Ansichten der Revolte – 1968 in Hannover

Rolle und agieren von KPD, DKP und SDAJ

Mit dem liebenswerten Hochstapler Felix Krull, einer Parodie auf die bürgerliche Memoirenliteratur, hat uns Thomas Mann einen unterhaltsamen  Roman hinterlassen, mit einem Brief an deutsche Kriegsgefangene aber auch die Erkenntnis, dass der Antikommunismus „die Grundtorheit unserer Epoche“ sei: „Ich glaube, ich bin vor dem Verdacht geschützt, ein Vorkämpfer des Kommunismus zu sein. Trotzdem kann ich nicht umhin, in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus, diesem Schrecken, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Abergläubisches und Kindisches zu sehen, die Grundtorheit unserer Epoche.“ (veröffentlicht 1946 in „Die Einheit“, Nr. 2, S 105 ff, Berlin Dietz Nachf.), die KPD-Bezirksleitung Hannover-Braunschweig gab diesen Brief 1946 als kleine Broschüre heraus. Die Stimmung und Atmosphäre der Zeit treffend,  veröffentlichte Dietrich Kittner wiederum später, in den 1970er Jahren, ein Faksimile davon[1]

Trotz dieser Warnung eines großen bürgerlichen Schriftstellers, vielleicht wegen des genannten Zusammenhanges von Antikommunismus und Faschismus, entwickelte sich der Antikommunismus in der Bundesrepublik Deutschland zur dominanten politischen Doktrin. Dieses, mit Ausnahme von Spanien und Portugal, im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern, in denen die Kommunisten und die kommunistischen Parteien auch wegen ihrer Rolle im Kampf gegen den Faschismus hohes Ansehen genossen. Symptomatisch dafür der von Adenauer kolportierte Ausspruch: „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb.“ Seinen vorläufigen Höhepunkt fand der ideologische und praktische Antikommunismus in der BRD im Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1956 und die danach einsetzende Verfolgung und Verurteilung von zehntausenden Menschen unter dem Vorwurf der Fortsetzung der Arbeit der nunmehr verbotenen KPD. Aus Hannover wurden vom Lüneburger Strafsenat unter anderem die Brüder Baumgarte, Leo Heinemann, Herta Dürrbeck und Elfriede Kauz zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, die sie in Wolfenbüttel bzw. in Vechta absitzen mussten; verurteilt wegen der Anklage durch den  Staatsanwalt Karl Heinz Ottersbach, der im von den Faschisten besetzten Krakau schon als Staatsanwalt Todesurteile beantragt hatte.  Auch außenpolitisch fand der umfassende, staatlich organisierte und durchgesetzte  Antikommunismus  in der Hallstein-Doktrin seinen Ausdruck: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen von Drittstaaten zur DDR wurde als „unfreundlicher Akt“ betrachtet und als unvereinbar mit normalen staatlichen Beziehungen zur BRD. Bis in das Jahr 1969, dem Scheitern der alten Ostpolitik und dem Beginn der „neuen Ostpolitik“  von Willy Brandt und Walter Scheel, hielt diese Doktrin.

