Verkehrswende und soziale Garantien – aktuelle Debatten und Entwicklungen.

Verkehrspolitische Akteure und Widersprüche, die „nationale Plattform Mobilität“, Transformationsatlanten, Best Owner Group, Konzertierte Aktion Mobilität und E-Autos – sind das die Lösungen?

Die Regierung an ihren Wahlverpreschen messen!

Die Transformation eines völlig überlebten nicht-nachhaltigen Verkehrssystems erfolgt jetzt nach den Vorgaben der EU und des Bundesverfassungsgerichtes (Beschluss vom 24. März 2021) mit Höchstgeschwindigkeit, disruptiv und planlos. Die Planlosigkeit ist in der Vielfalt und Konkurrenz von einzelunternehmerischen Interessen ebenso wie in widersprüchlichen Erwartungen und Herausforderungen begründet. Dabei ist Transformation (Umformung) eigentlich ein ganz normaler Prozess: Neues entsteht, wächst, wird verbraucht, altert und vergeht– unvermeidbar, natürlich, menschlich – aber fast immer mit Risiken, Unsicherheiten offenem Ausgang.

Der Staat, die EU, die Bundesregierung und die Landesregierungen spielen dabei eine weitgehend unrühmliche Rolle, weil sie sich dieser Konkurrenz unterwerfen und keinen eigenen Plan zur Mobilität von morgen haben – „der Markt“ soll regeln, was er aus Profitgründen bisher nicht regeln konnte. Von der Klimakrise getrieben und dem Primat der Ökonomie und des Profits folgend sind die Regierenden nicht in der Lage, einen Masterplan „Mobilität 2040“ als gesellschaftlichen Konsens zu erarbeiten. Das steht übrigens im Widerspruch zu den Wünschen der Mehrheit der Bevölkerung nach Verkehrsberuhigung in den urbanen Zentren, nach der Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen der freien Wahl in infrastrukturarmen ländlichen Regionen und, nur als ein Beispiel, der Tempobeschränkung auch auf Autobahnen. Demokratie, die Durchsetzung dessen, was die Menschen vernünftiger Weise wünschen: Unter dieser Voraussetzung wäre die Verkehrswende längst eingeleitet worden.

Stattdessen: Die Autoindustrie, vor allem VW, BMW und Daimler, Conti, Bosch und ZF, erhalten Milliarden an direkten und indirekten Subventionen und Lohnkostenerstattungen, obwohl sie trotz Absatzeinbrüchen von ca. 30 Prozent in den zurückliegenden drei Jahren satte Profite einfahren und Dividenden in Milliardenhöhe an die Großaktionäre auszahlen. Industriehund Regierung wollen die Autoindustrie so erhalten, wie sie ist, statt sie zu einer Mobilitätsindustrie unter öffentlicher Regie umzubauen. Bis zu 9.000 Euro werden deshalb E-Autos subventioniert, vorläufig bis 2025. Milliarden werden in den Ausbau der Ladeinfrastruktur, den Bau von Chipfabriken und Batteriezellen gesteckt. Gesetze werden geändert (Bau- und Mietrecht, Personenbeförderungsgesetz), Steuern und Abgaben werden auf die Bedürfnisse der Autoindustrie, die Marktdurchdringung von E-Autos, angepasst (allgemeine CO2-Steuer statt Steuer auf große, schwere, hochmotorisierte Autos).

Weitere lebendige Akteure bei der Verkehrswende sind neben und teils mit der Gewerkschaft die Naturschutzverbände und Umweltinitiativen, Verkehrsverbände, Sozialverbände und soziale Bewegungen, Gewerkschaften, die Linke, Kirchen und solche Bewegungen wie Fridays for Future1. Konzepte einer sozial-ökologischen Transformation oder eines Green new Deal wurde in diesen Zusammenhängen diskutiert und erarbeitet. Forderungen nach der Verkehrswende werden verbunden mit einer anderen Art zu produzieren, mit Konversion der Produktion, Wirtschaftsdemokratie, Arbeitszeitverkürzung und einem Ende von prekärer Beschäftigung, mit Investitionen in Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau und einen guten öffentlichen Verkehr: Free Public Transport – einfach einsteigen und frei fahren!2

1. Mobilität heute und morgen: einfach einsteigen und frei fahren!

Gegenwärtig fahren ca. 1,3 Milliarden Autos auf unserem Planeten, jedes Jahr kommen zig Millionen neue Autos dazu: 1.300.000.000 Autos mit Verbrennungsmotor verbrauchen Ressourcen und vergiften die Umwelt und das Klima.

