Vier Millionen Menschen sind erwerbslos, drei Millionen junge Leute sind ohne jede berufliche Qualifikation, große Konzerne kündigen Massenentlassungen und Werksschließungen an. Arbeiterinnen und Arbeiter ab 50. Lebensjahr sind besonders davon betroffen. Und der Regierung von Merz und Klingbeil, von CDU und SPD fällt nichts anderes ein, als die Arbeitszeit zu verlängern. Der CDU-General Linnemann will, dass die Rentner wieder an die Arbeit kommen und die IG Metall bläst den Kampf um die Vier-Tage-Woche ab. Es ist komplett verrückt.
Das nd – Die Woche https://nd.digital/editions/nd.DieWoche/2025-05-30 hat einen Schwerpunkt auf dieses Thema gelegt und mehrere Beiträge dazu veröffentlicht:
Arbeitszeit ist Lebenszeit – einen Text von mir.
Taro Tatura beschreibt, dass es um viel mehr geht als den 8-Stunden-Tag.
Aufschlussreiche und kommentierte Diagramme von Eva Roth (für die Diagramme müsst ihr euch das nd selber anschauen) und
Stephan Kaufmann benennt das alles als Plädoyer für eine radikale Freizeitverkürzung.
Hier habe ich diese Texte als Service zusammengestellt, damit die Debatte problemgerecht geführt werden kann.
Dem nd ist zu danken. Der ganze Vorgang macht deutlich, dass wir eine solche linke Zeitung wie das nd unbedingt benötigen. Also untersützt das nd – am besten mit einem Abo.
Und festzuhalten ist, dass Die LINKE die einzige parlamentarische Kraft ist, die sich gegen diesen Wahnsinn und für gutes Leben für alle stellt. Sie verdient es, darin bestärkt und insgesamt gestärkt zu werden.
Schließlich eine Leseempfehlung: »Weniger arbeiten – mehr leben; die neue Aktualität von Arbeitszeitverkürzung« (VSA), https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/weniger-arbeiten-mehr-leben/
Arbeitszeit ist Lebenszeit!
Verlängerte Arbeitstage sind ein Angriff auf die Selbstbestimmung. Die Gewerkschaften dürfen hier nicht zurückweichen
Die Zeichen standen auf Arbeitszeitverkürzung, im Jahr 2024 war die Vier-Tage-Woche in aller Munde. Eine neue Runde im Jahrhundertkampf um Humanisierung der Arbeit, um Emanzipation von unselbständiger Arbeit, um Geschlechtergerechtigkeit und demokratische Beteiligung. Nach Ausrufung der »Zeitenwende« dreht sich der Wind. Im Kampf dagegen sind das Kapital, die Regierung und große Medien nicht zimperlich. Tägliche Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden wären erforderlich, mit der Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance sei der Wohlstand nicht haltbar. Als der CDU-Generalsekretär in einer Talkrunde gefragt wird, wer länger arbeiten soll, fällt ihm außer Rentnern nicht viel ein. Und, so Linnemann, der Ausbau von Infrastruktur für Kinderbetreuung und Pflege könne zu einer höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen führen.
Was aber tun, wenn die Wirtschaft nicht wächst – und die industrielle Produktion nicht unendlich wachsen kann? Die IG Metall-Vorsitzende Christiane Benner sagt: »Es sind die Arbeitgeber, die deshalb die Arbeitszeit verkürzen – auf Kosten der Beschäftigten«, um ihrerseits der Forderung nach der Vier-Tage-Woche jetzt eine Absage zu erteilen. In vielen Ländern erleben wir Angriffe auf Gewerkschaften, auf das Leben und die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter. Wegducken ist keine erfolgreiche Strategie, wenn der Acht-Stunden-Tag angegriffen wird.
Ein Gewinnerthema: die Offensive gegen den Ausschluss von Millionen Menschen aus der Gesellschaft, für ein gutes Leben für jede und jeden, equal pay und equal time, und für einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen.
