Stephan Krull / Jörg Melz1 für die Zeitschrift SOZIALISMUS
Legenden von Vollbeschäftigung und Facharbeitermangel – Arbeitszeitpolitik und ihre gesellschaftlichen und politischen Akteure
Annähernde Vollbeschäftigung und ein akuter Mangel an Fachkräften verbieten jeden Gedanken an eine generelle und kollektive Arbeitszeitverkürzung. Die millionenfache betriebliche Erfahrung, dass die Personaldecke zu eng ist, dass die Aufträge nur mit Hochdruck und oft nur mit Überstunden geschafft werden können, scheinen diese These zu belegen. So verwundert es auch nicht, dass der Vorschlag der Einführung einer „Familienarbeitszeit“ von 32 Stunden pro Woche für Väter und Mütter kleiner Kinder von Familienministerin Schwesig am Jahresbeginn zwar eine individuelle Verkürzung der Arbeitszeit vollzeitbeschäftigter Menschen beinhaltet, summarisch jedoch, da dadurch mehr Menschen für den Arbeitsmarkt mobilisiert werden könnten, auf eine Erhöhung des Arbeitsvolumens bzw. auf eine Erhöhung des Angebotes an Arbeitskraft hinausliefe2. Dass die Familienministerin umgehend von der Kanzlerin zurückgepfiffen wurde, hängt wohl eher damit zusammen, dass die Büchse der Pandora nicht durch die Regierung geöffnet werden sollte.
In ähnlicher Richtung ein Vorschlag des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) vom April diesen Jahres: Für Eltern eine 35-Stunden-Woche – das soll laut DIHK die Lösung für den Arbeitskräftemangel und den niedrigen Erwerbsanteil von Frauen sein. Ein Elternteil reduziert, während der andere aufstockt. Zwei 35-Stunden-Jobs sind mehr als eine Vollzeit- und eine Halbtagsstelle zusammen. So argumentiert der Vorsitzende des DIHK und schlägt eine 35-Stunden-Woche für Väter und Mütter vor. „Wir müssen von Modellen wegkommen, bei denen der eine Partner Vollzeit arbeitet und der andere Teilzeit mit wenigen Stunden“, sagte der DIHK-Mann aus seiner ökonomistischen Perspektive1.
Dem gegenüber stehen die „Allianz für den freien Sonntag“, Arbeitsmedizinerinnen, die vor massenhaft psychischen Erkrankungen aufgrund langer und unplanbarer Arbeitszeiten warnen, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums in Berlin sowie Vorschläge und Forderungen anderer Ökonomen2 in einem offenen Brief an die Vorstände von Gewerkschaften, Parteien, Sozial- und Umweltverbänden und Kirchen in Deutschland, die 30-Stunden-Woche zum gesellschaftlichen Thema zu machen, da „ohne Arbeitszeitverkürzung nie wieder Vollbeschäftigung“ möglich wird. Dieser Position hat sich die Gewerkschaftslinke angeschlossen, die kirchlichen Arbeitnehmerorganisationen, der Deutsche Frauenrat, ebenso wachstumskritische Gruppen, Umweltschutzorganisationen und einige Gliederungen von Gewerkschaften, hier insbesondere Frauen, Jugend und Erwerbslose.
Im April diesen Jahres präsentierte ein Bündnis aus Forum für Arbeit Bremen und Vertreterinnen und Vertretern der Gewerkschaften ver.di, IG Metall und NGG die Gesetzesinitiative “Beschäftigungsförderung durch Arbeitsumverteilung” (BFAU)3. Die Initiative, die Unterstützung vom Bremer Frauenausschuss erhielt, überreichte den Gesetzentwurf an Bundesarbeitsministerin Nahles anlässlich eines Besuches in Bremen. Die Initiative wirbt um Unterstützung durch die Politik in Bremen und anderen Bundesländern. Die Auftraggeber schreiben im Vorwort: „In seiner Konstruktion baut es auf den bisherigen Gesetzen zu Arbeitszeitverkürzung (Altersteilzeitgesetz, Elternzeitgesetz, Teilzeit- und Befristungsgesetz) auf und vermeidet deren Mängel, insbesondere den unzureichenden Lohn- und Personalausgleich … Erfahrungen mit dem analog konstruierten Beschäftigungsförderungstarifvertrag der Metallindustrie Niedersachsen belegen das (die Schaffung zusätzlicher Beschäftigung).“
In der nun eingeleiteten neuen Debatte um die Arbeitszeit kommt es darauf an, die Unterschiede zwischen verschiedenen Ansätzen wahrzunehmen und die Autonomie der Beschäftigten über die Zeit, die gewünschte Zeitsouveränität, nicht gegen eine längst notwendige und mögliche kollektive gesetzliche und tarifliche Verkürzung der Arbeitszeit zu instrumentalisieren.
