Sonntag, 30. Juli 2017, 11:05 bis 12:00 Uhr, NDR Info, hier nachzuhören:
„Das hier war meine Zelle“, sagt der ehemalige VW-Mitarbeiter Lúcio Bellentani. Nach Jahrzehnten steht er nun wieder in dem Folterzentrum in São Paulo, in dem er unzählige Grausamkeiten erlebte. Es ist einer der Orte auf einer Spurensuche zwischen Brasilien und Deutschland. Sie führt weiter in die Vorstadt der brasilianischen Wirtschaftsmetropole, die Stadthalle in Wolfsburg, zu einem Düsseldorfer Untersuchungsgefängnis und tief ins Amazonasbecken. Orte, die alle durch Volkswagen verbunden sind, dem größten europäischen Automobilhersteller mit Hauptsitz in Wolfsburg. Und es sind Orte, an denen Menschen von dunklen Kapiteln in der Geschichte des Konzerns erzählen. Im Mittelpunkt steht das 1953 gegründete VW-Tochterunternehmen in Brasilien, Volkswagen do Brasil, das in Windeseile zum größten Privatunternehmen in Lateinamerika wurde. Inmitten einer brutalen Militärdiktatur, die Brasilien von 1964 bis 1985 regierte.
Bespitzelt und gefoltert
Die Kollaboration von VW do Brasil mit der brasilianischen Militärdiktatur ist bereits vor rund zweieinhalb Jahren von der Wahrheitskommission (Comissão Nacional da Verdade, CNV) scharf kritisiert worden, deren Gründung im November 2011 in Brasilia beschlossen worden war, um die Verbrechen der Militärdiktatur (1964 bis 1985) aufzuklären. Über die Zusammenarbeit von Volkswagen mit den Repressionsapparaten der Diktatur habe man „eine Vielzahl an Dokumenten“, hieß es im Abschlussbericht, den die CNV im Dezember 2014 vorlegte.[1] Als Beispiel zitierte die Kommission den ehemaligen Volkswagen-Arbeiter Lúcio Bellentani, der schilderte, wie er 1972 während der Arbeit festgenommen und noch auf dem Werksgelände in São Bernardo do Campo, einem Stadtteil der Metropole São Paulo, misshandelt worden war. Anschließend wurde Bellentani in ein berüchtigtes Folterzentrum verschleppt und dort wochenlang gequält. Dokumente belegen darüber hinaus, dass VW do Brasil Arbeiter systematisch bespitzeln ließ und Schwarze Listen über oppositionelle Arbeiter erstellte, die es den Behörden der Diktatur überließ. Ausgeforscht wurde nicht zuletzt der damalige Präsident der Metallarbeitergewerkschaft Sindicato dos Metalúrgicos in São Bernardo do Campo, der spätere Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva.
Staatsanwaltliche Ermittlungen
Mittlerweile ist die brasilianische Justiz mit der Zuarbeit von VW do Brasil für die Verbrechen der Militärdiktatur befasst. Nach der Veröffentlichung des CNV-Abschlussberichts hatte zunächst das brasilianische Menschenrechtskollektiv „Memória, Verdade, Justiça e Reparação“ („Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung“) am 22. September 2015 Anzeige gegen den Konzern erstattet. Anschließend sind staatsanwaltliche Ermittlungen aufgenommen worden – sukzessive auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.[2] Mit ersten Ergebnissen wird noch in diesem Sommer gerechnet. Dabei bezieht sich die Anzeige gegen VW do Brasil nicht nur auf die Bespitzelung Oppositioneller und auf ihre Auslieferung in die Folterkeller des Militärregimes, sondern auch auf Vorwürfe, Volkswagen habe – etwa mit dem Bereitstellen von Fahrzeugen – das Folterzentrum OBAN unterstützt.[3] Dort wurden mindestens 66 Oppositionelle ermordet.
