Was läuft schief bei VW? Über die Unkultur des Schweigens, die Wagenburgmentalität, eine Landesregierung und eine Gewerkschaft, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
Ein Gespräch aus dem Magazin „Hintergrund“ im Herbst 2016 https://www.hintergrund.de/wp-local/archiv.php?issue=2016-4
Der ehemalige VW-Betriebsrat Stephan Krull (geboren 1948) begann im Jahr 1985 als Arbeiter in der Lackiererei im Volkswagen-Werk Wolfsburg. 1990 wurde er in den Betriebsrat gewählt, dem er bis zum Jahr 2006 angehörte. Stephan Krull war Mitglied im Ortsvorstand der IG Metall Wolfsburg und der Tarifkommission bei Volkswagen. Er ist Herausgeber des 2013 im Verlag Ossietzky erschienenen Buches Wolfsburg: 75 Jahre „Stadt des KdF-Wagen“. Wir sprachen mit ihm über die derzeitigen Verwerfungen rund um das Unternehmen und die möglichen Perspektiven für Volkswagen.
Zwei Wochen stand im August die Produktion in mehreren Volkswagen-Standorten still. Grund war ein Boykott zweier Zulieferer – etwas, das man bis dahin kaum für möglich gehalten hätte. Man könnte sagen: ähnlich unglaublich wie der Abgasbetrug, der im vergangenen Jahr bekannt wurde. Was ist eigentlich faul bei Volkswagen?
Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge, und trotzdem gibt es einen inneren Zusammenhang. José Ignacio López, der Einkaufsmanager, den VW im Jahr 1993 von General Motors abgeworben hatte und der VW drei Jahre später im Streit verlassen musste, hat seinerzeit ein Einkaufssystem eingeführt, das darauf beruhte, dass immer der billigste Lieferant den Zuschlag bekommt. Darüber hinaus beinhaltet das System eine quasi automatische Preisreduzierung um 5 Prozent im Jahr. An diesen Vorgaben hat sich nicht allzu viel geändert, López‘ Leute geben nach wie vor den Ton an. Auf der anderen Seite stehen zwei Zulieferer, die erst seit Kurzem zur Prevent-Gruppe gehören – einem sehr verschachtelten Unternehmen: Prevent ist im Besitz einer bosnischen Unternehmerfamilie, die selbst bei Volkswagen in Sarajevo groß geworden ist und nach der Zerschlagung Jugoslawiens zu den Profiteuren der weiteren Entwicklung gehörte. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Prevent ein sehr undurchsichtiges und wahrscheinlich mit böser Absicht sehr unübersichtliches Unternehmen ist. Der Chef der Unternehmensgruppe, Kenan Hastor, hat die beiden Zulieferer, um die es ging – Car Trim und ES Autoguss –, kürzlich erst dazugekauft und ganz offensichtlich instrumentalisiert. Bemerkenswert an der Einigung, die Ende August erzielt wurde, ist, dass sie völlig intransparent ist.
Das ist eine Parallele zu dem im Jahr 2015 bekannt gewordenen Abgasbetrug: Auch da hat das Unternehmen zwar erklärt, Aufklärung leisten zu wollen, allerdings gibt es bis heute keinerlei öffentliche Erklärung, wie es dazu kommen konnte. Ganz im Gegenteil: Im Frühjahr hat das Management erklärt, es gebe zwar einen Aufklärungsstand, den könne man aber nicht öffentlich machen, weil das „unkalkulierbare Risiken“ mit sich bringen würde. In beiden Fällen gibt es offensichtlich ganz viel zu verstecken.
Aber ist VW nicht klar, dass man auf diese Art kein Vertrauen wiederherstellen kann?
Das Management glaubt, in einer eigenen Welt zu leben. Und in dieser „Volkswagen-Welt“ fühlen sie sich als diejenigen, die machen können, was sie für richtig halten. Damit sind sie bisher überwiegend auch ganz gut gefahren. Es gibt zwar ungefähr alle zehn Jahre einen größeren Skandal bei VW, aber das geriet – bislang jedenfalls – immer recht schnell wieder in Vergessenheit. Jetzt ist es tatsächlich erstmals so, dass es am Ende richtig weh tut und sogar existenzbedrohend werden könnte. Es gibt Absatzrückgänge in nicht unerheblichem Umfang, und bislang ist überhaupt keine Trendwende in Sicht. Vor allem ist aber bemerkenswert, dass die Justiz der USA nicht lockerlässt. Das US-Justizministerium geht mittlerweile davon aus, dass VW den Betrug nicht im Übereifer oder irgendwie „versehentlich“, sondern mit krimineller Energie vollzogen hat, und das werden die nicht so ohne Weiteres durchgehen lassen. Die Folgen daraus könnten sich tatsächlich zu einer existenziellen Krise für das Unternehmen auswachsen.