Fotos: August Baumgarte  und Herta Dürrbeck

Einerseits … waren Kommunisten diejenigen, die aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern heimgekehrten Antifaschisten und deren Kinder wie zum Beispiel Herta Dürrbeck (25. September 1914 in Misburg bis 2. April 1995), die Brüder August (1. 11.1904 bis 17.4.1980) und Kurt (22.4.1912 bis 21.7.2006) Baumgarte mit ihren Familien. Nach August Baumgarte wurde in Linden im Jahr 2013 nach langen Auseinandersetzungen der Weg am Faustgelände benannt[2]. Oft waren die KPD-Funktionäre auch ehemalige junge Soldaten der Wehrmacht, Kriegsgefangene der Sowjetunion, die auf Antifa-Schulen der Komintern bzw. des Nationalkomitees Freies Deutschland gebildet und erzogen wurden; so zum Beispiel Kurt Fritsch, der, 1968 aus der DDR-Emigration zurückkommend, Bezirksvorsitzender der DKP in Niedersachsen wurde[3]. Kommunisten haben auch in Hannover zusammen mit jungen Arbeiterinnen und Arbeitern der Gewerkschaftsjugend, mit Studentinnen und Studenten des SDS, mit Theologinnen und Theologen engagiert gegen die Remilitarisierung,  gegen die Integration (West-)Deutschlands in die NATO und gegen die geplante Atombewaffnung gekämpft – mit weit reichenden Folgen für die Gewerkschaftsjugend (Politisierung) und den SDS – Trennung der SPD 1960 von „ihrem“ Studierendenverband und Gründung des SHB. Als Teil der APO hat die KPD sich an den Aktionen gegen die Einschränkung von Grundrechten durch die Notstandsgesetzgebung, an den Aktionen bis zum Sternmarsch am 11. Mai 1968 beteiligt. Gelegentlich trugen ehemalige politische KZ-Häftlinge bei diesen Demonstrationen die gestreifte KZ-Kleidung, so der hannoversche jüdische Kommunist Leo Heinemann (1906 bis 1996). Eine herausragende Rolle  in Hannover hatte Ferdinand (Ferdl) Pieck, der den „Landesrat der Friedensfreunde“[4]  verkörperte und vielen Menschen die Grausamkeit des Krieges in Vietnam vor Augen führte. Er betrieb offensive Öffentlichkeitsarbeit und hatte so viele Kontakte zu jungen, kritischen Menschen.

Wenige Jahre später, 1971, war genau das Gegenstand einer Debatte im Deutschen Bundestag. Dem Protokoll ist zu entnehmen, wie der parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern Wolfram Dorn (FDP, vormals Mitglied der NSDAP und der Waffen-SS), erklärte: „… der Bundesregierung ist bekannt, daß in der Bundesrepublik Deutschland verschiedentlich Propagandaschriften, die in Hanoi bzw. von der Botschaft der Republik Südvietnam (Viet-Cong) in der DDR herausgegeben wurden, angefallen sind. Außerdem bietet der „Landesrat der Friedensfreunde Niedersachsen“ zur Zeit mehrere Filme für Vietnam-Veranstaltungen an, die überwiegend aus nord- und südvietnamesischem Material zusammengestellt worden sind oder von Kameraleuten aus der DDR gedreht worden sind.“[5]

Bei den Ostermärschen der frühen 60er Jahre habe ich Kommunisten kennengelernt, u.a. Ferdinand Pieck und Ute Diegel, ebenso Elfriede Kautz und Gertrud Schröter[6], die für ihr Engagement für die „Arbeitsgemeinschaft Frohe Ferien für alle Kinder“[7], die Kinderferienaufenthalte in der DDR organisierte, von der westdeutschen „Gesinnungsjustiz“ (Posser) zu  einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt wurden, die sie im Frauengefängnis in Vechta absitzen mussten.[8] Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass diese Urteile auch viele Jahre „Ehrverlust“ verhängten; eine vor der Strafrechtsreform von 1969 mögliche „Nebenstrafe“ für Schwerverbrecher.[9]

Über die Atmosphäre damals berichtet DIE ZEIT in einem Artikel der Ausgabe vom 20.11.1964[10] über Ute Diegel, deren Vater nach KZ-Haft gestorben war und die auch deshalb Mitglied der VVN war: „Am 18. April 1963 wurde im Zuge eines solchen Ermittlungsverfahrens wegen Verdachts illegaler KP-Tätigkeit der Arbeitsplatz der neunzehnjährigen Chemilaborantin Ute Diegel in einem großen Werk in Hannover durchsucht. Gefunden und beschlagnahmt wurde ein Exemplar des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels aus dem Jahre 1848. Bei der Wohnungsdurchsuchung hielten die Beamten der politischen Kriminalpolizei neben einigen Ansichtskarten aus Helsinki auch einen Bildband über das KZ Ravensbrück für mitnehmenswert. Das Ermittlungsverfahren gegen Ute Diegel wurde dann am 14. Januar 1964 eingestellt. Nicht wieder eingestellt wurde sie bei ihrer Firma: Man hatte ihr, weil die doch wohl nur auf Grund eines schwerwiegenden Verdachts mögliche Durchsuchung des Arbeitsplatzes die Vertrauensgrundlage zerstört habe, im April 1963 die Stellung gekündigt.“ Das Arbeitsgericht legitimierte später diese politisch motivierte und durch das ergebnislose Ermittlungsverfahren ausgelöste Kündigung.