Es sind einige große Konzerne aus Deutschland, USA, Japan, Südkorea und seit wenigen Jahren aus China, die diese gigantische Menge an Autos produzieren: Volkswagen, Toyota, GM, Hyundai, SAIC, Ford, Nissan und Daimler produzieren über 60 Millionen Autos pro Jahr.

In Deutschland stehen oder fahren rund 48 Millionen PKW auf den Straßen, hinzu kommen Wohnmobile, LKW, s und Busse; in Summe ca. 67 Millionen Kraftfahrzeuge: 700 Stück pro eintausend Einwohner:innen. Sicher gibt es in Deutschland eine besondere Affinität zum Auto, seit die Nazis die „Volksmotorisierung“ für ihre Propaganda benutzt haben3, die dann doch nur im Kübelwagen an der Front meist tödlich endete. Nach 1945 waren es die Autoindustrie und die Autolobby, die – „Freie Fahrt für freie Bürger“ – das Auto zum Symbol der Freiheit stilisiert haben. Das Auto trägt gelegentlich religiöse Züge; immer noch wird aber auch rassistisch und sexistisch für dieses Produkt geworben.4 Das ganze Elend hängt auch damit zusammen, dass tausende Kilometer Schiene in den zurückliegenden Jahren abgebaut wurden, Bahnhöfe geschlossen und so Verbindungen vor allem in ländlichen Regionen gekappt wurden. Den Menschen wurde das Auto aufgezwungen. Viele haben nicht mehr die Freiheit zu entscheiden, ob sie die Bahn oder das Auto nehmen, weil die Bahn längst weg ist. Etwas anders sieht es in den Städten mit dem ÖPNV aus – aber der ist meist maximal unattraktiv und viel zu teuer.

Nun soll der Antriebswechsel vom Verbrenner zum Elektromotor alle Probleme lösen. Sicher sind Elektroantriebe innerstädtisch eine kleine Entlastung für die Luftverschmutzung und von daher sinnvoll für bestimmte Verkehre wie Taxis, Fahrservices, Liefer- und Handwerkerfahrzeuge. Ein Ersatz von 48 Millionen PKW mit Verbrennungsmotoren durch 48 Millionen PKW mit Elektromotoren ist keine Lösung zum Beispiel für das Platzproblem in der Stadt, für die Emissionen in der Produktion und die knapper werdenden und unter oft unmenschlichen Bedingungen zu beschaffenden Rohstoffe – eine solche Strategie schafft viele neue Probleme und verschlingt enorme gesellschaftliche Kosten, die z.B. im öffentlichen Verkehr fehlen und dort doch viel sinnvoller und klimarelevanter eingesetzt wären.

Hinzu kommt, dass gegenwärtig alle Autohersteller neue Fabriken bauen, damit sehr teure und letztlich überflüssige Kapazitäten schaffen und auf diese Weise einerseits die Konkurrenz zwischen den Beschäftigten und den Standorten anheizen und andererseits Kapital vernichten, das für andere, sinnvolle Zwecke dann nicht mehr zur Verfügung steht. So bekommt Elon Musk für den Bau seiner Fabrik in Grünheide bei Berlin direkte und indirekte Subventionen von Bund, Land und EU in Höhe von mehr als 1 Milliarde Euro5. Wir sehen bereits, wie der rückläufige Markt und die verschärfte Konkurrenz in der Auto- und Zulieferindustrie zum Abbau tausender Arbeitsplätze in den Jahren 2020 und 2021 geführt hat.