Ein militärisch-industrieller Komplex
Darüber hinaus gibt es Hinweise, denen zufolge VW do Brasil – ganz wie andere Konzerne auch – das Instituto de Pesquisas e Estudos Sociais (IPES) und den Grupo Permanente de Mobilização Industrial (GPMI) des Unternehmerverbandes FIESP (Federação das Indústrias do Estado de São Paulo) mitfinanzierte. Über das IPES und den GPMI heißt es, sie hätten versucht, gemeinsam mit der Junta einen „militärisch-industriellen Komplex“ zu errichten.[4] Das IPES galt zudem als bedeutende operative Stütze bei den Vorbereitungen zum Militärputsch vom 31. März 1964. Sein Mitbegründer und – von 1961 bis 1964 – erster Vorsitzender, João Baptista Leopoldo Figueiredo, amtierte damals als Präsident der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer. Von 1963 bis 1975 betätigte er sich außerdem als Prüfungsratsmitglied bei VW do Brasil.[5]
„Integre Männer“
Die Unterstützung des Volkswagen-Konzerns für die brasilianische Militärdiktatur entsprach dabei ganz der politischen Linie der Bundesrepublik und der bundesdeutschen Wirtschaft allgemein. So traf am 11. Mai 1964 Bundespräsident Heinrich Lübke als erster auswärtiger Staatschef nach dem Putsch in Brasilien ein, sagte finanzielle Unterstützung für die neuen Machthaber zu und stellte weitere bundesdeutsche Investitionen in Aussicht. Bundesaußenminister Gerhard Schröder erklärte am 8. Juni 1964 bei einem Treffen mit seinem französischen Amtskollegen, „der neue Ministerpräsident Branco“ werde „als ein sehr integrer Mann beschrieben“. Habe vor dem Putsch „die große Gefahr einer kommunistischen Herrschaftsübernahme bestanden“, so sei die neue Regierung in Brasilia „von einem starken Reformwillen beherrscht“. Sie stütze sich „nicht nur auf das Militär“, sondern finde „auch in der Öffentlichkeit eine breite Zustimmung“.[6] Lob für die Junta kam auch aus den zentralen Verbänden der deutschen Industrie. So erklärte Hans Heinrich Waitz, Vorsitzender des Außenwirtschaftsverbandes Ibero-amerikanischer Verein (IAV) [7], beim „Lateinamerika-Tag“ seiner Organisation im Jahr 1966, in Brasilien und in Argentinien hätten 1964 respektive 1966 „unblutige Revolutionen“ stattgefunden: „In beiden Ländern haben Militärs den gewählten Präsidenten bzw. Vizepräsidenten gestürzt, weil sie ihr Land … in Kommunismus oder Peronismus gleiten sahen.“ Beiden sei es nur darum gegangen, „die kommunistische Gefahr zu bannen“.[8]
„Anziehend für’s Kapital“
Die Kollaboration mit der brasilianischen Junta hat sich für die bundesdeutsche Industrie gelohnt: Handel und Investitionen boomten gewaltig. Während sich die brasilianischen Lieferungen in die Bundesrepublik von 1965 bis 1971 verdoppelten, stiegen die bundesdeutschen Ausfuhren nach Brasilien im selben Zeitraum um 370 Prozent, von 1971 bis 1975 sogar um 500 Prozent. Der Zufluss bundesdeutschen Kapitals, der 1967 noch 72,8 Millionen D-Mark betragen hatte, wuchs im Jahr 1968 auf 227,5 Millionen D-Mark; in den Folgejahren schwankte er auf hohem Niveau zwischen 128 und 189,1 Millionen D-Mark. „Offensichtlich“ sei „das von Ordnung und Stabilität geprägte Klima in Brasilien äußerst anziehend für ausländisches Kapital“ gewesen, heißt es in einer Analyse der damaligen bundesdeutsch-brasilianischen Wirtschaftsbeziehungen; das Militärregime „wies die Forderungen der Arbeiterschaft zurück und gewährleistete hohe Gewinnspannen bei Investitionen“.[9] Davon profitierte auch VW do Brasil.
Nicht nur VW
Die Kollaboration von VW do Brasil mit dem Militärregime ist kein Einzelfall. Zum einen gingen zahlreiche andere bundesdeutsche Unternehmen ähnlich vor. „Bei allen ausländischen Multis herrscht Repression in den Fabrikhallen: Der Arbeiter, der seine berechtigten Forderungen stellt, der reklamiert, der protestiert, wird gefeuert und sofort bei der Polizei denunziert“, konstatierte im Jahr 1978 der brasilianische Gewerkschafter José Ibrahim; „aus der Bundesrepublik Deutschland sind da insbesondere VW, Daimler Benz, Mannesmann, Krupp, Bayer, Hoechst, Siemens, BASF, Voigt und andere zu nennen. Man könnte die Liste beliebig fortsetzen, zu der etwa 50 große westdeutsche Konzerne gehören, die in Brasilien die Privilegien genießen, die ihnen die Militärdiktatur einräumt“.[10]
Nicht nur in Brasilien
Zum anderen haben bundesdeutsche Unternehmen auch in anderen Ländern Lateinamerikas mit Militärdiktaturen kollaboriert. So ist etwa eine enge Zusammenarbeit von Mercedes Benz Argentina mit den Repressionsbehörden der dortigen Junta nachgewiesen; 14 Betriebsräte der Firma wurden in den Jahren 1976 und 1977 verschleppt und mutmaßlich ermordet.[11] Auch der bundesdeutsche Staat hat damals recht eng mit dem Regime in Buenos Aires kooperiert (german-foreign-policy.com berichtete [12]). Wie im brasilianischen Fall hat sich die Kumpanei mit den argentinischen Militärs buchhalterisch ausgezahlt: Bundesdeutsche Firmen steigerten ihre Investitionen in Argentinien von 1976 bis 1982 um 131 Prozent.