1. Die Legende von der Vollbeschäftigung
Bereits im August 2010, der Kriseneinbruch nach Immobilienblase und Bankenkrach war noch nicht annähernd überwunden, schrieb der Focus: „In Anbetracht des wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland sieht Wirtschaftsminister Brüderle gute Chancen auf Vollbeschäftigung. Sorge mache ihm jedoch ein möglicher Fachkräftemangel.“6 Damit plapperte Brüderle eine Losung der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ nach und knüpfte – in seinem Gefolge Merkel, von der Leyen, Steinmeier und Brigitte Pothmer von den Grünen – an die Legende von der Vollbeschäftigung aus den Jahren des „goldenen Wirtschaftswunders“ an. Diese Legende hält sich inzwischen über Jahrzehnte.
Von 1960 bis 1973 gab es in Deutschland mit einer kurzen Unterbrechung (1967/68) Vollbeschäftigung.7 Bis heute glauben viele, dass diese Vollbeschäftigung durch das „Deutsche Wirtschaftswunder“ mit Wachstumsraten von bis zu 7,5 Prozent verursacht wurde. Das ist nicht ganz falsch, allerdings hätte damals das Wirtschaftswachstum zu einem sprunghaften Anstieg des Arbeitsvolumens und damit der Beschäftigung führen müssen. Tatsächlich sank jedoch das Arbeitsvolumen zwischen 1960 und 1973 um 5,58 Mrd. Stunden, was einem rechnerischen Verlust von 2,99 Mio. Arbeitsplätzen entspricht. 8 Diese Tatsache spielt bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch keine Rolle, da in der gleichen Zeit ein zusätzlicher Arbeitskräftebedarf von 4,10 Mio. Personen durch die Reduzierung der tariflichen Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden geschaffen wurde. Erst dadurch erhöhte sich im Saldo die Zahl der Erwerbstätigen von 1960 bis 1973 um 1,11 Mio. Personen – eine fast normale konjunkturelle Schwankungsgröße. Damals wurde also der enorme Produktivitätsfortschritt und der darauf basierende Verlust an Arbeitsvolumen durch Arbeitszeitverkürzung kaschiert und sogar überkompensiert. Trotzdem blieb auf Grund wirksamer Propaganda nur das Wirtschaftswachstum als Ursache der Vollbeschäftigung im kollektiven Gedächtnis haften.
Vollbeschäftigung gab es also nur durch das Zusammenwirken von Wirtschaftswachstum und radikaler Verkürzung der tariflichen Vollzeit. Dabei schuf das Wirtschaftswachstum nicht nur die ökonomische Grundlage sondern vor allem auch den tarifpolitischen Spielraum für Arbeitszeitverkürzung. Erst dadurch konnten die Produktivitätsgewinne für mehr als nur Lohnerhöhungen genutzt werden.
Seit Mitte der 1970er Jahre erfolgte Arbeitszeitverkürzung außertariflich durch Verlängerung der Schulzeit und früheren Renteneintritt, tariflich durch Urlaubsverlängerung und die teilweise Einführung der 35-Stunden-Woche. Die höhere Produktivität und das gewachsene Erwerbspersonenpotential blieben in der Entwicklung der tariflichen Vollzeit jedoch nahezu unberücksichtigt, so dass diese heute in der Tendenz der Arbeitszeitverlängerungen wieder das Niveau von 1974 anstrebt – die 40 Stundenwoche.9
Für die Wiederherstellung von echter Vollbeschäftigung, d.h. von einer relativen Gleichverteilung des Arbeitsvolumens über das Erwerbspersonenpotential, wäre heute eine tarifliche Vollzeit von 27 bis 30 Wochenstunden erforderlich. Diese Werte ergeben sich daraus, dass bei der Ermittlung des Umverteilungsbedarfs nicht nur die Zahl von Erwerbslosen, sondern auch der Unterbeschäftigten zu berücksichtigen ist. Beispielsweise arbeiten inzwischen über 12 Mio. Personen in Teilzeit – viele davon unfreiwillig, nicht existenzsichernd und auf Transferleistungen angewiesen.10
2. Die Legende vom Fachkräftemangel
Schaut man sich solch Desaster wie den Flughafen Berlin-Brandenburg und andere Großprojekte an, wähnt man die Legende vom Fachkräftemangel schon bewiesen. Bei etwas genauerer Betrachtung sind es doch Managementfehler und Korruption, die zu solch Fehlleistungen führen.
