Ist jeder so frei wie er gut ist?
Zuerst veröffentlicht in „express“. Juli 2007
Plädoyer gegen die Überhöhung von Neuem und Modernem durch Michael Vester und Michael Schumann
Wer wollte es leugnen: Die Arbeitswelt verändert sich und in Wechselwirkung mit ihr die Menschen, die in Industrie und verarbeitendem Gewerbe, in der Landwirtschaft, in den öffentlichen und privaten Dienstleistungsbereichen beschäftigt sind. Dieser Prozess ist nicht neu, er hat sich beschleunigt und verbreitert. Seine Basis seit Jahrzehnten sind wissenschaftlich-technische Entwicklungen (z.B. Dampfmaschine, Elektrizität, Chlor- und Biochemie, Fließband, Mikroelektronik) und die Internationalisierung / Globalisierung von Handel und Produktion aller Märkte einschließlich des „Arbeitsmarktes“.
Innerhalb der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse, der sie unterstützenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden diese Veränderungen analysiert und reflektiert; es gibt auch diejenigen, die einen sehr engen Arbeiterbegriff und entsprechenden Habitus pflegen. Gewerkschaften reagieren auf die strukturellen und kulturellen Veränderungen sehr langsam und sehr spät. Wer wollte das leugnen?
Zu analysieren ist, welche realen Veränderungen es im Sein und Bewusstsein der Menschen in den Betrieben gibt und was Ideologie und Propaganda bei den „gefühlten“ Veränderungen ist – so wie der gegenwärtige „Aufschwung“ eben ein Aufschwung für die Reichen ist, bei denen „da unten“ aber als weitere Bedrohung ankommt. Wie sollten die ausgelagerten Telekom-Beschäftigten, deren Löhne gekürzt und Arbeitszeiten verlängert werden, wie die vielen tausend, die monatelang einem ordentlichen Job hinterherlaufen, um dann doch nur einen Praktikumsplatz zu kriegen, diesen „Aufschwung“ auch anders wahrnehmen? Und wenn in Talkshows und Leitartikeln noch so oft der Aufschwung herbeigebetet wird und die Regierenden sich noch so sehr daran klammern: Das Sein bestimmt weiterhin das Bewusstsein!
Es verändert sich die Konkurrenzsituation der Menschen innerhalb und außerhalb der Betriebe mit fatalen Auswirkungen auf Sein und Bewusstsein. Solidarität ist zu einem Fremdwort und einer Illusion geworden dank der Bemühungen von Unternehmern und Medien, die Beschäftigten zu „Arbeitskraft-Unternehmern“ zu machen, seit über „Beschäftigungsfähigkeit“ mehr geredet wird als über Ausbildungsstreik und systematische Qualifikationsdefizite der großen Betriebe.
Im Zusammenhang mit dem Modell „Auto 5000“ definierte der inzwischen verurteilte damalige Regierungsberater und VW-Personalvorstand Hartz den künftigen Arbeitnehmer so: „Er wird viel selbständiger und viel mehr Partner sein und hat viel mehr Freiheiten. Jeder ist so frei wie er gut ist. Wenn wir ein Ergebnis für die Arbeit vereinbaren, dann kann er gestalten, wie er das Ergebnis erreicht. Das ist alles in seiner Mündigkeit. Und das ist eigentlich eine tolle Sache, denn umso motivierter wird er sein.“[2]
Michael Vester und Christel Teiwes-Kügler (Institut für politische Wissenschaften, Hannover) berichten in „Widersprüche“ 102 von Dezember 2006 über ihre Studie „Die Neuen Arbeitnehmer und der neue industrielle Konflikt[3]“ und beziehen sich dabei auch auf Michael Schumann vom SoFi in Göttingen und seine Bilanz der Begleitforschung des Projektes „Auto 5000“ bei VW in Wolfsburg. Dieser Bezug ermuntert dazu, die Ergebnisse der Forschung, bei der es sich um eine von VW und IG Metall beauftragte Untersuchung handelt, mit meiner Wahrnehmung ins Verhältnis zu setzen, da ich bereits bei der Beschlussfassung des Projektes in der Tarifkommission Widerspruch und Kritik formuliert habe. Mit der Konstruktion des „Neuen Arbeitnehmer“ (geboren durch die „Renaissance eines Berufsethos der guten Facharbeit“) schießen die Autoren meines Erachtens unhistorisch und zu schnell und über das Ziel hinaus. Der von ihnen benannte „neue industrielle Konflikt: Berufsethos vs. Kapitalverwertung“ entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als der alte Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital, mit einer neuen Generation von Beschäftigten und in neoliberaler Zeit geprägten Menschen.