Ostermärsche 1968 (Plakat/Flugblatt aus Hannover?): „Für sozialen Fortschritt – gegen den Rüstungsstaat! Für Demokratie – gegen Notstandsgesetze! Für Abrüstung in allen Ländern – gegen den Völkermord der USA in Vietnam!“, „Seid nett zu Springer – enteignet ihn“, „MAKE LOVE – NOT WAR“, Portraits von Martin Luther King und Rudi Dutschke. Der selbständige Taxifahrer Alfred Hehnen wurde eine der zentralen Persönlichkeiten der kommunistischen Partei in Hannover, u.a. durch „legale“ Flugblätter und Einladungen zur Diskussion mit Kommunisten, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden (Foto aus dem Sammelband „1968 -1988, 20 Jahre DKP in Niedersachsen, Eigenverlag DKP Niedersachsen, Alfred Hehnen ).

Bei der Landtagswahl in Niedersachsen 1967 wurde die Große Koalition unter Führung der SPD bestätigt, die erst 1964 gegründete und aus der Deutschen Reichspartei und dem nationalen Flügel der FDP hervorgegangene NPD wurde mit 7% und 10 Sitzen in den Landtag gewählt. Das war, ähnlich der heutigen Situation, eine Reaktion auf die erste Nachkriegskrise und auf die Regierung durch die sogenannte große Koalition von SPD und CDU/CSU. Der Kampf gegen die alten und neuen Nazis vereinte nochmals die Außerparlamentarische Opposition einschließlich der sich legalisierenden Mitglieder der KP; die NPD wurde innerhalb und außerhalb des Parlaments isoliert und stigmatisiert und verlor danach ihren Glanz und ihren Einfluss.

Andererseits:

Die KPD und etwas später die DKP, sie haben es ihren Kritikern und ihren Gegnern nicht schwer gemacht mit der sichtbaren Abhängigkeit von SED und KPdSU, mit ihrem Stalinkult und ihrem Stalinismus, mit der Berufung auf die Marxismus-Leninismus-Metapher von der „Diktatur des Proletariats“ als politisches Ziel bzw. als Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus, selbst noch im KPD-Programmentwurf von 1968[11], bei dessen Vorstellung in Frankfurt am 8. Februar 1968 KPD-Funktionäre verhaftet wurden. Die historischen Erfahrungen, die  Friedrich Engels 1891 beschrieb, fanden bei den Bewertungen und angemessenen Deutung dieses Kernbegriffes des Marxismus-Leninismus weder von den Kommunisten noch von den Antikommunisten Berücksichtigung: „Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats“[12] All diese Fehler bzw. Fehlkonstruktionen der Partei wurden in der KP der späten 1960er Jahre nicht aufgearbeitet.

Der Stalinkult und die falsche RGO-Politik wurden auch in der DKP nicht wirklich aufgearbeitet, Erfahrungen aus der Niederlage nur sehr ungenügend berücksichtigt. Beispiel dafür ist die These 37 des Parteitages von 1951: „Der Parteitag verpflichtet jedes Mitglied der KPD, sorgfältig Lenins und Stalins Meinungen und Ratschläge über die deutsche Gewerkschaftsbewegung und die Arbeit der Kommunisten in den Gewerkschaften zu studieren und in der täglichen Arbeit anzuwenden.“[13] Fortgesetzt wurde das nach der Gründung der DKP nicht ganz so laut, die Kontinuität wird jedoch deutlich an der inneren Struktur des „demokratischen Zentralismus“ in der DKP, der alle wirklich demokratischen Elemente ebenso fehlten wie den kommunistischen Parteien der Sowjetunion oder der DDR.