Die Bundesregierung, die Arbeitgeberverbände, die etablierte Volkswirtschaft und die Mainstream-Medien erklären seit Jahren den Fachkräftemangel und – aufgrund der demografischen Entwicklung – einen drohenden Arbeitskräftemangel. Erst als im Juli diesen Jahres in der ARD der Arbeitskräftereport über das Märchen vom Fachkräftemangel berichtet11, wird einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, dass es sich um gezielte und interessengeleitete Desinformation handelt. Die einfache volkswirtschaftliche Frage, wieso bei einem Mangel (Facharbeiter) die Preise (Löhne) dennoch sinken, wurde bisher weder von Ministern noch von Professoren beantwortet. Also muss doch wohl etwas anderes dahinter stecken: Das Angebot an Arbeitskräften soll durch aggressive Anwerbung von Spezialisten aus der EU oder mit Greencard und Bluecard für Fachkräfte aus Ländern außerhalb der EU immer so hoch gehalten werden, dass die Nachfrage überschritten wird und somit der Preis bzw. der Lohn nicht steigt. Dieser Arbeitskräfteimport (Brain-Drain) hat den für Unternehmen erfreulichen Nebeneffekt, dass betriebliche und gesellschaftliche Ausbildungskosten erheblich reduziert werden. Über die Folgen eines dadurch verursachten Ärztemangels in afrikanischen Ländern, Ingenieuren in Griechenland oder Pflegekräften in Rumänien sorgt sich hierzulande kaum jemand. Um das Ziel der Lohnkostensenkung trotz großer Nachfrage zu erreichen, wurden Lohnuntergrenzen für diesen Brain-Drain eingezogen, die, zum Beispiel bei Ingenieuren, ca. 30% oder gut 10.000 € unter dem üblichen Lohn liegen. So verwundert es nicht, dass diese Programme trotz großer Anstrengungen der jeweiligen Arbeitsministerinnen ein Flop bleiben.
Die Legende vom Fachkräftemangel hängt unmittelbar zusammen mit dem angeblichen Arbeitskräftemangel, der durch die „negative demografische Entwicklung“ katastrophale Ausmaße erreichen soll. Auch hier helfen Fakten gegen Legenden, zunächst zur demografischen Entwicklung:
Die Bevölkerung in unserem Land hat seit 1990 um 2,5 Millionen Menschen auf 81,9 Millionen zugenommen – entgegen der Prognose12. Die Geburtenrate ist auf 1,4 Kinder pro Frau gesunken; dies wird teilweise durch Zuwanderung mit einem Saldo von fast plus 500.000 Personen pro Jahr kompensiert. Sehr unterschiedliche Entwicklungen gibt es zwischen Stadt und Land sowie zwischen prosperierenden Regionen einerseits und entindustrialisierten Regionen in Ost und West andererseits. Schaut man sich nun noch die Entwicklung der Alterspyramide an, so ist zu begrüßen, dass die Menschen gesünder älter werden. Diese Entwicklung ist auch insofern kein Problem, da zum einen die Produktivitätsentwicklung einen immer geringeren Arbeitskräfteeinsatz erlaubt, zum anderen durch Migration – und hier insbesondere durch jüngere Personen mit einer höheren Geburtenrate – dieser Entwicklung entgegengewirkt wird.