Es fällt auf, dass niemand über die Beschäftigten bei den Zulieferern spricht, die ja auch unter dem Streit und wahrscheinlich mehr noch unter dem Kostendiktat von VW gelitten haben.
Klar, dass die IG Metall hier anders agieren müsste – als Interessenvertretung aller Beschäftigten und nicht nur der gut organisierten Belegschaften in den Stammwerken der großen Hersteller. Die Prevent-Gruppe und ihre Eigentümerfamilie Hastor sind seit vielen Jahrzehnten mit Volkswagen verbandelt. Sie unterhalten sogar gemeinsame Unternehmen – das VW-Werk in Sarajevo gehört zu 58 Prozent Volkswagen und zu 42 Prozent der Hastor-Familie. Eigentlich sitzen die also in einem Boot. Im Zuge des Abgasbetruges kommen nun erhebliche finanzielle Belastungen auf VW zu – Strafzahlungen, Umsatzeinbußen. Das sitzt das Unternehmen nicht einfach aus, das Geld muss irgendwo zusammengekratzt werden. Da wird der Druck auf die Zulieferer natürlich immer stärker. Die Hastor-Gruppe war bislang auch für den Vertrieb für das gesamte Ex-Jugoslawien zuständig, aber im Zuge der jüngsten Sparmaßnahmen – oder sagen wir: der Erschließung neuer Profitquellen – hat VW beschlossen, den Vertrieb jetzt selbst zu übernehmen, genauer der Porsche Holding in Österreich zu übertragen. Denn beim Vertrieb wird fast mehr verdient als bei der Produktion. Ich denke, dass das einer der zentralen Streitpunkte ist. Hastor, der dafür bekannt ist, mit Geschäftspartnern nicht zimperlich umzuspringen, wollte sich vermutlich die Vertriebsrechte nicht nehmen lassen.
Nach Bekanntwerden des Abgasbetruges vor einem Jahr hieß es schnell, andere Hersteller würden „so etwas“ auch machen …
Alle Hersteller schummeln ein bisschen – das ist dem System geschuldet. Das Kraftfahrzeugbundesamt etwa kann den Schadstoffausstoss gar nicht überprüfen, weil die schlicht keine Messgeräte dafür haben. Das ist politisch so gewollt. Die Hersteller messen die Emissionen selbst, in aller Regel auf Prüfständen, und für diese Prüfstandsfahrten werden die Autos eben ein bisschen hergerichtet. Fugen werden nochmal abgeklebt, auf die Reifen wird ein bisschen mehr Luft aufgepumpt usw. So kommen relativ gute Werte heraus, die im Straßenverkehr nie erreicht werden. Wer selbst Auto fährt, kennt das: Da steht, das Auto verbraucht im Stadtverkehr sechs Liter, und man fährt und fährt, und es werden immer acht Liter. Und wenn sich Kunden beschweren, wird erklärt, das liegt an der Fahrweise. Jedenfalls sind die Autofahrer schuld. Diese Art von Schummelei – ob bei Verbrauch oder Emissionswerten – ist branchenüblich.