Eine wesentliche Schlussfolgerung wurde jedoch aus der Niederlage der Arbeiterbewegung gegen den Faschismus gezogen: Die Einheitsgewerkschaft sollte als Garant gegen jedwede Rechtsentwicklung und als Übungsfeld für die „Aktionseinheit der Arbeiterklasse“ unbedingte Unterstützung erfahren. Das geschah mit den üblichen Übertreibungen, die eine kritische Auseinandersetzung mit sozialpartnerschaftlicher Orientierung vieler Betriebsräte und einer „Verbetrieblichung“ gewerkschaftlicher Tarifpolitik keine fundierte Kritik entgegenzusetzen hatte. Typisch also, dass kritische Gewerkschafter_innen innerhalb und außerhalb der KP entweder ignoriert oder ihrerseits kritisiert wurden. Knut Andresen (siehe Fußnote 16) schreibt über äußerst negativen Folgen der Entlassung der beiden Jugendbildungsreferenten beim DGB-Landesbezirk Niedersachsen Udo Bergmann und Hartmut Heine und zitiert u.a. Hasso Düwel, seinerzeit Jugendsekretär der Bezirksleitung der IG Metall, der von einem „Zusammenbruch“ der DGB-Jugendarbeit sprach. Weder die SDAJ noch die DKP konnten sich zu einer kritischen Position gegenüber dem DGB durchringen. Unbedingt vermieden werden sollte, was Andresen weiter so beschreibt: „Der Geamtbetriebsrat von Volkswagen weigerte sich eine Zeit lang, den Vorsitzenden der Gesamtjugendvertretung zu ihren Sitzungen hinzuziehen,  da er als DKP-Mitglied als nicht vertrauenswürdig galt“ (Seite 237).

Noch über die Neugründung der DKP hinaus gab es in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen Personen, die Mitglied der Kommunistischen Partei waren, dieses aber nicht öffentlich machten; überwiegend aus Gründen des Personenschutzes bzw. um ohne Repression in bestimmten Bereichen arbeiten zu können.  Wie zuvor die KPD war ab September 1968 die DKP finanziell abhängig vor allem von der SED – wollte und sollte sie doch über einen recht großen Parteiapparat sowie eine eigene Zeitung, die UZ – Unsere Zeit, verfügen. Innerhalb weniger Wochen wurde dieser Apparat  aufgebaut, zunächst  überwiegend mit jüngeren KPD-Kadern, die nach 1945 in die KPD gekommen waren. Ein großer Teil von ihnen kam aus der DDR-Emigration. Die Aufgaben dort, z.B. das Betreiben des „Freiheitssender 904“, waren ja entfallen. Es ist wohl auch dieser personellen Kontinuität geschuldet, dass eine  Aufarbeitung der großen politischen Fehler der KP sowohl in der Weimarer Republik (Sozialfaschismus-These und RGO-Politik) wie auch im Nachkriegsdeutschland (Unterdrückung von Sozialdemokraten nach der Vereinigung zur SED, Stalinismus, Parteiverständnis) nicht erfolge. Ein Beispiel dafür ist der schwere Schlag auf dem Weg in die Isolation, den sich die KPD selbst versetzte mit der falschen These 37 des Münchner Parteitages von 1951, der allerdings in Weimar stattfand: „Im Auftrage und im Interesse des amerikanischen Imperialismus und im Einklang mit den deutschen Monopolisten versuchen die rechten Gewerkschaftsführer, die Gewerkschaftsorganisation in den Dienst der Kriegsvorbereitung zu stellen. Aus dieser Lage ergibt sich die Aufgabe, Kampfhandlungen auszulösen auch gegen den Willen rechter Gewerkschaftsführer“[14]; als Beleg dafür werden u.a. die Verhandlungen zum Betriebsverfassungsgesetz angeführt.[15] Als alle kommunistischen Betriebs- und Gewerkschaftsfunktionäre verpflichtet wurden, diese These zu vertreten, traten sie massenhaft aus der KPD aus, zum Beispiel Willi Bleicher, oder wurden aus Gewerkschaften ausgeschlossen bzw. erhielten Funktionsverbote, wenn sie sich von dieser These nicht distanzierten, zum Beispiel Fritz Maiwald in Hannover und Hermann Prüser in Bremen.

