100 Jahre Betriebsräte – der Frieden ist brüchig.

Nach dem mörderischen Ersten Weltkrieg schien alles möglich. Hoffnung auf lang währenden Frieden verbunden mit sozialen Umwälzungen: Ein Umsturz in Russland und eine folgenreiche, wenngleich erstickte Revolution in Deutschland. Die Abschaffung von Monarchie und Adelsprivilegien, das allgemeine und gleiche Wahlrecht also auch für Frauen, die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifverhandlungspartner durch Arbeitgeber und Regierung sowie der 8-Stunden-Tag sind bis heute gültige Errungenschaften. Ohne Gerechtigkeit, gar ohne soziale Gerechtigkeit, schien Frieden nicht möglich.

Deshalb wurde 1919 bei den Versailler Verhandlungen die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gegründet und in Deutschland 1920 ein erstes Betriebsrätegesetz verabschiedet. Zugleich war das Betriebsrätegesetz die juristische Einhegung der Arbeiterinnen- und Arbeiterräte mit ihrem Anspruch auf Vertretung der Beschäftigten in den Betrieben. Bei der Massendemonstration gegen dieses Gesetz im Januar 1920 erschoss die Polizei 42 Arbeiter. „Angesichts dieses Kräfteverhältnisses ist ein Betriebsrätegesetz zustande gekommen, das, gemessen an der vorangegangenen Umwälzung, nur noch eine traurige Karikatur der hochfliegenden Ideen darstellte“, so der Jurist Michael Kittner in der Einleitung zum Betriebsverfassungsgesetz im Standardwerk „Arbeits- und Sozialordnung“.

Die Nazis ersetzten das Betriebsrätegesetz durch das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ und inszenierten, analog zur „Volksgemeinschaft“, die „NS-Betriebsgemeinschaft“ mit Betriebsführer und zu gehorchender Gefolgschaft; natürlich ohne den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufzuheben.

Niederlagen und Gefährdungen

Als 1952 im Bundestag das Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet wurde – immerhin waren sieben Jahr seit der Befreiung vom Faschismus vergangen, die Unternehmer wieder auf freiem Fuß und im Besitz der Fabriken – geschah dieses gegen den Protest der Gewerkschaften. Otto Brenner, damals Vorsitzender der IG Metall, hat auf den „Geist der vorüber geglaubten Zeit“ und den Stellenwert der „spezifisch nationalsozialistischen Ideologie in der Volks- und Betriebsgemeinschaft“1 hingewiesen, die sich im Gebot von „Friedenspflicht“ und „vertrauensvoller Zusammenarbeit“ widerspiegelt und die Illusion von Partnerschaft von Kapital und Arbeit nährt, wo es doch einen antagonistischen Widerspruch gibt: optimale Rendite auf der einen Seite – gute Arbeit und gutes Leben auf der anderen Seite. In Folge der 68er-Bewegung, mit Regierungsantritt von Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen“) wurde das Betriebsverfassungsgesetzes ein wenig im Sinne der Gewerkschaften verbessert. Bis dahin war „die Geschichte der Betriebsverfassung eine Geschichte schwerer Niederlagen und Gefährdungen der Arbeiterbewegung“ (Kittner). Erst durch Änderungen im Jahr 2001 wurde die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten aufgehoben, die Delegierung von Betriebsratsaufgaben auf Beschäftigte ermöglicht, der Zwang zur repräsentativen Vertretung der Geschlechter im Betriebsrat eingeführt und der betriebliche Umweltschutz in das Gesetz integriert. Zugleich macht sich eine Tendenz zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik breit, die einerseits den Betriebsräten mehr Einfluss in den Gewerkschaften verschafft, andererseits die die Konkurrenz mindernde Rolle des Flächentarifvertrages schwächt – in dieser Art von Tarifpolitik behält die Konkurrenz von Belegschaften untereinander die Dominanz. Die Tarifbindung insgesamt ist, bezogen auf die Beschäftigten, von fast 70 Prozent auf ca. 50 Prozent in den vergangenen 10 Jahren gesunken (WSI Tarifarchiv).