Bei VW und den USA liegt die Sache noch ein bisschen anders. Die Schadstoffvorgaben sind in den USA deutlich strenger als in Europa. Dort sind die Hersteller offenbar weniger erfolgreich, auf die Vorgaben Einfluss zu nehmen, insbesondere bei Dieselfahrzeugen. Einer der Ausgangspunkte der Fehlentwicklungen bei VW liegt in der Privatisierung des Unternehmens, das bis in die 80er Jahre ja noch ein weitgehend öffentliches war. Ab Anfang der 90er Jahre hat der Familienclan Porsche/Piëch auf undurchsichtige und teils unredliche Weise seinen Einfluss erhöht und sich schließlich die Mehrheit bei Volkswagen gesichert. Der Porsche-Enkel Ferdinand Piëch wurde 1993 Vorstandsvorsitzender und später Aufsichtsratsvorsitzender von VW. Piëch hat in seiner Zeit beschlossen, die Amerikaner „das Dieselfahren zu lehren“. Diesel-PKW haben in den USA bei Weitem nicht den Stellenwert wie in Europa, aber VW hat versucht, das zu ändern, indem man auf Kommando von Piëch „Clean Diesel“ erfunden hat. Das war jedenfalls die Werbestrategie. Fakt war aber, dass die Schadstoffvorgaben in den USA ohne Manipulationen nicht hätten erreicht werden können. Die „Diesel- Offensive“ in den USA ging also völlig an der Realität vorbei. Dazu kommt, dass die USA nicht nur strengere Umweltauflagen haben, sondern dass man aus der Geschichte der letzten Jahrzehnte hätte wissen müssen, dass die Behörden dort auch deutlich strenger bei den Kontrollen sind und viel drastischer auf Mängel an Fahrzeugen reagieren, als es die Europäer tun.
Aber warum haben die trotzdem geglaubt, sie kämen damit durch?
Die USA sind immer noch – neben China – weltweit der wichtigste Automobilmarkt; und dort erfolgreich zu sein, ist sowohl eine wirtschaftliche als auch eine Prestigefrage. Aber abgesehen von der Käfer-Manie der 60er Jahre hat Volkswagen dort noch nie ein glückliches Händchen gehabt. Sie haben es nie geschafft, das für diesen Markt adäquate Modell zu entwickeln, und jetzt wollten sie mit dem Kopf durch die Wand. Sie haben natürlich gehofft, dass es nicht entdeckt wird beziehungsweise dass sie, wenn es herauskommt, es als einen Fehler von irgendwelchen subalternen Ingenieuren hinstellen können. Technisch war es auch sehr versteckt in der Software und so nicht einfach zu decodieren.
Hinzu kommt, dass es dazu keine Unterlagen gibt – was im Übrigen ein großes Problem für die Strafverfolgung darstellt. Es gibt bei VW ein System, dass E-Mails nach zwei Jahren gelöscht werden und dass zu bestimmten Vorgängen ab Abteilungsleiterebene aufwärts keine Aufzeichnungen gemacht werden dürfen. Für den Fall der Entdeckung dieses Betruges ist also insofern vorgebeugt worden, als man die Entstehungsgeschichte und die Verantwortlichkeiten nicht mehr nachvollziehen kann.
Aber es muss doch im Unternehmen Leute gegeben haben, die diesen Kurs für riskant hielten. Warum haben die alle nichts gesagt?
Natürlich haben das Leute gewusst, wenngleich der Kreis sicher nicht sehr groß war. Es gibt bei VW aber eine Unkultur des Schweigens – über so etwas wird einfach nicht geredet. Nach Aufdeckung des Betruges sind zwei Ingenieure befragt worden, die in etwa ausgesagt haben: Es gab einen Zielkonflikt zwischen Umweltauflagen und Kostenreduzierung, und wir konnten das eben nicht anders lösen als durch diese Manipulation. Ich will damit nicht sagen, dass die beiden das zu verantworten haben – das haben andere, die deutlich weiter oben in der Hierarchie sitzen. Aber es ist ein gutes Beispiel dafür, dass man bei VW zu seinem Vorgesetzten nicht sagen kann, es geht nicht. Bei VW gilt: Technisch ist alles möglich. Und es ist ja dann auch technisch gelöst worden – nur eben auf betrügerische Art und Weise.
Es hat sich aber auch niemand an den Betriebsrat oder irgendeine andere Stelle gewandt …
Es hat sich keiner der damit befassten Beschäftigten an den Betriebsrat gerichtet, auch nicht an den Ombudsmann des Unternehmens oder die Staatsanwaltschaft. Auch das ist Ausdruck dieser Unkultur.
Wie ist der Stand der Aufarbeitung des Abgasbetruges?
Bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig laufen Ermittlungsverfahren gegen etwa zwanzig Personen, darunter den ehemaligen Finanzchef und heutigen Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch und den aktuellen VW-Markenchef Herbert Diess. Das ist ein Hinweis darauf, dass dieser Betrug tatsächlich in den obersten Etagen, also im Vorstand, bekannt gewesen sein muss. Das ist auch nicht verwunderlich, denn die Betrugssoftware ist ja in elf Millionen Fahrzeuge – nicht nur der Marke Volkswagen, sondern auch Audi und Porsche – eingebaut worden. Und bei der Detailverliebtheit und Genauigkeit, mit der die an solche Probleme immer herangehen, ging das nicht an der Chefetage vorbei.
Die andere Schiene ist die parlamentarische Aufarbeitung, die die Rolle des Bundesverkehrsministeriums und des Kraftfahrzeugbundesamtes klären soll. Der Untersuchungsausschuss, der sich gerade erst konstituiert hat, muss allerdings bis zur Bundestagswahl im nächsten Herbst seine Arbeit abgeschlossen haben. Das wird zeitlich sehr eng, vor allem weil man nicht erwarten darf, dass der Verkehrsminister die Aufklärung unterstützt. Hier erwarte ich nicht allzu viel. Wenn es gut geht, kann der Mantel des Schweigens ein wenig gelüftet werden.
Wie beurteilen Sie die Rolle des Landes Niedersachsen, das ja immerhin 20 Prozent an der Volkswagen AG hält?
Ich finde, dass die beiden Aufsichtsratsmitglieder des Landes – Ministerpräsident Stephan Weil und Wirtschaftsminister Olaf Lies – ihren Aufgaben nicht gerecht werden. Spätestens der Abgasbetrug hat deutlich gemacht, dass das System Auto als individuelles Fortbewegungsmittel überlebt ist. Die globalen Mobilitätsbedürfnisse sind heute völlig andere, als anderthalb Tonnen Stahl, jede Menge Elektronik und vier Gummireifen durch die Gegend zu rollen. Die Möglichkeiten, so etwas den gesetzlichen Vorgaben entsprechend herzustellen und sich damit fortzubewegen, werden schlicht immer geringer. In Deutschland, wo es keine wirklich großen Städte gibt, leuchtet das vielleicht noch nicht ein. Aber man muss sich das global anschauen, denn Unternehmen wie VW agieren global. Mega-Citys wie São Paulo, Mexiko-Stadt, Neu-Delhi, Peking, Schanghai ersticken im Individualmotorverkehr. In Peking werden heute gar keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mehr zugelassen. Bereits zugelassene Fahrzeuge dürfen an bestimmten Tagen nicht mehr fahren – das wird anhand der Zahlenkombination auf den Nummernschildern geregelt, ähnlich wie es das etwa in Mexiko-Stadt schon seit Jahrzehnten gibt. Das Ende ist absolut sichtbar. Eigentlich müsste eine Landesregierung, die Interesse an der langfristigen Stabilität von Volkswagen hat, auf einen Neustart drängen. Mit den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat hätte man elf oder zwölf von zwanzig Stimmen – damit könnte man das zumindest initiieren. Das ist konfliktträchtig, völlig klar, und würde viel Geld kosten. Nur: Wenn man es nicht macht, crasht es irgendwann richtig.
Das wäre eine grundlegende Wende. Ist das nicht eine Nummer zu groß?
Das Problem ist in der Tat sehr groß, und das macht es auch schwierig, es anzupacken. Nur: Es wird immer größer. Es ist so groß, dass es durch ein einzelnes Unternehmen nicht mehr zu lösen ist. Das ist auch ein Problem meiner Argumentation. Wenn Volkswagen beginnen würde, das Ende der Massenproduktion von Pkw für den privaten Konsum einzuleiten, würden natürlich viele andere sagen: Prima, in die Lücke springen wir rein. Natürlich geht das nur mit einer gesellschaftlichen Veränderung. Die Frage ist aber, wie eine solche Veränderung zustande kommen kann und eingeleitet wird. Meiner Meinung nach wäre der Abgasbetrug eine gute Gelegenheit, ein Weckruf, jetzt etwas zu ändern – nicht nur auf das Unternehmen, sondern auch auf die Gesellschaft bezogen. Natürlich kann man das nicht abrupt tun, aber wenn man nicht damit anfängt, passiert es eben auch nicht. Zugleich sind die strukturellen Voraussetzungen, einen Kurswechsel einzuleiten, bei VW günstiger als bei anderen – gerade wegen der öffentlichen Beteiligung und wegen der starken Mitbestimmung. Und wenn ein Unternehmen mit einer derart starken Marktstellung – VW, General Motors und Toyota, das sind die großen drei Weltmarktführer – eine solche Wende einleiten würde, könnte das ein Signal für andere sein.