Stephan Krull mit Herta Dürrbeck, Sommer 1970

Wikipedia: Die Deutsche Kommunistische Partei verzichtet seit ihrer Gründung, obwohl sich in der Tradition der KPD verstehend, auf das (Zwischen-)Ziel „Diktatur des Proletariats“. Stattdessen hat sie eine Strategie zum Erreichen einer Antimonopolistischen Demokratie entwickelt, in der, im Rahmen bestehender Gesetze, eine Überführung der Großkonzerne in öffentliches Eigentum möglich werden soll. Die Antimonopolistische Demokratie sei eine „Periode grundlegender Umgestaltungen“, in der die Arbeiterklasse und andere „demokratischen Kräfte“ gemeinsam über ausreichende parlamentarische Macht verfügen, um ihre Interessen durchzusetzen, auch als Ausgangspunkt für eine weitere sozialistische Entwicklung. Während dieses Konzept innerhalb der linken Sozialdemokratie (Stamokap-Flügel) Zustimmung fand, wurde und wird es von der Neuen Linken überwiegend als „reformistisch“ abgelehnt. Nicht-sozialistische politische Gruppen und der Verfassungsschutz halten diesen Ansatz dagegen für eine rein strategische Positionierung, um die Gefahr eines Parteienverbotes zu verringern.

Als Termin für die Gründung der „Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend – SDAJ“ wurde der 150. Geburtstag von Karl Marx gewählt, der 5./6. Mai des Jahres 1968. Diese Gründung erfolgte nicht nur als „Testballon“ für die Legalisierung einer bzw. der kommunistischen Partei  in Westdeutschland, sondern auch im Prozess der Lehrlingsbewegung, des Teiles der 68er-Bewegung, der seine Wurzeln in der Arbeiterbewegung hatte und der Orientierung linker Studentinnen und Studenten auf eben diese Lehrlingsbewegung, auf die Arbeiterjugendbewegung und auf die Betriebe. Der Protest der Arbeiterjugend speiste sich aus der krassen Benachteiligung im Bildungssystem, das nicht nur im verschwindend geringen Anteil an Studierenden seinen Ausdruck fand, sondern auch in der „schwarzen Pädagogik“, der tausende Arbeiterkinder in geschlossenen „Heimen“ ausgesetzt waren: Der nachwachsenden Arbeiterklasse sollte unbedingte Disziplin beigebracht werden. Mit ihrem Film „Bambule“ hat Ulrike Meinhof diesen Jugendlichen ein Denkmal gesetzt, treffend begleitet von den Stones: Jumpin‘ Jack Flash!

