „Das Auto wird bleiben, weil wir uns von A nach B bewegen müssen.“ Dann zeigte er, Stichwort „Infrastruktur anpassen“, schöne Bilder einer autofreien Straße in Kopenhagen und erzählte vom „Zukunftsraum Wolfsburg“ und anderen Städten, die der Autokonzern mitgestalten wolle; Voraussetzung ist aber „ein Volumen“ und „Skalierbarkeit, damit in der Welt sich was verändert.“ Also Stadt- und Raumplanung durch Volkswagen als neues Geschäftsmodell, um individuelle Mobilität in der Zukunft fortschreiben zu können? Bei all dem geht es auch um Konkurrenz – nämlich zu Google, Amazon & Co., die ihre neuen Geschäftsmodelle (mit den Daten der Kundinnen und Kunden) mit Hardware verbinden müssen. Nachhaltigkeit ist dabei kein Trend, sondern ein kategorischer Imperativ, der mit oder gegen die Sehnsüchte und Emotionen der Menschen durchsetzt werden müsste.
Der ganze Vortrag von Müller-Pietralla zeugte von einem völlig abstrusen, weltfremden Bild dieser Gesellschaft. In der von ihm skizzierten Zukunft, die schon begonnen hat, können sich alle alles leisten – jede Menge Konsum und vor allem nachhaltigen Luxus; die Generationen der Babyboomer sowieso, aber auch die Milleniens, die GenerationX, Y und – aufgemerkt, nach Z geht es weiter – die jüngste Generation α (Alpha). Das erinnert mich an den Trick des Werkleiteiters bei Volkswagen, der die 54. Woche im Jahr in das neue Jahr hineinragend erfand, um den Jahresplan doch noch zu erfüllen.
Na ja, dann kommen die üblichen Begriffe von Verkäufern wie „langlebiges Produkt durch sharing“, die Verbesserung der Kommunikation mit den „Consumers“ und der übliche Werbeblock: Für den vollelektrischen Volkswagen ID3 gibt es schon tausende Vorbestellungen, obwohl das Fahrzeug noch niemand gesehen hat und es noch längst nicht auf dem Markt ist.
Wird alles besser – so stellt der Zukunftsforscher sich rhetorisch bewandert selbst die Frage, um zu der umwerfenden Antwort zu kommen: „Nicht gleich und nicht sofort.“ Aber es wird schon, wenn wir uns nur genügend „flexibel, experimentell und volatil“ verhalten und entwickeln.
Der bei Volkswagen für Trendtransfer zuständige Manager entwickelt noch die Vision von mehrstöckiger urbaner Mobilität („ob Indien das schafft, bezweifle ich“) und philosophiert über das „Steuern in einer nicht mehr steuerbaren Welt“ und „planetarisches Bewusstsein“: Allmachtsphantasien, die man getrost ignorieren könnte, wäre der Mann nicht ein hohes Tier in einem mächtigen Konzern.
Gelegentlich blitzen die eigentlichen Profitinteressen eines großen Automobilherstellers und die Verzweiflung eines Zukunftsforschers auf, wenn, statt von „autonomen Autos“ von autonomen Arztpraxen, autonomen Apotheken die Rede ist und Kohlenstoff in Form von CO2 als Rohstoff bezeichnet wird, aus der Erde kommend und wieder in der Erde zu verpressen, nachdem er mit einem Staubsauger eingesammelt wurde; der Terminus technicus für solches Verhalten: Ecolonomy!
Die Perspektive Individualverkehr: Elektrisches Fahren soll und wird auch in Zukunft Spaß machen, so der Zukunftsforscher im Auftrage seiner Herren. Ob die „neuen Geschäftsmodelle“ wie MOIA erfolgreich sein werden? Es käme darauf an, irgendwann damit auch Geld zu verdienen – dass das erst der Fall sein wird, wenn der ÖPNV zerstört ist, verheimlichte der Trendcoach. Offener war da bei der Frage, warum Volkswagen so viele spritfressende, raumnehmende und ökologisch unvertretbare SUV‘s bauen und verkaufen würde: Das große Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit bei den Menschen können nur durch einen SUV befriedigt werden.
Die Schlichtheit dieser „Argumente“ eines hochrangigen Managers von Volkswagen unterbietet tatsächlich die geringen Erwartungen, die ich an diesen Vortrag hatte. Von diesem Management ist nichts Gutes zu erwarten. Es ist ein Graus, so einen Spinner in Verantwortung zu wissen. In 30 Minuten 60 Power-Point-Folien – mensch kann sich vorstellen, wie der Erkenntnisgewinn für das Auditorium ist.
Der niedersächsische Umweltminister Olaf Lies spielte auch eine Rolle – er durfte die Eröffnungsrede halten. Die Politik hätte den Rahmen zu setzen für nachhaltige Politik – viel genauer wurde er nicht angesichts der „Bedeutung der Autoindustrie für das Land und die Beschäftigung.“ Um so bedauerlicher, weil er weiß und konstatierte, das im Straßenverkehrsbereich bisher nur zusätzliche Belastungen für das Klima produziert werden. Jedenfalls wollen er und die Landesregierung – in bester neoliberaler Manier – „keine Restriktionen“ für die Menschen und die Autoindustrie, sondern letztere in ihren Bemühungen unterstützen. Von Mobilitätszwängen hat er noch nicht viel gehört – jedenfalls geht es ihm nicht um „weniger Mobilität, sondern um Veränderungen.“ Dazu gehören auch die neuen, gegen den ÖPNV gerichteten Geschäftsmodelle der Autoindustrie, die, wie MOIA, „eine Lücke füllen“ – welche Lücke das sein sollte, lies Lies offen.
Er erzählte noch was von „grünem Gas“ und von 100 Elektro-Sharing-Autos, die 200 Verbrenner im privaten Besitz überflüssig machen würden – und am Ende würde es nur Gewinner geben. Ein Sozialdemokrat halt.
Einziger Lichtblick der Veranstaltung, sicher nicht zufällig, Elke van Zadel vom Vorstand der ÜSTRA, dem hannoverschen Verkehrsbetrieb und der im öffentlichen Eigentum befindlichen Regiobus GmbH. Sie sprach über die Verbindung von Stadt und Land, über vernetzte und serviceorientierte öffentliche Mobilitätsangebote, auch Bus-on-demnad-Verkehre in dünn besiedelten Regionen und Schwachlastzeit sind in Planung – sogenannte „angebotsorientierte nicht vertaktete Verkehre.“ Der ÖPNV wird in die Lage versetzt, eine komplette Mobilitätskette leicht, unkompliziert und bequem anzubieten – eine echte Alternative für den motorisierten Individualverkehr und ein wichtiger und richtiger Schritt in Richtung nachhaltige Mobilität und Mobilitätswende.
Aber Albert Schweitzer hat recht: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert“