Debatte um das Wahlprogramm

Anmerkungen zur Debatte um das Wahlprogramm zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt:

Die Geschichte vom Entwurf für ein Landtagswahlprogramm beginnt im Sommer 2019, als der Landesparteitag einen transparenten und partizipativen Prozess für dieses Programm beschlossen hat. Dann passierte außer der Berufung einer Redaktionskommission im November 2019 mehr als ein Jahr lang fast nichts. Beim Parteitag am 11. Oktober 2020 wurde per Beschluss festgestellt: „Der Programmprozess sollte geöffnet und ein wichtiger Meilenstein unserer innerparteilichen Demokratie werden. Umgesetzt wurde das allerdings nicht ausreichend. … insbesondere die digitalen Möglichkeiten zur Vernetzung, zur Diskussion und zur Übermittlung von Arbeitsständen wurden bisher nicht ausreichend genutzt.“

Zur Sitzung des Landesvorstandes am 2.11. wurde diesem ein erster Entwurf vorgelegt und um Änderungsvorschläge an die Redaktionskommission bis zum 9.11. gebeten. Mit Datum vom 4.11. habe ich der Redaktionskommission umfangreiche Änderungsvorschläge gemacht – sowohl struktureller als auch inhaltlicher Art. Insbesondere habe ich vorgeschlagen, Zielgruppen klar zu benennen und an diesen dann auch die Inhalte zu orientieren. Weiter habe ich konkrete textliche Veränderungen und Anpassungen des Wahlprogramms an die Beschlusslage vorgeschlagen, so im Bereich des ÖPNV, nämlich für einen fahrscheinlosen ÖPNV inklusive eines Finanzierungsmodells.

Es folgte eine Sitzung des Landesvorstandes am 16.11. mit einer überarbeiteten Version. Dazu habe ich wieder konkrete Veränderungsvorschläge eingebracht – unter anderem auch die, die ich oben nochmals formuliert habe (Leistungsprinzip, E-Autos, Homeoffice, Strukturwandeldialog, Unternehmerrisiken, politische Bildung und weitere). Nach Rede und Gegenrede wurden meine Vorschläge fast alle abgelehnt, auch der nach einem vollständigem kommerziellen Werbeverbot an Kitas und Schulen.

In Summe habe ich als Einziger aus dem Landesvorstand diesem Entwurf nicht zugestimmt – auch, weil alles unter großem Zeitdruck verabschiedet wurde.

Der Programmkonvent am 28.11. wäre für viele Mitglieder die erste Gelegenheit, über den Programmentwurf zu beraten. Ganz bewusst habe ich mich zurückgehaltenen, um die Meinung derjenigen aufzunehmen, die den Entwurf erstmals lasen und nicht schon länger darüber diskutiert hatten. Nur an einem Punkt, der mir am wichtigsten war, habe ich nochmals interveniert – nämlich der Leerstelle „politische Bildung“. Ich hätte auch zum x-ten Male einen Disput zum ÖPNV oder zum neuen Geschäftsmodell der Autoindustrie führen können. Das wollte ich mir und den anderen Teilnehmenden nach meinen bisherigen Erfahrungen nicht antun, zumal einige kritische Punkte ja auch von anderen Personen angesprochen wurden.

Der Landesparteitag Ende Januar 2021 wird einige dieser konträren Positionen zu entscheiden haben.

Nur der Bedeutung wegen jetzt kurz zur Leerstelle „politische Bildung“. Im Entwurf steht, „Wahlen sind das Rückgrat der Demokratie“. Abgesehen von einer grundsätzlichen Kritik des bürgerlichen Parlamentsbetriebes und der Privilegierung von Parlamentarier:innen: Angesichts geringer Wahlbeteiligung, angesichts der Stimmen für rechte Parteien, angesichts der Krise des Parlamentarismus ist es falsch, allein Wahlen zum Rückgrat der Demokratie zu erklären. Dringend notwendig wäre ein Verständnis dafür, dass politische Bildung, aktives politisches Engagement und direkte Beteiligung der Menschen an den sie betreffenden Fragen das Rückgrat der Demokratie sind – und diese einzufordern und zu unterstützen gegen die Krise der Parteien und der Demokratie, gegen die Rechtsentwicklung, gegen die Ausbreitung von Verschwörungstheorien und gegen die Austrocknung der Trägerinnen und Träger der so notwendigen politischen Bildung.

Das Rückgrat der Demokratie – politische Bildung ist unverzichtbar.

Angesichts der Krise der Demokratie und des Parteiensystems, angesichts des Aufstieges der AfD, der Attraktivität von Verschwörungstheorien, angesichts des um sich greifenden Trumpismus ist politische Bildung so wichtig wie noch nie.

Demokratie muss von jeder Generation neu gelernt werden. Das geht nur über zwei Wege:

1. Vorleben durch Mitmenschen, vor allem durch Eltern, Erzieher:innen und Lehrer:innen.

2. Durch politische Bildung – vom Kindergarten über allgemeinbildende und berufsbildende Schulen und die Universitäten bis zum lebenslangen Lernen und der Erwachsenenbildung.

Ohne politische Bildung kann Demokratie auf Dauer nicht existieren. Nur politisch gebildete Menschen können Interessenunterschiede erkennen und einordnen, Respekt und Toleranz sowie Widersprüche und Kritik diesen Interessen gegenüber artikulieren und individuelle Interessen in Einklang mit allgemeinen Interessen, mit der Politik, bringen. Politische Bildung ist Voraussetzung für politische Mündigkeit, für gesellschaftliche Partizipation und politische Beteiligung, für politische Handlungsfähigkeit in ihren unterschiedlichsten Formen. Emanzipatorische politische Bildung entwickelt und fördert die Kritikfähigkeit und die Fähigkeit, sich von Herrschaft und Bevormundung zu befreien (Selbstbestimmung).

Einerseits ist politische Bildung gerade jetzt besonders gefragt. Es stellen sich drängende politische Fragen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft, Grundrechte und ordnungspolitische Entscheidungen betreffen. Gleichzeitig ist die Infrastruktur politischer Bildung bedroht und nicht wenige Träger und Akteure kämpfen um wirtschaftliches Überleben.

Für Die LINKE bedarf es darüber hinaus marxistischer Grundlagenbildung. Wenn wir nach der Aktualität des Marxismus fragen, fragen wir zugleich, wie theoretische Grundlagenbildung heute aufgestellt sein muss, was also marxistisches Denken leisten muss – und kann. Ist die Kritik der politischen Ökonomie überhaupt noch aktuell? Welche Rolle kann marxistische Bildung für die Orientierung, Ermächtigung und die Kämpfe der Arbeiter*innen, für die Organisierung der Linken spielen? Wie können abstrakte Begriffe – Marxsche Kategorien, marxistisches Denken: Ökonomie, Staatsverständnis, (dialektischer) Materialismus – am widersprüchlichen Alltagsverstand und am konkreten Leben andocken?

Es geht darum, die Welt verstehen zu lernen, um sie verändern und verbessern zu können.

Was politische Bildung leisten und wie sie gestaltet werden muss

Voraussetzung sind grundlegende Kenntnisse der gesellschaftliche und staatlichen Organisation: Der Grund- und Menschenrechte, der Gewaltenteilung, des Föderalismus, der Funktionsweise von Parlament, Parteien, Regierung und Interessenverbänden.

Das müsste eigentlich in allgemeinbildenden Schulen bis zur 10 Klasse umfangreich vermittelt werden. Da das überwiegend nicht der Fall ist, müssen wir dieses in der Erwachsenenbildung nachholen – so, wie das auch Gewerkschaften in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit nachholen müssen. Dabei geht es um die Ideengeschichte von der Antike über Hegel, Marx und Kant bis zur Neuzeit – um Moral und Philosophie gleichermaßen wie um Ökonomie, Nationenbildung und Staatspolitik. Es geht um ein Mindestmaß an Weltgeschichte, also die Komplexe von Sklaverei und Kolonialismus. Und es geht um ein Mindestmaß an europäischer und deutscher Geschichte, so auch der beiden Weltkriege, ihrer Ergebnisse, der Schlussfolgerungen daraus und der weiteren historischen Entwicklung.

Darauf aufbauend geht es um die Analyse der Gesellschaft und gesellschaftliche Spaltungen (Ungleichheit, Rassismus, Sexismus, Neoliberalismus, Globalisierung, Sozial-Staat, Öffentlichkeit), um politische Ökonomie und Unterthemen davon (z.B. Industrie, Landwirtschaft, Arbeit und Arbeitszeit, Löhne, Steuern, Sozialabgaben, Verteilung).

In der formalen politischen Bildung gilt der sogenannt Beutelsbacher Konsens, in dem seit den 1970er Jahren drei zentrale didaktische Leitgedanken festgelegt wurden: Überwältigungsverbot, Kontroversität und Schülerorientierung.

Das trifft auch auf spezifische Formen der formalen politischen Bildung in der Ausbildung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, von Polizist:innen und anderen Berufen zu. Offensichtlich gibt es hier erhebliche Defizite.

Es geht bei kritischer und emanzipatorischer politischer Bildung darum, die hinter allen möglichen moralischen, politischen und sozialen Positionen und Erklärungen liegendenökonomischen Interessen zu erkennen.

Emanzipatorische politische Bildung geht von den Teilnehmenden, ihren selbst artikulierten Erfahrungen, Bedürfnissen und Interessen aus und ermächtigt die Teilnehmenden, für diese Interessen selber politisch aktiv zu werden. Sie ist Zweckbildung für Ziele und Aufgaben der politischen Arbeit, der Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen. Unsere politische Bildung kann deshalb nicht auf den Erwerb von fachlichen Kenntnissen wie Kommunalrecht, Arbeitsrecht oder ökonomistisch beschränkt sein oder beliebige Inhalte und Themen aufgreifen.

Dem Parteiprogramm von DIE LINKE ist deshalb das Gedicht von Bertolt Brecht vorangestellt:

Fragen eines lesenden Arbeiter:

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.

Der Entwurf des Wahlprogramms, wie er dem Konvent am 28.11. vorgelegen hat: Wahlprogramm-Entwurf für Programmkonvent

 

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