Mobilität morgen

Wir müssen entscheiden, wie wir leben wollen – morgen, in 10 Jahren, 2048. Da ist träumen und wünschen erlaubt. „I have a Dream“ – so Martin Luther King zum Beginn des organisierten Kampfes gegen den Rassismus in den USA. Oder anders gesagt: Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zu Kämpfen. Woher sollte die Kraft kommen, wenn nicht aus unserer Vorstellung einer anderen, einer besseren Welt?

Wer wünscht sich nicht, raus zukommen aus der Tretmühle? Wer wünscht sich nicht, mehr Zeit zu haben für sich, für seine Liebe, für gesellschaftliche Teilhabe? Zeitwohlstand – ein klangschönes Wort. Also wünschen wir uns eine Arbeitswoche von durchschnittlich 6 Stunden an drei Tagen: die 18-Stunden-Arbeitswoche. Geht nicht! – sagen alle Erfahrungen, sagen die Regierungen und sagen die Manager. Aber wir wollen anders besser leben, mit langlebigen, nützlichen Produkten; mit einem sorgsamen und nachhaltigen Umgang mit allen Ressourcen; mit mehr Platz und besserer Luft und ohne Lärm in den Städten.

Ja, wir wollen mobil sein. Dafür brauchen wir attraktiven und bezahlbaren öffentlichen Verkehr, smarte, kleine algorithmusgesteuerte optimale Verbindungen auch in ländlichen Regionen, den Nulltarif im ÖPNV.

Eine Vision für 2048: Die meisten Städte sind autofrei. Ausgenommen sind Fahrzeuge für den Transport besonders schwerer Dinge (z.B. Müllabfuhr, Baumaterial) und für Notfälle wie Feuerwehr oder Krankenwagen; aber auch diese Einsätze sind zurückgegangen, da viel weniger Unfälle passieren. Dadurch ist der städtische Raum ein sicherer Ort für alle geworden. Ein Ort der Gespräche, des Spielens und der belebten Stille.Aus den Straßen sind Fahrradwege (oft zweigeteilt in eine Schnellspur und eine Normalspur), Parks, kleinere Grünflächen, Beete, Spielplätze und vieles mehr geworden. Der Unterschied zwischen Stadt und Land hat abgenommen, ebenso wie der Bedarf „raus ins Grüne“ fahren zu wollen. Die Nutzung des kostenfreien Nahverkehrs für lange Strecken dominiert, während für kürzere Wege das Fahrrad(-taxi) genutzt wird.(Zukunft für alle – Eine Vision für 2048. Gerecht, ökologisch, machbar. Konzeptwerk Neue Ökonomie, 2020 oekom-Verlag München)6

Wir wirtschaften, produzieren und konsumieren bedürfnisorientiert, nicht profitorientiert. Das Leben ist wichtiger als der Profit. Alle Menschen in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit, in ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen, sind an den Aushandlungsprozessen beteiligt – die zur Verfügung stehende Technik erlaubt kleinräumige demokratische Entscheidungen und die Herstellung von Produkten in der Losgröße 1. Freiheit und Selbstbestimmung bekommen eine andere, weitere Dimension – frei von Mobilitätszwängen, frei vom Zwang mit dem Auto mobil zu sein: einfach einsteigen und frei fahren; sicher, bequem, nachhaltig und solidarisch mit Mitmenschen und in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen.