Veränderte Arbeitswelt – die Betriebsverfassungbraucht ein Update

Mit grenzenloser Forschung, Entwicklung und Produktion, mit Digitalisierung, vertiefter Arbeitsteilung, mit der Organisierung von Konkurrenz zwischen verschiedenen „Standorten“, mit der Vereinzelung und Prekarisierung der Erwerbsarbeit gestalten sich Aufgaben von Gewerkschaften und Betriebsräten komplexer und schwieriger als bisher: Die Arbeitswelt verändert sich total – die Betriebsverfassung ist stehengeblieben. An den verzweifelten Versuchen, Leiharbeit und Werkverträge betrieblich und tariflich einzufangen, wird diese neue Herausforderung deutlich. Mit dem gesetzlichen Mindestlohn ist noch nicht garantiert, dass dieser auch bezahlt wird. Noch schwieriger ist es, Scheinselbständigkeit zu entlarven und Soloselbständige in die Interessenvertretung einzubeziehen, wie es unter anderem in den Schlachthöfen und den vielfach ausgebeuteten Wanderarbeitern mitten unter uns deutlich wird. Tagelöhner an der Straßenecke verkaufen sich, wie „buten un binnen“ bereits im Mai 2017 berichtet2: „Vor einer Bäckerei in Gröpelingen versammeln sich frühmorgens Männer, die dann von Autos mitgenommen werden. Die Gewerkschaft geht von einem Arbeiterstrich aus, auf dem Menschen aus Osteuropa ihre Dienste anbieten.“ Die Etablierung von Crowd- und Clickarbeit sind auf Maximalprofit durch maximale Ausbeutung gerichtete Auswüchse des „Arbeitsmarktes“; die darin gefangenen Personen werden rund um den Globus in Konkurrenz zueinander gesetzt: einige wenige gewinnen, viele verlieren – und alles passiert in der Anonymität des Internets, ohne die Möglichkeit sich zu kennen oder sich zu organisieren.

„Union Busting ist in“

Betriebsräte als Vertreter der Beschäftigten und als Widerpart des Arbeitgebers wurden von diesen versucht zu verhindern oder bekämpft – mal offen, mal versteckt. Einige arbeitgebernahe Anwaltskanzleien haben als Geschäftsmodell die Kündigung der angeblich Unkündbaren und bieten dafür Seminare an: „Fristlos kündigen, trotz Unkündbarkeitsstatus, …“ und klagen und mobben Betriebsräte raus. So sinkt der Anteil der Beschäftigten mit Betriebsrat – von einst über 50 Prozent in Westdeutschland auf nur mehr etwas über 30 Prozent in Ostdeutschland3. Sichtbar wird die Trendentwicklung an der Tarifbindung der Beschäftigten, die mit 52 Prozent ohnehin nicht hoch ist, in Ostdeutschland und in einigen Branchen noch deutlich darunter liegt.

Die öffentliche Daseinsvorsorge wird gekapert

Wenn die Profitraten in der materiellen Produktion sinken, werden neue Geschäftsfelder etabliert oder etablierte Betriebe übernommen: Im Gesundheitswesen, im Bildungswesen ebenso wie bei der Mobilität. Krankenhauskonzerne, Privatschulen und Fahrdienste sprießen aus dem Boden, die öffentliche Daseinsvorsorge wird gekapert. Fahrdienstleistungen zum Beispiel als „neues Geschäftsfeld“ sollen die 20 Milliarden Euro aus dem öffentlichen Personennahverkehr in die Kassen der Autokonzerne umleiten. Der „Nebeneffekt“ dabei: Bei der Volkswagentochter MOIA arbeiten hunderte Fahrerinnen und Fahrer, aber weder gibt es einen Betriebsrat noch einen Tarifvertrag.

Respekt und Würde wird uns nicht geschenkt

Dass die Arbeitgeber sich mit der Einschränkung ihrer Macht nicht zufrieden geben, wird am Verhalten sozialpartnerschaftlicher deutscher Musterbetriebe deutlich, wenn sie Fabriken im Ausland betreiben: der Kampf gegen die betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretung wird mit allen Mitteln geführt – während der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien und Argentinien mit der Militärpolizei, während der Apartheid in Südafrika mit dem rassistischen Regime und heute mit der Trump-Regierung in den USA. Der Kampf um die Emanzipation der Arbeit vom Kapital, der Kampf um Mitbestimmung, um Wirtschaftsdemokratie und soziale Gerechtigkeit verschärft sich gerade wieder in dem Maße, wie neoliberale Politikkonzepte sich durchsetzen. Aber da es um Respekt und Würde der Menschen in der Arbeit geht, lässt sich um diese Auseinandersetzung kein Bogen machen.

Veröffentlicht zum 1. Mai 2019 in der Zeitung des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt, Bremen: „Mittendrin am Rande“ Nr. 32, darin weitere Beiträge u.a. von Ingrid Kurz-Scherf zu 100 Jahre 8-Stunden-Tag sowie von Ulrich Brand und Markus Wissen zu Gutem Leben für Alle!

https://www.kirche-bremen.de/downloads/MaR_32.pdf

1 Zitiert nach Deppe, Frank; „60 Jahre Betriebsverfassung“, Broschüre zur DGB-Veranstaltung am 14.11.2012 in Hannover

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