Meist war die Kooperation mit dem SDS gut – wenngleich Habitus, Vokabular und Rededauer der meisten Genossen des SDS für uns als Lehrlinge leicht überfordernd war. Wir konnten und wir wollten da nicht mithalten, für einige von uns war es auch abschreckend. Auch deshalb war die SDAJ nach und neben der Gewerkschaftsjugend (siehe Beitrag zur Jugend der IG Druck und Papier) für viele eine gute Gelegenheit für revolutionäres Engagement in einer mehr unseren Bedürfnissen entsprechenden Gruppe bzw. Organisation[16], die SDAJ wurde relativ schnell eine ziemlich Mitglieder- und Aktionsstarke und deshalb wiederum anziehende Organisation. Ganz so durchgeplant, wie die Gründung der SDAJ im Rückblick erscheinen mag, war es dann aber doch nicht: Ich selbst wurde – entgegen den Plänen der Initiatoren, des „Gründungsausschusses für eine revolutionäre Jugendorganisation“,  – beim Gründungskongress in Essen in den Bundesvorstand gewählt. Zum Abschied aus der SDAJ schrieb mir der damalige Bundesvorsitzende Wolfgang Gehrcke 11 Jahre später: „Ich entsinne mich noch sehr gut, wie am 5. Mai 1968 in Essen im Schloss Borbeck aus den Reihen der niedersächsischen Delegation beim Gründungskongress für den Bundesvorstand plötzlich ein ‚Stephan Krull‘ vorgeschlagen wurde. Keiner kannte Dich so richtig von uns, die Verwirrung war perfekt, Stephan Krull wurde in den Bundesvorstand gewählt.“ Schnell wurden Mitglieder geworben und Stadtteil- und Betriebsgruppen in Hannover gegründet, rund um die Freizeitheime, die Jugendzentren und in einigen größeren Betrieben. Die Lehrlingsbewegung nahm nochmals einen Anlauf und protestierte gegen die überkommene Berufsausbildung, gegen die „Oma Gewerbeordnung“. Die Berufsausbildung in der BRD wurde nach den Regeln der Gewerbeordnung von 1868 durchgeführt, ein Missbrauch von Lehrlingen für Handlangerdienste für Meister und Gesellen war an der Tagesordnung, die „Lehrlingsvergütung“ war nicht mehr als ein Taschengeld: „Für die Prüfung lernen wir: Wie holt man eine Flasche Bier“. Am Straßenkunstprogramm des ersten Altstadtfestes haben wir uns mit einer „Fegeaktion“ beteiligt und damit Aufsehen und Widerspruch der Bürger erregt. 1969 wurde das erste Berufsbildungsgesetz verabschiedet, allerdings ohne die Zuständigkeit der Innungen, der Industrie- und Handelskammer sowie der Handwerkskammer aufzuheben und ohne eine Ausbildungsverpflichtung für die Betriebe im Rahmen der dualen Ausbildung – eine Teil-Modernisierung des Landes im Ergebnis der 68er-Bewegung. Die „Fünf Grundrechte der Jugend“, die von der SDAJ beschlossen und populär gemacht wurden, waren durchaus auf die Verhältnisse der damaligen BRD zugeschnitten und übten, verbunden mit konkreten Aktionen zu den einzelnen Forderungen, eine gewisse Anziehungskraft auf viele junge Menschen aus: Das Recht auf demokratische und fortschrittliche Bildung und Berufsausbildung, das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit und Gleichberechtigung, Das Recht auf sinnvolle Freizeit, Erholung, Sport und Gesundheit, das Recht auf Mitbestimmung und Demokratie und schließlich das Recht in Frieden zu leben – ohne Militarismus und Neonazismus.

Wie heftig der Staat dennoch gegen diesen Teil der Linken vorging, wird an Hausdurchsuchungen bald nach der Gründung der SDAJ deutlich [17] sowie am Vorgehen gegen mich persönlich, das ich deshalb abschließend darstellen möchte. Erkennungsdienstlich behandelt war ich bereits im Zusammenhang mit anderen Aktionen – und als Aktiver der Gewerkschaftsjugend und später der SDAJ war ich im Fokus von Verfassungsschutz und Politischer Polizei bzw. der „Staatsschutzabteilung“ der Polizei in Hannover.

Am 20.1.1969 verübten drei Männer einen Überfall auf das Bundeswehrmunitionsdepot im saarländischen Lebach, töteten vier Soldaten, erbeuteten Pistolen, Gewehre und Munition. Oberstaatsanwalt Siegfried Buback leitete die Ermittlungen. In Wikipedia ist zu lesen: „Das durch die Tat offensichtlich gewordene Defizit bei der Sicherung einer Militäreinrichtung traf die Verantwortlichen der Bundeswehr, das deutsche Parlament und die Öffentlichkeit schwer. Konservative Kreise vermuteten einen Anschlag aus den Reihen der Außerparlamentarischen Opposition, ohne einen Beweis vorlegen zu können.“ Ex-NSDAP-Mitglied Bundeskanzler Kiesinger und Innenminister Benda forderten, schärfer gegen „Linksoppositionelle“ vorzugehen und die Einführung der „Vorbeugehaft“. Acht Tage später, am 28.1.1969, besuchten mich zwei Beamte der Politischen Polizei bzw. (laut DPA) von der „Sicherungsgruppe Bonn“ an meinem Arbeitsplatz, der Druckerei Morgenstern in Hannover-Ricklingen, um mich „zum Fall Lebach“ zu vernehmen, mein Arbeitgeber wurde befragt, wann ich am Tattag zur Arbeit erschienen sei.