Was ist also dran am Fachkräftemangel? »Fachkräftemangel«, schreibt der Journalist Jörn Boewe auf Facebook, „nennt man in Deutschland das Bedürfnis von Unternehmern, qualifizierte Mitarbeiter zu bekommen, ohne auszubilden und anständige Löhne zahlen zu müssen.“
Seit Jahrzehnten fehlen Ausbildungsplätze, hunderttausende Jugendliche sind erwerbslos und auf Transferleistungen angewiesen, ohne je die Gelegenheit einer beruflichen Ausbildung bekommen zu haben. Von Unternehmern werden diese jungen Menschen blitzschnell als „nicht ausbildungsreif“ erklärt, um die Schuld unmittelbar an diese weiter zu reichen. Und was ist, nur zum Beispiel, mit den fehlenden 120.000 Erzieherinnen und den etwa 50.000 fehlenden Ärzten? Bei den ErzieherInnen gibt es regionale Unterschiede, bei den Ärzten kommen zu den regionalen Unterschieden noch gravierende Differenzen in den Fachbereichen hinzu. Ursächlich jedoch ist eine zu geringe Ausbildungsquote und unwürdig schlechte Entlohnung für anspruchsvolle Pflege-, Erziehungs- und Gesundheitsarbeit, bei der Ärzteausbildung ausdrücklich durch den Numerus Clausus, ein formales Kriterium gedeckelt, um die Überlegenheit der „Götter in Weiß“ nicht zu gefährden; Kurt Tucholsky schreibt trefflich über Berufsdünkel im allgemeinen13.
Es gäbe keinen und es wird keinen Fachkräftemangel in unserem Land geben, wenn die Unternehmen und die Universitäten ihren Bildungs- und Ausbildungsverpflichtungen nachkämen, wenn die Schulen und Kindergärten besser ausgestattet wären, wenn die Entlohnung und die Arbeitszeiten den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen entsprächen, wenn rassistische Beschränkungen die vielen hunderttausenden Geflohenen in unserem Land nicht hindern würden, an der gesellschaftlichen Entwicklung mit zu arbeiten.
3. Die Arbeitszeitpolitik
Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Konzepten der „tariflichen Verkürzung der Vollzeit“, wie von linken Ökonomen, Frauen- und Kirchenverbänden einerseits gefordert und der „lebensphasenspezifischen Gestaltung der Arbeitszeit“, wie von Familienministerin, DIHK und einigen Gewerkschaften andererseits präsentiert, ergeben sich weniger aus den konkreten Merkmalen sondern aus einem abstrakten Blickwinkel. Zunächst einmal ist beiden Konzepten gemeinsam, dass die individuelle Lebensarbeitszeit verringert wird. Das kann sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene in Form einer Verkürzung der tariflichen Vollzeit erfolgen als auch durch die individuelle Arbeitszeitverkürzung in ihren vielfältigen Formen.
Die konkreten individuellen Folgen beider Konzepte können ausgesprochen vielfältig, wohltuend und dabei durchaus deckungsgleich sein. Sie sollen an dieser Stelle nicht weiter betrachtet werden.
Die abstrakten gesellschaftlichen Wirkungen der beiden Konzepte der Arbeitszeitverkürzung sind in Bezug auf die tarifpolitische Machtposition der abhängig Beschäftigten hochgradig verschieden – ja gegensätzlich. Besonders deutlich und damit wohl auch leicht verständlich wird die Angelegenheit aus der Sicht der Kapitalbesitzer/Unternehmer. Eine Verkürzung der tariflichen Vollzeit in Richtung der Herstellung von Vollbeschäftigung würde die Position der Kapitalbesitzer/Unternehmer deutlich schwächen. In einem Papier des IAB wurde das 1998 beispielsweise zum Ausdruck gebracht, indem darauf verwiesen wurde, dass jegliche Formen der Arbeitszeitverkürzung zu unterstützen seien – nur die Verkürzung der tariflichen Vollzeit nicht: „Einer einheitlichen Arbeitszeitverkürzung (ob mit oder ohne Lohnausgleich) sind alle Möglichkeiten frei gewählter flexibler Teilzeitarbeit vorzuziehen, die zu einer höheren Teilzeitquote und einer Verminderung der durchschnittlichen Arbeitszeit führen.“14
Kapitalbesitzer und Unternehmer besitzen im Unterschied zu abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen einen ausgeprägten Machtinstinkt, d.h. sie wissen die Bedeutung von Macht einzuschätzen, ohne ausdrücklich darin geschult worden zu sein. Demzufolge sehen sie die Verbesserung ihrer Einkommens- und Lebenssituation immer im Zusammenhang mit Machtfragen. Wenn es über Arbeitslosigkeit kein Erpressungspotential gegenüber den abhängig Beschäftigten gibt, sinkt die Profitrate deutlich. In diesem Zusammenhang sind für Kapitalbesitzer nur die einzelwirtschaftlichen Folgen wichtig und nicht die volkswirtschaftlichen Folgen. Letztere wären bei Vollbeschäftigung auf Grund der Vergrößerung der Kaufkraft insgesamt durchaus positiv. Das interessiert Kapitalbesitzer/Unternehmer aber nur nachrangig. Das Konzept der lebensphasenspezifischen Gestaltung der Arbeitszeit (Flexibilität) kann zur Verbesserung der Lebenssituation einzelner abhängig Beschäftigter führen, aber nicht zur Sicherung von Beschäftigungsverhältnissen über Vollbeschäftigung. Es verwundert kaum, dass Konzepte zu solcher Flexibilität gerne von der Bertelsmann-Stiftung angeboten und publiziert werden.