Was ist der richtige Weg? Individuelle Arbeitszeitgestaltung entlang der Lebensphasen oder kollektive gesetzliche und tarifliche Regelungen? Wie stark ist der Einzelne gegenüber dem Arbeitgeber? Alle, die es nicht mehr aushalten oder sich irgendwie leisten können, reduzieren ihre Arbeitszeit. Die Segmentierung in Erwerbslose, Minijobs, unfreiwillige Teilzeit und Vollzeit mit vielen Überstunden führt zur Spaltung der Arbeiter*innenklasse. Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich zumindest für die unteren und mittleren Entgeltgruppen würde die vom Kapital organisierte vielfache Spaltung eindämmen. Zeit ohne Fremdbestimmung führt zum gemeinsamen Zeitwohlstand von Eltern mit Kindern, zu gemeinsamen sportlichen Aktivitäten und zur gemeinsamen Care-Arbeit von Frauen und Männern.
Das Einfache, das schwer zu machen ist
Der Dauerkampf um die Arbeitszeit ist ein machtpolitischer Konflikt zweier Ökonomien: Rationalität des Gemeinwesens oder betriebswirtschaftliche Rationalität des Einzelunternehmens (Oskar Negt). Gewerkschaften müssen im entfesselten Kapitalismus die internationale Zusammenarbeit und nachhaltiges Wirtschaften forcieren. Das »Normalarbeitsverhältnis« der männlichen, überlangen Lohnarbeit als Basis für überkommene Familienbilder ist Vergangenheit. Dauer und Lage der Arbeitszeit sind Kernelemente guter Arbeit. Intensivierung der Arbeit und Produktivitätsentwicklung erfordern verkürzte Arbeitszeiten, möglichst keine Nachtarbeit. Das ist der Geist des Arbeitszeitgesetzes, in dessen Paragraf 1 es unter anderem heißt: »Zweck des Gesetzes ist es, den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten.« Das, was eine Binse gewerkschaftlicher Tarifpolitik und des gesellschaftspolitischen Mandats sein müsste, übersetzt sich wenig in gewerkschaftliche Praxis. An die harten, letztlich erfolgreichen Kämpfe um den Acht-Stunden-Tag, um den freien Samstag und um die 35-Stunden-Woche mit der gesellschaftlich mobilisierenden Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung mögen Gewerkschaften gegenwärtig nicht anknüpfen. Vielfach ist beschrieben, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit arbeitsorganisatorisch keine große Hürde darstellt. Große Unternehmen können mit 100 Arbeitszeitmodellen umgehen, kleine Betriebe dann mit zehn Modellen und andere mit vielen individuellen Umsetzungsvereinbarungen. Alle Erfahrungen zeigen, dass die Kolleginnen und Kollegen den Luxus von mehr freier Zeit nicht mehr missen wollen.
Im Kern geht es also um Macht. Das beschreibt Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall im »Jahrbuch Gute Arbeit« (2017) klar: »Wer über die eigene Zeit verfügt, hält den Schlüssel für eine autonome, eine selbstbestimmte Lebensführung in der Hand. Wer über die Zeit anderer verfügt, übt Fremdherrschaft aus.« Für die Gewerkschaften ist Arbeitszeitverkürzungen programmatisch: Kurze Vollzeit als neuer Standard und positives Narrativ, die gesetzliche Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden – eine Aufgabe auch für Die Linke und ihre Bundestagsfraktion. Das ist ein Gewinnerthema: die Offensive gegen den Ausschluss von Millionen Menschen aus der Gesellschaft, für ein gutes Leben für jede und jeden, equal pay und equal time und, als Konvergenzpunkt zur Klimabewegung, für einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen. Durchsetzbar in Allianzen wie beim Kampf um die 35-Stunden-Woche: junge Eltern, feministische- und Care-Bewegung, Gewerkschaften, Sozialverbände, Umwelt- und Klimabewegung, Wissenschaftler*innen, Kirchen, Mediziner*innen und Sportvereine.
Wenn die Gewerkschaften jedoch zurückweichen, wird das Kapital gewinnen. (Stephan Krull)
Taro Tatura ist Gewerkschafter und Vorsitzender des Fachbereichs B beim ver.di-Landesbezirk Hamburg und schreibt über die Verlängerung der Arbeitszeiten:
Viel schlimmer!
Es ist kein Angriff auf den Acht-Stunden-Tag! Es ist viel schlimmer! Der geplante Angriff aufs Arbeitszeitgesetz durch Union und SPD ist derzeit in aller Munde, und während »die Wirtschaft« den Vorschlag bejubelt, hagelt es von Gewerkschaften und anderen progressiven Kräften Kritik. Doch was wird kritisiert? Es heißt, die Bundesregierung plane, den Acht-Stunden-Tag abzuschaffen. Aber stimmt das? Kurzfassung: Nein! Langfassung: Im Arbeitszeitgesetz steht zwar etwas von acht Stunden und dass zehn Stunden nur im Ausnahmefall mit späterem Ausgleich möglich sind, doch die Debatte übersieht eins: Die erkämpfte Normalität der Fünf-Tage-Woche hat es nie ins Arbeitszeitgesetz geschafft! Die täglichen acht Stunden beruhen darauf, dass diese an sechs Tagen pro Woche gearbeitet werden. Dadurch kommen wir auf die wöchentliche Grenze von 48 Stunden. In der heutigen Normalität sind zum Glück eher 40 Stunden an fünf Tagen die Norm. Es ist also schon jetzt möglich zum Beispiel fünf Tage lang je 9,6 Stunden zu arbeiten. Der Ausgleich, den das Gesetz fordert, kommt ganz automatisch dadurch zustande, dass am sechsten Tag nicht gearbeitet wird. Was will die Bundesregierung nun ändern? Man will im Einklang mit der europäischen Arbeitszeitrichtlinie, eine wöchentliche statt eine tägliche Höchstarbeitszeit festlegen.
Es werden also die zehn Stunden täglicher Höchstarbeitszeit angegriffen, nicht die acht Stunden. Das könnte man nun kleinlich nennen, doch die Tragweite dieser Veränderung ist größer, als es auf den ersten Blick scheint.
Der designierte Generalsekretär der SPD Tim Klüssendorf sagte im »Bericht aus Berlin«, dass es um Flexibilität gehe, die sich auch die Arbeitnehmer*innen wünschen, um zum Beispiel 4 x 10 Stunden zu arbeiten und dann einen freien Freitag zu haben. Da stellt sich nun allerdings die Frage, ob Klüssendorf das Arbeitszeitgesetz nicht kennt oder ob er die Bürger*innen gezielt zu täuschen versucht. Denn genau sein Beispiel ist schon jetzt möglich. Man will also mit Fällen, für die eine Änderung gar nicht notwendig ist, Akzeptanz für das Vorhaben schaffen.
Doch nicht nur die Regierungsparteien täuschen die öffentliche Meinung, sondern auch wir als Gewerkschafter*innen müssen selbstkritisch überlegen, ob es sinnvoll ist, romantisch über den Angriff auf die erkämpften acht Stunden zu sprechen, wenn es diese seit den erkämpften, aber gesetzlich nicht festgelegten fünf Tagen gar nicht gibt. Für viele Kolleg*innen macht es einen Unterschied, ob es darum geht, auch mal neun oder zehn Stunden zu arbeiten – oder eben 13! Es geht hier eben nicht um die Flexibilität, einmal zwei Stunden mehr zu arbeiten, sondern im Zweifel fünf und auch die nicht nur einmalig.
Warum 13? Ganz einfach: Auch die europäische Arbeitszeitrichtlinie kennt durch die Hintertür eine maximale tägliche Arbeitszeit. Zwar ist diese nicht als solche definiert, aber es sind elf arbeitsfreie Stunden pro Tag festgelegt und 24 minus elf sind 13.
Die Arbeitgeberseite hat ein großes Interesse an den neuen Möglichkeiten. Zum Beispiel, wenn bei Arbeitsprozessen zu Beginn und Ende der Arbeit unproduktive Rüstzeiten unumgänglich sind. Wenn also auf einer Baustelle Material und Maschinen je 30 Minuten lang bereitgestellt oder weggeräumt und gereinigt werden müssen, ist es deutlich attraktiver, wenn dazwischen maximal zwölf statt maximal neun Stunden produktiv gearbeitet werden kann. Oder im Einzelhandel: Wenn es plötzlich möglich wird, die komplette Öffnungszeit mit einer statt mit zwei Schichten abzudecken. Ein Drei-Schicht-Betrieb, in dem es nun möglich wird, 24 Stunden mit zwei statt mit drei Schichten abzudecken. Unter Einführung von Regelungen zu Saisonalität ist das Ganze sogar mit einer Fünftage-Woche denkbar. Denken wir an die Gastronomie: zwei Monate lang fünf Tage je 13 Stunden und weitere zwei Monate lang, in denen weniger Nachfrage herrscht, fünf Tage à 6,2 Stunden. So wären trotz einer 65-Stunden-Woche innerhalb der zwei Monate Hauptsaison im Schnitt die 48 Stunden pro Woche sichergestellt. Selbst wenn die 13 Stunden nicht vorgeplant genutzt werden, wird in Kombination mit der geplanten Steuerbefreiung von Mehrarbeitszuschlägen, gerade im Niedriglohnsektor, eine über das gesunde Maß hinausgehende Ausbeutung befördert.