Werden solche Diskussionen auch in der IG Metall geführt?
Jedenfalls nicht konsequent und nicht öffentlich, da war die IG Metall Ende der 80er Jahre mit ihrem Programm „Auto, Umwelt und Verkehr“ schon mal viel weiter. Die IG Metall hat heute noch nicht den Mut dazu, auch weil die Betriebsräte der Automobilindustrie eine sehr dominante Rolle spielen. Von dort werden keine Impulse zur Veränderung kommen, einfach weil ein sehr enges und verkürztes Verständnis von den Interessen der Beschäftigten vorherrscht. Deshalb ist klar, dass die IG Metall in dieser Frage – sagen wir – Flankenschutz braucht: von Wissenschaftlern, Umweltverbänden usw. Das geht nur mit einer breiten gesellschaftlichen Debatte, die in erster Linie von anderen gesellschaftlichen Gruppen ausgehen muss.
Es muss doch aber auch bei VW kritische Geister geben, auch wenn man sie von außen nicht wahrnimmt.
Das ist ein ziemlich wunder Punkt. Die „Volkswagen-Welt“ ist eine Wagenburg. Das findet seinen Ausdruck in solchen Internet- oder Facebook-Seiten wie: „Wir halten zu Volkswagen, egal was passiert.“ Kritik kommt in dieser Bewusstseinslage nicht vor. In Bezug auf die weit überwiegende Mehrheit der Belegschaft entspricht dieses Bild auch der Realität. Befeuert wird das durch die IG Metall. Nach Bekanntwerden des Abgasbetruges hat die Gewerkschaft in Wolfsburg 10 000 T-Shirts mit der Aufschrift „IG Metall und Volkswagen: Ein Team. Eine Familie“ verteilt.
Nun ja: Die Beschäftigten sind auf ihre Arbeit angewiesen, und VW zahlt relativ gut. Man hat also ein bisschen was zu verlieren. Das andere ist die unselige Tradition der „Betriebsgemeinschaft“ bei Volkswagen, die bis in die Gründerzeit als nationalsozialistischer Musterbetrieb zurückgeht. Dennoch gibt es natürlich Kolleginnen und Kollegen, die ihren eigenen Kopf benutzen, die Fragen stellen und wissen, dass da einiges nicht rundläuft. Es gibt Leute, denen unwohl ist, wenn sie mitkriegen, dass der gesamte Mailverkehr nach zwei Jahren gelöscht wird. Aber man redet nicht darüber. Ich habe zu meiner Zeit im Betriebsrat – das ist nun zehn Jahre her – im Unternehmen nur kleine Zellen von kritischem Potenzial wahrgenommen. Ich weiß, dass es innerbetrieblich fast unmöglich ist, kritische Positionen zu formulieren. Und das gilt selbst für den öffentlichen Raum, ja weitgehend für die Presse, in den Städten, wo VW Produktionsstandorte hat. Das System ist zu verkrustet, um sich noch zu erneuern. Veränderungen können nur von außen kommen. Man müsste darüber nachdenken, ob man dem Porsche/Piëch-Clan und den Scheichs von Katar ein Unternehmen von so enormer volkswirtschaftlicher Bedeutung überlassen kann oder ob man nicht Artikel 14 des Grundgesetzes – Sozialverpflichtung des Eigentums – anwenden müsste. Das ist mein Argument, wenn ich sage: Arbeitnehmervertreter und Landesregierung haben eine Mehrheit im Aufsichtsrat.
Das Gespräch führte Jörn Boewe
Jörn Boewe arbeitet als freier Journalist in Berlin. Gemeinsam mit Johannes Schulten betreibt er das Journalistenbüro work in progress. Boewe ist Koautor der Bücher ORGANIZING. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung (Hrsg. Detlef Wetzel, 2013) und Arbeitsunrecht. Anklagen und Alternativen (Hrsg. Werner Rügemer, 2009). Er veröffentlicht regelmäßig im Hintergrund sowie u. a. in Freitag, ver.di publik, junge Welt und taz.