Vanita Matta von der Universität Zürich schreibt im Magazin der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Juli 2014), dass fast 40% der abhängig Beschäftigten sehr überbeschäftigt sind und unbedingt kürzer arbeiten wollen.15 Diesem Anspruch entsprechen viele Bemühungen der Gewerkschaften, die Angriffe von Unternehmen und Staat auf die Arbeitszeit zu durchkreuzen. Ver.di berichtet in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift publik über den Abschluss der Tarifrunde bei den Banken16: „Mehr Geld und – für viele Beschäftigte der Knackpunkt – weiter keine Samstagarbeit … Unser Hauptthema war es, die Samstagarbeit abzuwehren. Das ist Dank vieler Aktionen und Warnstreiks gelungen … zogen junge Leute der Demo voran. Ihr Motto: Mehr Zeit zum Leben, Lieben und Lachen auch am Samstag – und nicht erst mit 67.“
Die IG Metall berichtet darüber, dass Termindruck, ungünstige und lange Arbeitszeiten viele Stellenbewerber abschrecken17. Die Beschäftigtenbefragung dieser Gewerkschaft (500.000 Antwortende) hat ergeben, dass die Reduzierung der Belastung durch Arbeitszeit (Länge und Lage der Arbeitszeit, Verfügbarkeit der Beschäftigten) ein Hauptanliegen der Menschen in den Betrieben ist. In der Regel entscheiden die Arbeitgeber, wann gearbeitet wird. Die ständige Verfügbarkeit der Beschäftigten soll die Personaldecke so dünn wie möglich halten und dadurch die Kosten senken. Aus all dem leitet der Vorstand der IG Metall die Forderung nach Zeitsouveränität ab: „Die IG Metall hat die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Die Botschaft: Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein. Die entscheidende Stellschraube dafür ist die Zeit, meint der Zweite IG Metall-Vorsitzende und fordert flexible Lösungen zugunsten der Arbeitnehmer.“18 Es ist unbedarft zu glauben, durch solche Arbeitszeit-Flexibilität an den Machtverhältnissen etwas ändern zu können. Nur eine Reduzierung der Erwerbslosigkeit durch radikale Verkürzung der Vollzeitarbeit auf maximal 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich bringt eine andere Verteilung der Arbeit – auch der Reproduktions- oder Care-Arbeit, aller gesellschaftlich notwendigen und nützlichen Arbeit mit sich. Allein diesen, die Macht der abhängig Beschäftigten stärkenden Punkt, umgehen Gewerkschaften wie Regierung und Arbeitgeber. Durch sicher auch im Interesse der Beschäftigten liegende Flexibilität wie z.B. Zeit für Weiterbildung wird das Leben einzelner schöner, das Leben der abhängig Beschäftigten bleibt durch Massenerwerbslosigkeit von tatsächlicher Machtlosigkeit geprägt. Sollte die tarifliche Vollzeit verkürzt wird, ist der Lohnausgleich wahrscheinlich, denn die abhängig Beschäftigten sollen nicht aufgewiegelt werden und der Absatz soll weiter gut funktionieren. Das würde man mit der Verweigerung des Lohnausgleichs konterkarieren.