Unhinterfragt wird die leidige, alt hergebrachte Spaltung zwischen Arbeitern und Angestellten als fortexistierendes Faktum genommen, obwohl die Veränderungen in der Produktion, in Arbeits– und Ablauforganisation, die fließenden Grenzen zwischen Bandarbeit und Facharbeit, zwischen Facharbeit und Ingenieursarbeit, die Einführung von Team- und Projektarbeit und andere arbeitsorganisatorische Veränderungen zur Aushandlung von ERA geführt haben. Die Studie hebt auf „höher Qualifizierte“ (S. 81) ab – und meint formale Qualifikation. Deshalb sind – in Umkehrung des Ansatzes – die „geringer“ Qualifizierten mit ihrem Erfahrungswissen und ihrer informellen Qualifikation, mit ihren Ansprüchen an gute Arbeit und an soziale und biografische Sicherheiten nicht Untersuchungsgegenstand. Wenn man die Beschäftigten in Gruppen unterteilt und eine dieser Gruppen untersucht, liegt die Möglichkeit der (Er)findung der neuen Klasse des „modernen Arbeitnehmertypus“[4] fast auf der Hand.
In sieben Gruppenerhebungen (Auszubildende, Studenten, Berufseinsteiger, zwei Ingenieursgruppen, Qualifizierte Facharbeiter, kaufmännische Angestellte) wurde eine Stichprobe von 56 Personen, davon 7 Frauen, durchgeführt. Daraus solch weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen wie die Hannoveraner es gemacht haben, scheint mir fragwürdig. Der Bezug zu Schumann, der über 1500 Personen einer neuen Fabrik über drei Jahre beobachten konnte, liegt da nahe. Doch auch dieser Bezug ist fragwürdig, denn es handelt sich bei einem großen Teil dieser Personen um ehemals Arbeitslose ohne spezifische Berufsausbildung – also eine mit Vesters Bezugspersonen nicht vergleichbare Gruppe. Vester beschreibt an Hand der Stichproben eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen „Mitarbeiterinnen“ eines „gemeinschaftlich-solidarischen (technischen) Typs“ und „neu hinzukommenden kaufmännisch-organisatorisch orientierten Beschäftigten“. Diese seien „höher gebildet, besser qualifiziert“ und setzten „stärker auf Konkurrenz und individuellen Aufstieg“ (S. 92). Karriereorientierte Aufsteiger sind keineswegs neu in der Arbeitswelt, selbst wenn es sich, wie von den Autoren betont, um Personen handelt, die aus „Aufsteigerfamilien“ kommen. In Anlehnung an hergebrachte Modelle sozialer Milieus und Fortschreibung seiner eigenen Arbeiten zum Thema bildet Vester fünf Arbeitnehmertypen (Aufstiegs- und Karriereorientierte, Gebremste technische Experten, Autodidakten IT-Branche, Organisierer und Problemlöser sowie Spezialisierte Facharbeiter) und erläutert dann: „Der Hauptkonflikt besteht für diesen Typus nicht im Interessengegensatz zwischen Unternehmen und Beschäftigten im Betrieb. Hier konnten Ansprüche auf Individualität, Autonomie, eigenverantwortliche Mitgestaltung und Selbstverwirklichung beruflich realisiert werden. Der Hauptkonflikt besteht vielmehr in der Umbruchsituation der Branche selbst.“ (S. 90), um zu folgendem Schluss zu kommen: „Es kommt zu einer Verschiebung im Kräfteverhältnis dieses gemeinschaftlich-solidarischen (technischen) Typs, der bislang die Betriebskultur dominiert hat und neu hinzukommenden kaufmännisch-organisatorisch orientierten Beschäftigten. Diese sind höher gebildet, besser qualifiziert und setzen stärker auf Konkurrenz und individuellen Aufstieg. Ihr Habitus und Berufsethos haben eine größere Nähe zu den von Unternehmensseite inzwischen eingeführten Maßnahmen der individuellen Leistungsanreize, die interne betriebliche Konkurrenz verschärfen. Diese ‚neuen’ Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden vermutlich längerfristig den traditionellen und gemeinschaftlich orientierten Arbeitnehmertypus in seiner die Betriebskultur prägenden Einflussnahme verdrängen.“ (S. 92)
Nun könnte man über diese angesichts der geringen Fallzahl fragwürdige These hinweggehen, wenn davon nicht Empfehlungen für die „Modernisierer“ in Betrieben und Gewerkschaften abgeleitet würden und wenn nicht eigene praktische Erfahrungen dagegen stünden.
Die Empfehlung für die „Modernisierer“ versteckt sich in der anschließenden These, die Art der gewünschten Interessenvertretung verschiebe sich von der „kollektiven Delegation“ zur „individuellen Selbstvertretung“. Dass es sich hier um keinen antagonistischen Widerspruch, sondern um verschiedene Seiten des Kampfes, um verschiedene Praktiken, verschiedene Ansätze und unterschiedliche Methoden, abhängig auch von der jeweiligen Mitgliedschaft und der betrieblichen Situation, handelt, ist nicht neu. Eine Debatte um die Zweckmäßigkeit gibt es lange – unter anderer Überschrift – in Gewerkschaften: Stellvertreterpolitik kann nicht erfolgreich sein, weder bei altem noch bei „neuem“ Arbeitnehmertypus! In Anlehnung an das Projekt „Auto 5000“ empfehlen die Autoren, soziale Stellung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz durch eine Politik der Produktivitätspakte zu sichern. (S. 95) Mit solchen Produktivitätspakten haben die Belegschaften vieler Betriebe inzwischen ihre leidigen Erfahrungen gemacht: Arbeitszeit wurde verlängert, Löhne wurden gekürzt, Personal wurde „sozialvertäglich“ abgebaut, die Leistungsschraube wurde erheblich angezogen – und für das alles gab es einen kurz befristeten Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen unter der Voraussetzung, dass es zu keiner wesentlichen Krise für den Betrieb kommt.
Dieses beschreibt den maßlosen Anspruch des Kapitals an die Beschäftigten, bei den Autoren bleibt ganz unberücksichtigt, dass Beschäftigte heute ihre ganze Person und Persönlichkeit dem Produktionsprozess und dem Renditeziel unterordnen sollen. Junge Facharbeiter, Techniker und Ingenieure wollen ihr Wissen und Können in den Produktionsprozess einbringen – und überwiegend in ihrer männlichen Form wollen sie das meist über die verträgliche Arbeitszeit hinaus. In untereinander konkurrierender Weise übertreffen diese „’neuen’ Mitarbeiter“ dann gelegentlich sich selbst – bis zum für sie ganz unverständlichen ersten Tadel des Vorgesetzten, der sich selbst bedroht fühlt, bis zum ersten Zusammenbruch oder bis zur Beendigung des befristeten Arbeitsverhältnisses. Schließlich ist Präkarisierung überall und jederzeit! In dieser ersten euphorischen Arbeitssituation gibt es für viele (männliche) Kollegen nur ein kurzes Privatleben, dem nicht viel Glück beschieden ist, weil er kaputt und genervt ist vom täglichen Konkurrenzkampf und mit Gedanken sowieso bei dem Projekt, bei der Besprechung oder bei dem Haken, den er schlagen muss, um nicht der Verlierer zu sein. Es handelt sich – kritisch betrachtet – um die Kolonialisierung unserer Lebenswelt; ein Gedanke, den Vester durchaus hätte aufgreifen können.
Tatsächlich erleben wir in den Betrieben, auch bei Auto 5000, nicht in erster Linie einen „neuen Arbeitnehmertypus“, sondern einen neuen Typus von Taylorismus auf der Stufe höherer Anforderungen und Qualifikation sowie Vermarktlichung der Beziehungen zwischen den Beschäftigten! Und das alles übrigens nicht bei besserer (höherer) Vergütung, sondern bei geringerem Entgelt. Keine „Innovation“ bei Auto 5000, auch nicht der „neue Arbeitnehmertypus“, hat zur Lösung irgendeines drängenden Problems geführt: Die Arbeitslosigkeit steigt, die Arbeitszeit wird verlängert, die Einkommen sinken, arbeitsbedingtes Voraltern beschleunigt sich – und produziert wird auch nur Blech und high tech auf vier Gummirädern, dass weiterhin unverträglich mit sozialen und ökologischen Erfordernissen ist. Stattdessen haben sich neue Probleme aufgetan, zum Beispiel, um nur das größte zu nennen, ungleicher Lohn für gleiche Arbeit in der gleichen Fabrik. Wirkliche technische, ökologische und soziale Innovationen bedürfen intellektueller, personeller und zeitlicher Kapazitäten und entsprechenden Handlungsspielraumes. Diese notwendigen Kapazitäten und Spielräume gibt es in vielen Betrieben nicht, da das kurzfristige Renditeziel von den Finanzmärkten und Aktionären vorgegeben wird.
Die Autoren heben die Ansprüche hervor, die die „neuen Arbeitnehmer“ an die Möglichkeiten der Mitsprache über Arbeitsbedingungen, Arbeitsumgebung, Arbeitsablauf haben (Leistung gegen Teilhabe, S. 82). Sie versteigen sich nicht dazu, dieses als „Mitbestimmung“ oder gar als Demokratie zu bezeichnen, sondern anerkennen die existenzielle Not (Überlebensstrategie) der Beschäftigten, wo es doch lediglich um Effektivität und Produktivität geht! Aber das ist nicht neu! Beschäftigte haben immer Wissen zurückgehalten, Fähigkeiten kaschiert, Verbesserungsvorschläge unterlassen, um Leistungsdruck und Ausbeutungsgrad nicht zu erhöhen bzw. eine adäquate Gegenleistung in Form von mehr Mitsprachemöglichkeiten, kürzerer Arbeitszeit oder mehr Geld zu bekommen. Dieser Deal ist erprobt in vielen Jahrzehnten und wird offensichtlich in der neuen Generation trotz neoliberaler Wende reproduziert. Nötig und wünschenswert wären von den Instituten in Hannover und Göttingen mehr aufklärerische Forschungen statt anwendungsorientierter Auftragsarbeiten. Aber dann gäbe es weniger die Möglichkeit, sich so einfach an ihnen zu reiben!
[1] Der Autor ist Mitglied des Ortsvorstandes der IG Metall und war bis Mai 2006 Mitglied des Betriebsrates bei VW in Wolfsburg und der Tarifkommission der IG Metall
[2] zit. nach „Oberösterreichische Nachrichten“ vom 10.602002
[3] Ein ausführlicher Forschungsbericht soll im Jahre 2007 veröffentlicht werden, lag diesem Artikel aber nicht zugrunde
[4] Schumann u.a., Auto 5000 – ein neues Unternehmenskonzept, S. 122; Vester, S. 83