Am 27. Mai ist den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten der IG Metall bei VW der Kragen geplatzt. Über die Standorte hinweg übten sie in einem offenen Brief drastische Kritik am obersten Management: »Mittlerweile ist ein Zustand erreicht, in dem sich immer mehr Kolleginnen und Kollegen für ihren Arbeitgeber schämen und ihn teilweise sogar verleugnen.« Beklagt wird das schlechte Bild des Unternehmens in der Öffentlichkeit, verursacht durch Abgasbetrug, Kartellvorwürfe, Rückrufaktionen und kürzlich auch noch einen rassistischen Werbespot. Der Vorstandsvorsitzende Herbert Diess war 2019 in den Mittelpunkt der Kritik geraten mit seinem verheerend lockeren Spruch »Ebit macht frei«. Ihm angelastet werden auch die desaströsen Verkaufszahlen und Anlaufschwierigkeiten der beiden Flaggschiffe des Unternehmen: dem neuen Golf der achten Generation und dem ersten E-Modell ID.3 mit der Ankündigung #NowYouCan.
Abschied vom »harten Hund«
Nach den Aufsichtsratssitzungen am 28. Mai und am 8. Juni ist die Macht von Diess erheblich zurechtgestutzt: Die Verantwortung für die Marke Volkswagen trägt künftigt Ralf Brandstätter, der Manager, den Diess eigentlich für die Mängel verantwortlich machen wollte. Solche personellen Entscheidungen sind bei VW aufgrund des VW-Gesetzes nicht ohne den Betriebsrat möglich, aber natürlich auch nicht ohne den Mehrheitsaktionär, den Porsche-Piëch-Clan. Von einem Putsch zu sprechen, wie es die Boulevardpresse getan hat, ist also völlig unangebracht. Gerade hat das Unternehmen neun Millionen Euro an die Landeskasse überwiesen, um die Klage gegen Diess und den Aufsichtsratsvorsitzenden Pötsch abzuwehren.
Zur Personalie Diess wird in dürren Worten offiziell mitgeteilt, dass der Volkswagenkonzern die Zuständigkeiten bei der Führung von Marke und Konzern neu ordnet, und dass der Aufsichtsrat das zur Kenntnis genommen hat. Herbert Diess war von BMW geholt worden, um als »harter Hund« die Strukturen der Mitbestimmung aufzubrechen. Der Sprecher des Volkswagen-Mehrheitsaktionärs, Wolfgang Porsche, hatte vor einigen Monaten erklärt: »In Wolfsburg sind die Strukturen teilweise sehr verkrustet. Ich würde gerne den Vorstand dabei unterstützen, das System zu verändern.« Bei diesem Vorhaben hat er dann wohl den Vorstandsvorsitzenden überschätzt und die Gewerkschaft und den Betriebsrat unterschätzt.
In allen Werken nimmt der Arbeitsdruck auf die Beschäftigten enorm zu – die Maßnahmen gegen die Coronapandemie werden zur Leistungsverdichtung missbraucht. In Werkstattbereichen, in denen bisher in Normalschicht gearbeitet wurde, wird Schichtarbeit von zweimal sechs Stunden eingeführt. In diesen sechs Stunden dürfen keine Pausen gemacht werden, die Betriebsrestaurants wurden geschlossen, die Beschäftigten müssen zu Hause einen Coronaselbsttest durchführen und in Arbeitskleidung zur Arbeit erscheinen. Zwei weitere Stunden regelmäßige Arbeitszeit müssen als mobiles Arbeiten oder Homeoffice im Laufe des Tages in Form von Teamgesprächen, Fernwartung, Schichtübergaben oder Werkstattberichten per Skype abgeleistet werden. Sollte dies nicht möglich sein, wird die entsprechende Zeit aus dem Gleitzeit- bzw. Flexibilitätskonto gestrichen. Der zeitliche Rahmen für die Erledigung von Entwicklungs- und Bearbeitungsaufgaben ist jedoch regelmäßig zu kurz, so dass entweder die Ziele unerreichbar sind oder eben Fehler produziert werden, die dann auf den Markt durchschlagen.
Die Probleme sind alle hausgemacht, die Überkapazitäten ebenso wie die Überkomplexität, die Menge an Elektronik und Software sowie der damit verbundene hohe Preis der neuen Autos. Fahrzeuge, die den künftigen Abgasnormen entsprechen, sind so gut wie nicht vorhanden. Das sind die Umstände, die das Fass zum Überlaufen gebracht haben – und wer anderes sollte für all das verantwortlich sein als der Vorstandsvorsitzende?
Drastische Reduktion
So ist auch die Mahnung der Gewerkschafter im Unternehmen angesichts der Stagnation im Jahr 2019 und des Absatzeinbruches von 25 Prozent im ertsen Quartal 2020 zu verstehen: »Wir fürchten um den Kern unserer Volkswagen-DNA, wonach Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung gleichrangige Unternehmensziele sind. Weitere Sparprogramme auf Kosten der Beschäftigten sind keine Lösung!«
Trotz aller Pannen ist die Wirtschaftlichkeit bisher kein Problem für Volkswagen, wurde doch die Gewinnrücklage im ersten Quartal 2020 um vier Milliarden Euro erhöht auf die sagenhafte Summe von 100 Milliarden Euro. Dennoch – und das ist nicht nur für die Belegschaft ärgerlich – werden Millionen Euro für Kurzarbeit von der Arbeitslosenversicherung abgefordert und die zu zahlenden Gewerbesteuern für die Fabrikstandorte drastisch reduziert. Ganz klassisch werden die Profite weiterhin privatisiert und die steigenden Kosten auf die Allgemeinheit abgewälzt.
Die Beschäftigungssicherung ist demgegenüber durchaus ein Problem. Tausende Leiharbeiter mussten die Fabriken verlassen, die Massenentlassung von 20.000 Beschäftigten war bereits vor der Pandemie angekündigt. Und wenn der Absatz der Elektroautos nicht planmäßig läuft, sieht es für drei Standorte und deren Beschäftigte düster aus. Die Werke in Zwickau, Emden und Hannover sollen künftig nur noch E-Autos produzieren. Das Unternehmen wirbt damit, »auf dem Weg zur emissionsfreien Mobilität für alle« zu sein. Angesichts der Überkapazitäten, der gesättigten Märkte und der hohen Preise für die Fahrzeuge kommen aber bei vielen Beschäftigten Zweifel und vor allem Ängste auf. Bis 2025 sollten, so die Planung bisher, etwa 1,5 Mio. E-Autos verkauft werden. Eine Auslastung der drei genannten Werke mit rund 30.000 Beschäftigten wäre damit jedenfalls nicht verbunden.
Die Ablösung von Herbert Diess als Chef der Marke Volkswagen könnte eine Chance sein, das Unternehmen mehr als bisher auf eine richtige Mobilitätswende zu orientieren. Der anstehende Personalabbau und die drastische Absatzkrise zeigen, dass es ohne umfassende Mobilitätswende eng wird, nicht nur für die Beschäftigten.
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