Erfahrungen aus zahlreichen Diskussionen zum Thema Arbeitszeit haben gezeigt, dass fehlendes „Machtbewusstsein“ nicht ersetzt werden kann. Dieser in Kreisen der abhängig Beschäftigten und ihrer Interessenvertreter weit verbreitete Mangel ist die Basis dafür, oft und konsequent aneinander vorbei zu reden. Arbeitszeitverkürzung in Form der Verkürzung der tariflichen Vollzeit wird es nur geben, wenn die Kapitalbesitzer/Unternehmer sich gezwungen sehen, Teile ihrer Machtposition aufzugeben. Dieser Zwang ergibt sich vorrangig aus politischen Gründen, weniger aus ökonomischen Gründen. Die damals schon lange geforderte 40 Stundenwoche ist unter dem Eindruck der Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Systemauseinandersetzung eingeführt worden. Zu Erinnern ist an den New Deal in den USA sowie an das ILO-Übereinkommen Nr. 47 von 1935, mit dem die 40-Stunden-Woche international etabliert werden sollte; Aufrüstung und Krieg haben diese beiden Initiativen leer laufen lassen. Einen großen Erfolg gab es unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als im Zuge der Novemberrevolution der 8-Stunden-Tag auf gesetzlicher Basis eingeführt wurde. Seit nunmehr fast 100 Jahren gilt die gesetzliche 48-Stunden-Woche mit der Möglichkeit der Verlängerung auf die 60-Stunden-Woche. Es wäre an der Zeit, der tariflichen Verkürzung der Arbeitszeit nun die gesetzliche Fixierung von maximal 40 Stunden in der Woche folgen zu lassen und der weiteren tariflichen Verkürzung der Arbeitszeit damit auch einen neuen und besseren Rahmen zu geben.
SOZIALISMUS, 12/2014
1 Jörg Melz ist Ökonom, Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und Co-Autor des attac-Basistextes ArbeitFairTeilen.
2DIW Wochenbericht Nr. 4/2014 http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.435704.de/14-4-3.pdf
3http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/familienzeit-dihk-schlaegt-35-stunden-woche-fuer-muetter-und-vaeter-vor-a-962727.html
4http://www.alternative-wirtschaftspolitik.de/show/6619884.html?searchshow=30-stunden-woche
5http://www.forum-fuer-arbeit.de/2014/04/beschaeftigungsfoerderung-durch-arbeitsumverteilung/
6http://www.focus.de/politik/deutschland/arbeitsmarkt-bruederle-haelt-vollbeschaeftigung-fuer-moeglich_aid_547426.html
7 Das entsprach einer Arbeitslosenquote von maximal 1,5 Prozent bzw. 275 000 Arbeitslosen (Stat. Bundesamt).
8 Berechnung auf Basis der Jahresarbeitszeit der Erwerbstätigen von 1973 (Stat. Bundesamt).
9 Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Beschäftigten (in Voll- und Teilzeit) beträgt heute rund 30 Stunden und liegt 9 Stunden unter dem Durchschnitt von 1974 (IAB: Durchschnittliche Arbeitszeit und ihre Komponenten in Deutschland).
10 Über 2 Mio. Personen arbeiten nur deshalb in Teilzeit, weil sie keine Vollzeitstelle finden (Stat. Bundesamt).
11ARD, 21. Juli 2014 „Der Arbeitsmarktreport – Das Märchen vom Facharbeitermangel“
12http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70497/bevoelkerungsstand-und-entwicklung
13http://www.textlog.de/tucholsky-zeitung-stand.html
14http://doku.iab.de/werkber/1998/agenda.pdf
15http://www.zeitpolitik.de/pdfs/zpm_24_0714.pdf
16http://publik.verdi.de/2014/ausgabe-05/gewerkschaft/gewerkschaft/seite-6/A1
17http://extranet.igmetall.de/extranet/20140708_M_Grafik_Stellen_besetzen_5b894330514e93b97c15c4f149c0bd524b2828b3.pdf
18http://www.igmetall.de/wer-bestimmt-ueber-die-zeit-hb-gastbeitrag-von-joerg-hofmann-14131.htm