Alle denkbaren Optionen klingen nicht nach einer Flexibilisierung im Sinne der Beschäftigten, sondern nach einem massiven Angriff, den wir auch erkennbar als solchen bezeichnen und unseren Kolleg:innen vermitteln müssen! Spätestens mit diesem Vorstoß muss Schluss sein mit falscher Nachsichtigkeit der Gewerkschaften gegenüber der ehemals sozialdemokratischen SPD. Es braucht jetzt massive Gegenwehr an allen Stellen. Ob im Betrieb, dem Parlament oder auf der Straße – diesen Angriff darf unsere Klasse nicht unbeantwortet lassen. Jede und jeder Abgeordnete, die oder der für diese Gesetzesänderung stimmt, ist unser Gegner.
Taro Tatura ist Gewerkschafter und Vorsitzender des Fachbereichs B beim ver.di-Landesbezirk Hamburg.
Eva Roth:
Weniger Arbeit, mehr Wohlstand?
Viele Vollzeitbeschäftigte wollen kürzer arbeiten. Mehr freie Zeit steigert nicht das Bruttoinlandsprodukt, ist für die Menschen aber wertvoll
Politiker und Ökonomen fordern derzeit wieder längere Arbeitszeiten. Das widerspricht jedoch den Bedürfnissen vieler Menschen. Anlässlich der wiederaufgeflammten Debatte haben wir zusammengestellt, wie sich die tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeiten entwickelt haben. Und wir fragen nach dem Wert von freier Zeit.
Zeit für Wohlstand
Kanzler Friedrich Merz fordert, dass die Menschen mehr arbeiten, damit der »Wohlstand dieses Landes« erhalten bleibe. Dagegen wünschen sich insbesondere Vollzeitbeschäftigte kürzere Arbeitszeiten, und zwar schon seit vielen Jahren. Das zeigen Befragungen des sozio-oekonomischen Panels (Soep), die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bereits 2023 für eine Studie ausgewertet hat.
Im Jahr 2021 wollten Frauen mit Vollzeitjob im Schnitt rund sechs Stunden pro Woche weniger arbeiten und Männer 5,5 Stunden weniger. Und zwar auch dann, wenn das Gehalt entsprechend sinkt. Mehr Zeit jenseits des Jobs ist für viele demnach so wertvoll, dass sie dafür etwas weniger materiellen Wohlstand akzeptieren würden.
»Zeitwohlstand ist eine eigene Form von Wohlstand«, sagt Jürgen Rinderspacher, Zeitforscher an der Universität Münster, »nd.DieWoche«. Zum Zeitwohlstand gehöre zunächst einmal genügend Zeit jenseits der Erwerbsarbeit sowie ausreichend selbstbestimmte Zeit. Wichtig sei auch, dass Menschen gemeinsame Zeit verbringen können, etwa am Wochenende, und dass die Erwerbsarbeit nicht so verdichtet ist, dass man die Arbeitszeit als Lebenszeit im Grunde abschreiben kann.
Viele Beschäftigte wollen nun mehr Zeit jenseits des Jobs. Angesichts der zunehmenden Verdichtung der Arbeit sei eine generelle Arbeitszeitverkürzung, die auf eine kürzere und gesunde Vollzeit mit 30 Wochenstunden abzielt, nur angemessen, schrieben Ökonom*innen der Arbeitskammer Wien schon vor zwei Jahren. Denn kürzere Arbeitszeiten tragen zum Wohlstand der Menschen bei, betont der Wirtschaftswissenschaftler Daniel Haim von der AK Wien.
Insbesondere Minijobber*innen wollen hingegen im Schnitt länger arbeiten. Schaut man sich alle Beschäftigten zusammen an, wünschen sich die Menschen im Mittel jedoch kürzere Arbeitszeiten.
In der Soep-Erhebung lautete die konkrete Frage: »Wenn Sie den Umfang Ihrer Arbeitszeit selbst wählen könnten und dabei berücksichtigen, dass sich Ihr Verdienst entsprechend der Arbeitszeit ändern würde: Wie viele Stunden in der Woche würden Sie dann am liebsten arbeiten?«
Betrachtet man alle Beschäftigten zusammen, dann ist die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf seit den 1990er Jahren gesunken, um mehr als zehn Prozent. Dies liegt zunächst einmal daran, dass heute viel mehr Menschen in Teilzeit arbeiten. Seit einiger Zeit geht indes auch die Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten zurück. Ein wichtiger Grund: Die Leute machen weniger Überstunden, und Arbeitszeitkonten werden abgebaut. Manchmal können Beschäftigte selbst darüber entscheiden. Oft ist jedoch wohl eher die Auftragslage der Unternehmen ausschlaggebend dafür, ob die Leute Mehrarbeit leisten oder Arbeitszeitkonten abbauen.
Das gesamte Arbeitsvolumen in Deutschland ist in den vergangenen 20 Jahren stark gewachsen. Im vorigen Jahr haben alle Beschäftigten zusammen so viel gearbeitet wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Und das, obwohl die Arbeitszeit pro Kopf gesunken ist. Möglich war dies, weil hierzulande viel mehr Menschen als früher erwerbstätig sind, insbesondere Frauen und auch Ältere. Zudem arbeiten mehr Migrant*innen als früher in Deutschland, in Pflegeeinrichtungen, Fabriken und Büros. Anstatt jetzt noch mehr Arbeit zu fordern, fragen inzwischen auch manche Ökonom*innen: Welche Arbeit ist wichtig und was kann man lassen?
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in der politischen Debatte eine enorm wichtige Kenngröße. Seit der Wiedervereinigung ist das BIP stark gestiegen, zuletzt ging es etwas zurück. Ein zentrales politisches Ziel ist nun, dass die Wirtschaft wieder wächst, Klimawandel hin oder her. Auch deswegen wird Mehrarbeit gefordert: Sie soll dem Wachstum dienen. Implizit wird dabei ein steigendes Bruttoinlandsprodukt mit mehr Wohlstand gleichgesetzt. Dabei sagt das BIP nichts aus über die Verteilung des Wohlstands. Und Zeitwohlstand in Form von selbstbestimmter Zeit jenseits der Erwerbsarbeit spielt hier gar keine Rolle.
Stephan Kaufmann:
Angetreten zum Dienst am Wachstum
Bei der Forderung nach mehr Arbeit geht es um mehr als bloß um Fachkräftemangel

Kein Platz für Faulheit: In der vollautomatisierten Fabrik gibt es keine lästige Work-Life-Balance. picture alliance/dpa/Belga | Nicolas Maeterlinck
In der Bevölkerung ist die Regierungskoalition mäßig beliebt. Gleichzeitig sind die Regierenden äußerst unzufrieden mit der Bevölkerung – denn sie arbeite zu wenig. »Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können«, mahnt Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und fordert eine »gewaltige Kraftanstrengung«. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat gar »den Eindruck, dass es nicht mehr um Work-Life-Balance geht, sondern um Life-Life-Balance«. Zu viel Leben, zu wenig Arbeit, so die Diagnose. Bleibt die Frage: Wozu die ganze Schufterei?
Weniger gearbeitet als früher wird in Deutschland nicht. Gesamtwirtschaftlich ist das Arbeitsvolumen pro Kopf der Bevölkerung seit 30 Jahren in etwa konstant, errechnet die Uni Duisburg, »es gab also keine gesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung«. Geschrumpft ist zwar nicht das Arbeitsvolumen, aber das Wirtschaftswachstum. Und legt die Wirtschaftsleistung nicht zu, ist laut Merz nicht nur »unser Wohlstand« bedroht, sondern damit auch die Kriegstüchtigkeit des Landes. Die Deutsche Bank sekundiert: »Ein wirtschaftlich stagnierendes Land wird nicht in der Lage sein, nachhaltig in seine Verteidigung zu investieren.«
Plädoyer für Freizeitverkürzung
Daher plädieren Ökonom*innen nun für eine allgemeine Freizeitverkürzung: Clemens Fuest, Chef des Ifo-Instituts, wirbt für die Streichung eines Feiertages. Sein Kollege Moritz Schularick vom Institut für Weltwirtschaft kann sogar auf zwei Feiertage verzichten. Ältere Menschen sollen länger arbeiten und Arbeitslose mit schärferen Sanktionen in den Arbeitsmarkt gedrückt werden. Insbesondere teilzeitarbeitenden Müttern wird der Weg in die Vollzeit geebnet und damit die Doppelbelastung von Beruf und Familie erträglicher gemacht. »Auch das Arbeitsrecht steht einem dynamischeren Arbeitsmarkt im Weg«, rügt die Deutsche Bank, hier würden »Lockerungen im Kündigungsschutz und Einschränkungen bei der Kurzarbeit« helfen. Die Auflösung des Acht-Stunden-Tages steht bereits im Koalitionsprogramm. Wachstumszwang bedeutet Arbeitszwang.
Die Parole »Mehr Arbeit!« allerdings scheint nicht so recht zum Problem der deutschen Wirtschaft zu passen. Denn aktuell geht die Gefahr für das Wachstum laut Ökonom*innen nicht von der Faulheit der Deutschen aus, auch nicht vom Mangel an Pflegekräften oder Kinderbetreuer*innen, sondern vom Weltmarkt. Sorgenkind ist das Verarbeitende Gewerbe. »Deutschlands Wirtschaftswachstum hängt in höherem Maße an der globalen Nachfrage nach Industriegütern«, erklärt die Deutsche Bank.
»Arbeit war schon immer teuer in Deutschland. Aber angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung drohen weitere Steigerungen der Arbeitskosten.«Deka-Bank
Und an dieser Nachfrage herrscht Mangel: Die globale Konkurrenz verschärft sich, China ist zum Konkurrenten deutscher Industriegüter geworden, die USA verschließen mit Zöllen ihren Markt. In der Folge »leidet die deutsche Industrie unter einer schwachen Nachfrage und dem zunehmenden internationalen Wettbewerbsdruck«, erklärt das Ifo. Zuletzt klagten 43 Prozent aller deutschen Maschinenbauer über Auftragsmangel, und Autofabriken arbeiten mit halber Kraft. Es herrscht Überproduktion. Kurz: Gemessen an der zahlungsfähigen Nachfrage wird eher zu viel gearbeitet und hergestellt. Jedes dritte deutsche Unternehmen plant 2025 Stellenabbau.
Dessen ungeachtet fordern Politik und Unternehmen mehr Arbeit. Diese Forderung speist sich allerdings nicht aus einem Mangel an Gütern. Sondern aus der Sorge, dass die Lohnabhängigen für die Unternehmen andernfalls zu kostspielig werden könnten. »Arbeit war in Deutschland schon immer teuer«, erklärt die Deka-Bank, »aber angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung drohen weitere Arbeitskostensteigerungen.« Um Arbeit tendenziell zu verbilligen, soll daher mehr Arbeitskraft verfügbar gemacht werden: längere Lebensarbeitszeit, Teilzeit zu Vollzeit, Anwerbung von Lohnabhängigen aus dem Ausland und mehr Druck auf inländische Arbeitslose. Der angepeilte Ertrag: Das höhere Arbeitsangebot drückt tendenziell auf den Lohn, was wiederum die Bereitschaft der Menschen stärkt, mehr und länger zu arbeiten.
Dazu kommt die Verbilligung der Arbeitskräfte durch die Abschaffung von Feier- und Urlaubstagen, durch eine Flexibilisierung der täglichen Maximalarbeitszeit, durch die Deckelung der Lohnnebenkosten und in der Folge der Sozialleistungen. Wurden Hartz-Reformen und die Agenda 2010 im Jahr 2003 noch mit der hohen Arbeitslosigkeit begründet, so gilt heute die geringe Arbeitslosigkeit als Grund für Sparsamkeit. »Die Merz-Agenda könnte einen kräftigen Schuss der Agenda 2010 von Altkanzler Gerhard Schröder gebrauchen«, tönt die »Bild-Zeitung«.
Der Mobilisierung zusätzlicher Arbeitskraft dient auch die Senkung des Bürokratieaufwandes – immerhin verbringen laut Bank KfW die Beschäftigten im deutschen Mittelstand beinahe sieben Prozent ihrer Wochenarbeitszeit mit der Erfüllung gesetzlicher Vorgaben. Daneben dringt die Politik vor allem auf die Erhöhung der Produktivität der Arbeitenden, sie sollen den Unternehmen pro Stunde und Tag mehr Umsatz und Ertrag generieren. »Unser Wohlstand, unsere sozialen Sicherungssysteme, aber auch die Funktionsfähigkeit unseres Landes beruhen darauf, dass wir produktiv sind«, sagte Linnemann.
In der Parole »Mehr Arbeit« steckt also die Forderung an die Lohnabhängigen, für die Unternehmen rentabler zu werden, ihr Kosten-Ertrags-Verhältnis zu optimieren. Darin sieht die Deutsche Bank die »vielleicht letzte Chance, Deutschlands über Jahrzehnte hinweg hart erkämpften Wohlstand für zukünftige Generationen zu sichern«. Am »hart erkämpft« ist erkennbar, dass Deutschland hier gegen andere angeht – gegen andere Standorte, die das gleiche Ziel mit den gleichen Methoden verfolgen.
Zum Beispiel Frankreich: »Wir haben zu viele junge Menschen, die nur langsam in den Arbeitsmarkt eintreten«, klagt Frankreichs »Superminister« Éric Lombard, »wir haben zu viele ältere Menschen, die zu früh ausscheiden. Und wir haben etwas mehr Urlaub und Fehlzeiten als Deutschland. Zudem ist der Industrieanteil an unserer Wirtschaftsleistung unzureichend.« Oder die USA: Dort plant Präsident Donald Trump heftige Sozialkürzungen und verfolgt mit seiner Zollpolitik die Verlagerung von Industriejobs aus dem Ausland, was die US-Autogewerkschaft UAW lobt: »Aggressive Maßnahmen«, seien nötig, »um Arbeitsplätze in der Autoindustrie zurückzubringen«. Das wiederum beklagt Kanadas Premierminister Mark Carney als »direkten Angriff auf die kanadischen Arbeiter«.
Was sich in der Verteidigung heimischer Arbeitsplätze gegen das Ausland ausdrückt ist die Tatsache, dass die Regierenden in der Standortkonkurrenz ihre nationalen Arbeitsmannschaften gegeneinander antreten lassen, wobei jeder Standort versucht, die Produktivität seiner Arbeit zu erhöhen, um so die Arbeit andernorts zu entwerten. Man will Marktanteile importieren – und damit Arbeitslosigkeit exportieren.
Das erfordert allerorten eine nationale Kraftanstrengung. In Deutschland appelliert die Politik daher sowohl an die Einsatz- wie auch an die Verzichtsbereitschaft der Bevölkerung: Fleißig soll sie sein. CDU-Chef Merz befindet, man müsse »die Tugenden wieder wertschätzen: Leistungsbereitschaft, Fleiß, Anstand«. Laut Olaf Scholz (SPD) ist »die Sozialdemokratie die Stimme der Fleißigen« und laut Björn Höcke (AfD) »waren Fleiß, Qualität, geistige Stärke einst das Fundament unseres Landes.« Dass der Fleiß so hoch im Kurs steht, ist kein Wunder, benennt er doch die Tugend, Arbeit als Selbstzweck zu verrichten. Dem Fleißigen ist der Lohn der Arbeit die Arbeit selbst. In Merz‘ Worten: »Arbeit ist ein Teil unserer Lebenserfüllung.«
Seinen Dienst beim Bestreben, die nationale Arbeitsmoral zu stärken, leistet schließlich auch der Diskurs um die Migration, die »Mutter aller politischen Probleme« (Horst Seehofer, CSU): Denn in ihm ist alle Kritik an den hiesigen Zuständen ausgelöscht. Es geht stattdessen nur noch darum, wem das Privileg zuteilwird, in diese Zustände integriert zu werden. Teilhabe gilt als Vorrecht, das sich In- wie Ausländer durch harte Arbeit verdienen müssen – also durch ihre Teilnahme an der Konkurrenz um Arbeitsplätze.
Die Eigentümer dieser Arbeitsplätze wiederum dürfen in ihrem Fleiß bei der Geldvermehrung nicht behindert werden: »Am oberen Ende der Einkommensverteilung muss Visionen einer Vermögenssteuer endgültig der Riegel vorgeschoben werden«, fordert die Deutsche Bank.