2. Aktuelle Debatten und Entwicklungen

Die „Nationale Plattform Mobilität“

Von Bundesregierung und Autoindustrie wurde 2010 die „Nationale Plattform Elektromobilität NPE“ gegründet und in den Rang einer Regierungskommission erhoben – die Mitglieder werden von der Bundesregierung berufen; die Kommission fungiert als Beratergremium der Bundesregierung. Ziel der Regierungskommission war es Deutschland bis 2020 zum Leitmarkt und zum Leitanbieter für Elektromobilität zu machen und 1 Mio. E-Autos bis zum Jahr 2020 auf die Straße zu bringen. Als absehbar war, dass dieses Ziel nicht annähernd erreicht wird, wurde die Kommission im September 2018 umbenannt und firmiert seither als „Nationale Plattform Mobilität“: „Aufbauend auf den Diskussionsergebnissen in der NPM werden Handlungsempfehlungen an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ausgesprochen.“ Neben einem Lenkungskreis gibt es sechs Arbeitsgruppen, in denen zusammen ca. 100 Personen beraten – weit überwiegend Vertreter der Autoindustrie, zahlreiche Ministerialbeamte und Lobbyisten, ein paar Personen aus der anwendungsorientierten Wissenschaft. Daneben dürfen eine Handvoll Gewerkschafter:innen und ein paar wenige Vertreter:innen von Umweltverbänden mitreden, Verkehrsinitiativen sind zum Beispiel gar nicht vertreten, kein Seniorenverband und ebenso wenig Schüler:innen oder Studierende. Dementsprechend geht es zu 90 Prozent ums Auto und um die Straße, um Antriebe, Kraftstoffe, Digitalisierung, Produktionsstandorte und Normierung. Gewerkschaften, Umwelt- und Verkehrsverbände sind krass unterrepräsentiert, die Industrie ist krass überrepräsentiert.

Die neue Bundesregierung hat jetzt, abgeleitet von den EU-Vorgaben, das Ziel gesetzt, 15 Mio. Elektroautos bis 2030 auf die Straße zu bringen. Das bedeutet, dass jedes zweite Neufahrzeug ein E-Auto sein müsste. Das klappt bisher nicht einmal annähernd mit den staatlichen „Prämien“ von bis zu 6.000 Euro pro Fahrzeug, wofür die Bundesregierung allein Im Jahr 2021 ca. eine Milliarde Euro ausgegeben hat. Bei Fortschreibung und dynamischer Entwicklung dieses Programms wird die Autoindustrie über diesen Weg mit mehr als 10 Milliarden Euro subventioniert. Voraussetzung wäre ein massiver Ausbau der Ladeinfrastruktur, der ebenfalls Milliarden Euro verschlingt. Das Strommengenproblem ist dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Transformationsatlanten

Die IG Metall hat im Jahr 2019 in ca. 2.000 Betriebe betriebliche Analysen durch Betriebsräte und Vertrauensleutekörper durchführen lassen. In diesen Betrieben sind 1,7 Mio. Menschen beschäftigt.

Je Betrieb wurde ein Atlas mit Chancen- und Gefahrenpotenzial erarbeitet. Er bietet damit für die Gewerkschaft, für die Betriebsräte und die Beschäftigten eine gute Übersicht über die absehbaren Entwicklungen. „Die Ergebnisse sind Grundlage für eine soziale und mitbestimmte Gestaltung der digitalen Transformation“ – so die Absicht der IG Metall. Aber die Ergebnisse sind mehr als ernüchternd: Eine langfristige Planung ist in den meisten Betrieben nicht vorhanden bzw. für die Betriebsräte nicht erkennbar. Dort, wo Trends bekannt waren, sieht es auch nicht gut aus. In den Betrieben der Autoindustrie wird überwiegend Personalabbau geplant – eine Strategie zur Beschäftigungssicherung, zur Personal- und Qualifizierungsplanung gibt es nicht einmal in der Hälfte der Betriebe. In Zweidrittel der Betriebe wird die Belegschaft weder gefragt noch an Veränderungsprozessen beteiligt. Die Gewerkschaft versucht die Arbeitgeber mit Zukunftstarifverträge auf eine längerfrsitige Planung zu verpflichten – muss in diesen Verträgen aber oft materielle Zugeständnisse machen. Mit wirklicher Mitbestimmung oder gar mit Wirtschaftsdemokratie hat das alles nichts zu tun. Auf staatlicher Ebene bemüht sich die Gewerkschaft um ein Transformationskurzarbeitergel sowie eine Anspruchsverlängerung für das Arbeitslosengeld 1, um einen frühzeitigen Absturz in Hartz IV-Bezug zu verhindern. Ein noch nicht entwickeltes Instrument sind regionale Strukturpolitik / regionale Transformationsdialoge, um diverse Akteure aus kleineren, unüberschaubaren Räumen zusammen zu bekommen. Das könnte sich zu einem richtigen und wichtigen Instrument entwickeln, wenn tatsächlich alle Akteure, also auch die Umwelt-, Klima- und Verkehrsinitiativen gleichberechtigt mit am Tisch sitzen.7

Best Owner Group (BOG)

Ebenfalls von der IG Metall initiiert wurde ein Auffangfond für bedrohte Autozulieferer – um Arbeitsplätze und Lieferketten zu sichern. Es sollte vor allem privates Kapital gesammelt und staatlich abgesichert werden, um Firmen aufzukaufen bzw. zu stabilisieren, die ansonsten und aus eigener Kraft nicht überlebensfähig wären. Mit staatlichem und privatem Kapital könnte die Branche gerettet werden, weil die Autohersteller ihre Produktion umgestellt oder in die eigenen Fabriken zurückgeholt haben, so der Vorschlag der IG Metall. Dieser Best Owner Group genannte Finanzbeteiligungsfond sollte „während der Haltedauer seines Investments nicht ausschließlich renditeorientiert arbeiten, sondern unter Berücksichtigung aller Stakeholderinteressen einen geregelten Downsizing-Prozess der Portfoliounternehmen anstreben“, so die Idee der Gewerkschaft. Einen Weiterverkauf der Betriebe wie bei klassischen Investmentfonds sollte es nicht geben. Frank-Jürgen Weise, der ehemalig Chef der Bundesagentur für Arbeit, wurde als Manager verpflichtet. Zulieferer könnten dank des Fonds den Strukturwandel in Richtung Elektromobilität für die Beschäftigten sozialverträglich bewältigen, zum anderen schütze die BOG vor Übernahmen durch Hedgefonds, sagte der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann8.

Seit der Initiative für diesen Fond im Oktober 2020 hat man darüber aber nichts mehr gehört – weder, wieviel Geld eingesammelt wurde noch ob und wenn ja welche Betriebe übernommen wurden. Stattdessen wird sichtbar, dass das Kapital an solchem öffentlichen oder gar gewerkschaftlich Einfluss überhaupt kein Interesse hat, ihn eher fürchtet. Die jüngsten Übernahmen, zum Beispiel vom Gelenkwellenlieferanten IFA aus Gardelegen und der Leichtmetallgießerei Schulte & Schmidt (595º) aus München, erfolgten durch zum Teil durch profitorientierte deutsche Beteiligungsgesellschaften ohne jeden gewerkschaftlichen oder öffentlichen Einfluss9.

Konzertierte Aktion Mobilität (KAM)

Eine strategische Planungsgruppe, die Konzertierte Aktion Mobilität, trifft sich regelmäßig im Kanzleramt. Bundeskanzler:in, diverse Minister:innen und Ministerpräsident:innen, die IG Metall, der Verband der Automobilindustrie VDA, die Chefs der Konzerne und die Betriebsratsvorsitzenden von BMW, Conti, Daimler, Ford, Mahle Opel, Schaeffler, VW und ZF, der Vorsitzende der NPM (siehe oben) beraten und bereiten Entscheidungen für die Bundesregierung vor. Aus der Beratung im August 2021 verlautete: „Mit der Kaufförderung durch Umweltbonus und Innovationsprämie wird der Hochlauf von Elektrofahrzeugen massiv beschleunigt. Die Bundesregierung treibt den Ausbau einer bedarfsgerechten Ladeinfrastruktur mit aller Kraft voran, beispielsweise mit der Förderung privater Wallboxen oder dem Schnellladegesetz, auf dessen Basis der Ausschreibungsprozess zum Deutschlandnetz begonnen hat. … Beim Spitzengespräch im November 2020 wurde beschlossen einen Zukunftsfonds Automobilindustrie, mit einem Volumen von einer Milliarde Euro einzurichten.“

Mit dem Fond sollen u.a. regionale Transformationsdialoge (z.B. Saarland, Südost-Niedersachsen)

gefördert werden. Weiter wurde ein Austauschprogramm für Nutzfahrzeuge ebenfalls im Umfang von 1 Milliarde Euro beschlossen sowie ein Gesetz zum autonomen fahren auf den Weg gebracht10.

Das Manko dieses politisch-strategischen Mobilitätszentrums besteht darin, dass Umwelt und Verkehrsverbände sowie Vertretungen der Bahn und der Bahnindustrie dabei überhaupt nicht vorgesehen sind. Daran wird deutlich, dass es tatsächlich nur um eine Modernisierung der Autoindustrie und des Autoverkehrs geht. Insbesondere die IG Metall verschenkt damit Vertrauen in das Versprechen, das 1,5-Grad-Ziel anzuerkennen und zu erreichen. Die IG Metall verschenkt auch die Chance, die Bahnindustrie massiv auszubauen und damit die erodierende Mitgliedschaft, die schwächelnde Organisationsmacht in der Autoindustrie durch Zugewinne in der Bahnindustrie auszugleichen.

Mfive & Fraunhofer ISI: Beschäftigungseffekte nachhaltiger Mobilität“

Im Auftrage der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung haben die M-FIVE GmbH und das Faunhofer Institut für System- und Innovationsförderung (ISI) eine Untersuchung zu „Beschäftigungseffekten nachhaltiger Mobilität“ erarbeitet – mit bemerkenswerten Ergebnissen der qualitativen Analyse. Ausgangspunkt sind 4,4 Mio. Erwerbstätige in verkehrsbezogener Beschäftigung derzeit – also in Autoindustrie, Straßenbau, Bahn-, Flug und Fahrradindustrie ebenso wie in den Bahnbetrieben und im ÖPNV. Unter der Annahmen, dass bis 2035 die Gesamtverkehrsleistung um 15 Prozent sinkt, der private Besitz von PKW um 40 Prozent sinkt, und der Rest Multi-Modal, also mit Bahn, Rad, Bus, Auto gestaltet wird, bleibt die Gesamtbeschäftigung stabil. Es gibt keine signifikanten Verluste an Beschäftigung unter dem Strich. Dabei ist eine mögliche und wünschenswerte allgemeine Arbeitszeitverkürzung noch gar nicht eingerechnet. Allerdings gibt es starke regionale Unterschiede – am meisten betroffen wären bisher monostrukturierte Regionen (Autocluster) wie Südostniedersachsen und der Raum Stuttgart.11

Es ist verwunderlich, dass die Ergebnisse dieser Studie nicht viel umfangreicher rezipiert und publiziert werden – offensichtlich gibt es daran kaum ein öffentliches Interesse. Oder anders gesagt: Die Beschäftigungsneutralität der Verkehrswende wird öffentlich nicht weiter bearbeitet, da diese Erkenntnis den Interessen der Autoindustrie und der Planung der Regierungen zuwider läuft.

Es gibt diverse andere Studien von selbsternannten „Autopäpsten“, privaten Instituten oder wissenschaftlich getarnten Einrichtungen der Arbeitgeberverbände, die zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen kommen und hier, weil überwiegend Interessengeleitet, nicht weiter betrachtet werden.

E-Mobilität – ist das die Lösung?

Im Sommer 2020 haben Jörn Bowe, Johannes Schulten und ich mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine kleine Studie mit Befragung von Beschäftigten in der Auto- und Zulieferindustrie durchgeführt. Dieses vor allem deshalb, weil die Hauptbetroffenen des industriellen Wandels und der Verkehrswende bisher nicht zu Wort kamen, nicht gefragt waren. Ansichten der Belegschaften der Automobilindustrie kommen in der öffentlichen Debatte über die Folgen des Klimawandels kaum vor. Wie blicken Beschäftigte und mittlere gewerkschaftliche Funktionär*innen verschiedener verkehrsmittelproduzierender Betriebe auf Themen wie Klima, Transformation, Mobilität? Ergeben sich daraus Anknüpfungspunkte für einen sozial-ökologischen New Deal?

Wir haben mit bescheidenen Möglichkeiten 40 „Scharnierpersonen“ strukturiert in Einzel- und Gruppengesprächen befragt. Als „Scharnierpersonen“ haben wir in diesem Fall gewerkschaftliche Vertrauensleute bezeichnet, die zwischen den Beschäftigten einerseits und den Betriebsräten andererseits stehen, beide Positionen kennen und oft auch vermitteln müssen. Sie sind die Experten für die Debatte und Stimmung in Betrieb und Gewerkschaft und für die Möglichkeiten von Konversion. Diese gewerkschaftliche Repräsentationsfunktion macht sie zu zentralen Akteuren, wenn es darum geht, gewerkschaftliche Gegenmacht im Betrieb aufzubauen. Auch deshalb ist ihre Sicht sehr interessant. Entsprechend unseren geringen Möglichkeiten ist Das Sample ist nichtrepräsentativ, gewährt jedoch Einblicke in betriebliche und gewerkschaftliche Meinungsbildungs- und Diskussionsprozesse.

Das wesentliche Ergebnis: Produktive Diskussionen mit den Beschäftigten in der Automobilindustrie über den Einstieg in eine sozial-ökologische Mobilitätswende sind möglich und lohnend – insbesondere mit der gewerkschaftlichen Basis in den Betrieben. Aber es sind dicke Bretter zu bohren. Es gibt vor allem eine verbreitete Skepsis gegenüber “der Politik“ sowie Sorgen vor unternehmensseitiger Transformation (Rationalisierung, Arbeitsplatzverlust).12

Fünf Beobachtungen aus der Studie:

  • Die Identifikation der Beschäftigten mit “ihren” Automobilunternehmen hat abgenommen – wie auch die Begeisterung für das Auto als solches. Hier ist ein Riss entstanden, wodurch sozial-ökologische Politikansätze zumindest diskutiert werden und nach und nach Unterstützung gewinnen können.
  • Konträr zu dem, was die Aussagen einiger IG Metall-Spitzenfunktionär*innen und die mediale Darstellung nahelegten, gab es an der betrieblichen Basis keine verbreitete Forderung nach staatlichen Kaufanreizen für PKW mit reinem Verbrennungsmotor („Abwrackprämie“).
  • Die Befragten trauen den politischen Entscheidungsträger*innen und Verkehrsunternehmen, insbesondere der Deutschen Bahn, nicht zu, eine tragfähige Verkehrswende auf den Weg zu bringen. Dazu eine der befragten Personen: „Ich würde am liebsten alles mit Bus und Bahn fahren, aber es geht einfach nicht. Es gibt für meinen Arbeitsweg keine Verbindung in akzeptabler Zeit.“
  • Der Transformationsstrategie der IG Metall dagegen fehlt es einerseits an betrieblicher Verankerung und Rückkopplung, andererseits an einer Einbindung in ein gesellschaftspolitisches Projekt einer sozial-ökologischen Verkehrswende. Dazu eine der interviewten Personen: „Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, die IG Metall hat zu einfache Antworten. Mag sein, dass sie in wichtigen Expertenkreisen mit Merkel und anderen mitdiskutiert. Aber das kommt nicht einmal bei mir an, und ich bin sehr engagiert und vernetzt. Beim normalen Kollegen kommt erst recht nichts an. Wenn die sich beim Automobilgipfel treffen und dann kommt eine 70-seitige Broschüre raus, das wird kein Schwein lesen, nicht mal ich.“
  • Grundsätzlich stehen viele der Interviewten Gewerkschafter*innen inhaltlich Ideen einer sozial-ökologischen Verkehrswende (Ausbau ÖPNV, Radwegenetz usw.) aufgeschlossen gegenüber. Sie sind aber skeptisch – sowohl in Bezug auf die Perspektive einer politisch-praktischen Umsetzung, wie auch hinsichtlich der Möglichkeiten, größere Teile ihrer Belegschaften für ein solches Programm zu gewinnen.

Die Verkehrswende ist so ein Knotenpunkt der sozialen und ökologischen Krise sowie der Krise der Demokratie. Es gilt, diesen Knoten jetzt aufzulösen. Dazu braucht es Initiativen für andere, öffentliche, sehr preiswerte und bequeme Verkehrsmittel. Dringend sind soziale Garantien für die Beschäftigten in den Branchen und demokratische, gleichberechtigte Beteiligung auch der Klima- und Verkehrsinitiativen! Die gemeinsamen Erklärungen von IG Metall und Fridays for Future, dem BUND, den Sozialverbänden und den Kirchen sind eine gute Basis für die Auflösung des Knotens: „Eine Allianz, die es in sich hat“, wie Hans-Jürgen Urban es formulierte: „Klimabewegung und Klassenkampf nicht gegeneinander auszuspielen. Wir brauchen Allianzen, die Strategien und Utopien in einen durchgreifenden Reformismus transformieren. Dabei muss auch das »soziale Eigentum« der abhängig Beschäftigten verteidigt werden. Um eine Allianz von Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung für ein Reformprojekt einer sozial-ökologischen Transformation zu schaffen, sind diskursive Toleranz und wechselseitiges Verständnis für die Kulturen und Interessen des anderen unverzichtbar“13.

Um den Knoten aufzulösen, kann und muss die Regierung herausgefordert und getrieben werden, können und müssen Grüne und SPD an ihren Wahlversprechen und an den entsprechenden Passagen im Koalitionsvertrag gemessen werden: „Wir wollen die 2020er Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen. Dafür werden wir Infrastruktur ausbauen und modernisieren sowie Rahmenbedingungen für vielfältige Mobilitätsangebote in Stadt und Land weiterentwickeln. Wir werden den Masterplan Schienenverkehr weiterentwickeln und zügiger umsetzen, den Schienengüterverkehr bis 2030 auf 25 Prozent steigern und die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppeln“14.

1https://www.igmetall.de/download/20190826_20190826_Erkl_rung_FFF_Demo_20_09__GfVM_final_ea1179dd0c1173bf313a45b4b88e27c9ffa3cb5f.pdf, https://www.sovd.de/aktuelles/meldung/breites-buendnis-fordert-sozial-und-klimavertraegliche-mobilitaetswende

2https://einsteigen.jetzt/; https://kobinet-nachrichten.org/2021/04/20/sovd-fuer-kostenlose-nutzung-von-bus-und-bahn-fuer-ehrenamtliche/; https://freepublictransport.info/

3Brockhaus, Gudrun; Schauder und Idylle – Faschismus als Erlebnisangebot; Antje Kunstmann Verlag, München 1997, Reuß, Eberhard; Hitlers Rennschlachten – Die Silberfeile unterm Hakenkreuz; Aufbau-Verlag, Berlin 2006

4https://www.businessnews365.de/sexistische-werbung-verschrottet/

5https://www.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.658136.de; https://efahrer.chip.de/news/tesla-erhaelt-milliarden-fuer-gruenheide-vw-chef-verraet-subventionen_104392

6https://www.oekom.de/buch/zukunft-fuer-alle-9783962382575

7https://www.igmetall.de/download/20190605_20190605_Transformationsatlas_Pressekonferenz_f2c85bcec886a59301dbebab85f136f36061cced.pdf

8https://www.igmetall.de/politik-und-gesellschaft/wirtschaftspolitik/industriepolitik/mit-fonds-die-zulieferindustrie-retten

9https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/magdeburg/boerde/neuer-eigentuemer-autozulieferer-ifa-100.html; https://www.nordbayern.de/wirtschaft/giesserei-schulte-amp-schmidt-bleibt-in-nurnberg-1.10930330

10https://metager.de/meta/meta.ger3?focus=web&eingabe=konzertierte+aktion+mobilit%C3%A4t&encoding=utf8&lang=all

11https://m-five.de/wp-content/uploads/m-five_isi_nachhaltige_mobilitaet.pdf

12https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/luxemburg_beitraege/luxemburg-beitraege_1_E-Mobilitaet.pdf

13https://hans-juergen-urban.de/eine-allianz-die-es-in-sich-hat/

14https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-2021-1990800

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