Neues Deutschland, 4. Februar 1969; Haus der Geschichte, Bonn.

Der Regierungsaufttrag, diesen Anschlag von drei Erpressern, die sich „Organisation zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung der Mafia“ nannten, schärfer gegen „Linksoppositionelle“ zu nutzen, wurde also in die Tat umgesetzt – natürlich mit dem Ziel, einzelne Personen einzuschüchtern und die Linke insgesamt zu diskreditieren. 10 Jahre später versuchte ähnliches der niedersächsische Verfassungsschutz mit einem Bombenanschlag auf die JVA in Celle –Ursula von der Leyens Vater Ernst Albrecht, seinerzeit Ministerpräsident in Niedersachsen, war in diese illegale Aktion „unter falscher Flagge“ involviert. Aber das wäre dann eine andere Geschichte.

[1] Zitiert nach dem von Dietrich Kittner herausgegebenen Faksimile der KPD-Broschüre von 1946

[2] http://www.haz.de/Hannover/Aus-den-Stadtteilen/West/Faust-Weg-erinnert-kuenftig-an-August-Baumgarte; http://www.gedenkstaette-moringen.de/website/39.html siehe auch

[3] Siehe Bericht im „Blättchen“ der PDS, Bezirksvorstand Treptow-Köpenick Nr. 129, 7. Juni 2007;  http://www.dielinke-treptow-koepenick.de/fileadmin/tk/thematisch/blaettchen/Blaettchen_Juni_07.pdf

[4] Viele Hinweise auf diesen „Landesrat der Friedensfreunde Niedersachsen“: https://www.nd-archiv.de/artikel/1870423.polizeiaktionen-auch-in-hannover-widerrechtliche-haussuchung-beim-landesrat-der-friedensfreunde.html, http://www.dhm.de/datenbank/dhm.php?seite=5&fld_0=D2Z33015; http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/sgy27/xml/inhalt/40db1dfa-ba3a-415f-bc2b-0b223a974709_prn.htm, https://disarmament-library.un.org/UNODA/Library.nsf/534c532818e440ce8525789a006d94f5/5e4f4c902f75f99d852578b70067083d/$FILE/TNCD-NGC-1.pdf

[5] 103. Sitzung des Bundestages, Mittwoch, 3. März 1971 http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/06/06103.pdf

[6] https://www.neues-deutschland.de/artikel/778785.nachruf-auf-eine-landesverraeterin.html

[7] http://www.mdr.de/zeitreise/westkinder-in-ostferienlager102.html, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/53123/frohe-ferien?p=all, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/53123/frohe-ferien?p=all

[8] Diether Posser: „Anwalt im Kalten Krieg“, Bertelmann-Verlag, München

[9] http://userpage.fu-berlin.de/roehrigw/lva/ws9596/texte/kk/dhm/pics/b65.jpg

[10] http://www.zeit.de/1964/47/am-schandpfahl-des-landesverrats

[11] KPD Dokumente 1945-1968, Bd 1, Seite 423, Edition Marxistische Blätter, Neuss 1989

[12] Friedrich Engels, Einleitung zu Der Bürgerkrieg in Frankreich von Karl Marx, 18. März 1891;

Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 188-199; http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_188.htm

[13] Siehe Fußnote 3

[14] KPD Dokumente 1945 bis 1968, Band 1, Seite 355/356, Edition Marxistische Blätter, Neuss 1989

[15] Zitiert nach „KPD 1945-1968, Dokumente; Hg. von Günter Judick et al; Edition Marxistische Blätter; Neuss 1989

[16] Zur Gewerkschaftsjugend siehe auch Knut Andresen, Gebremste Radikalisierung, Wallstein-Verlag, Göttingen 2016

[17] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45966410.html

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert