Arbeitszeitverkürzung – vielfältig mehrdeutig

Vor hundert Jahren, im Ergebnis der Novemberrevolution 1918, wurde in Deutschland der 8-Stunden-Tag zum gesetzlichen Standard. Immer war er umkämpft, immer haben die Arbeitgeber und ihre reaktionären politischen Freunde ein roll back versucht – mal ohne Erfolg, zeitweise, zum Beispiel in der NS-Zeit, auch recht erfolgreich – bis hin zur „Vernichtung durch Arbeit“.

Der wichtigste Erfolg der Novemberrevolution, die Beendigung des mörderischen Krieges, hielt gerade mal 20 Jahre – dann wurde von Deutschland unter der Diktatur der Nazis der noch mörderischere nächste Weltenbrand angezettelt.

Weitere Ergebnisse der Novemberrevolution wie das allgemeine Wahlrecht, die Schaffung von Betriebsräten, die Abschaffung der Monarchie, das Ende der Privilegien des Adels waren andauernder und doch nur Zugeständnisse des Kapitals, um, aus ihrer Sicht, „schlimmeres“, nämlich den Aufbau einer sozialistischen Räterepublik, zu verhindern. Wie die bürgerliche Demokratie und der 8-Stunden-Tag sind diese Errungenschaften ambivalent; sie sind sozialer und politischer Fortschritt und zugleich die Bedingung für die vorläufige Aufrechterhaltung der ökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft, des privaten Eigentums und der ausschließlichen Verfügungsgewalt der Eigentümer über Grund, Boden und Produktionsmittel. Daran hat sich in den letzten hundert Jahren in unserem Land nichts Grundsätzliches geändert – der große Versuch es zu ändern ging gründlich schief, die DDR konnte dem kapitalistischen System schließlich politisch und vor allem ökonomisch nichts mehr entgegensetzen.

In dieser Situation wird heute wieder um die Arbeitszeit gekämpft, nachdem in den 1960er Jahren die 40-Stunden-Woche und in den 1990er Jahren die 35-Stunden-Woche tariflich durchgesetzt werden konnte. Gesetzlicher Rahmen blieben aber der 8-Stunden-Tag plus möglicher Überstunden und die 48-Stunden-Woche plus der möglichen Überstunden – insgesamt bis zu 72 Stunden pro Woche. Und fast überall dort, wo kein Tarifvertrag greift, fast überall dort, wo kein Betriebsrat auf die Einhaltung von Verträgen und Gesetzen achtet, da überschreiten die Arbeitgeber die gesetzlichen Grenzen schamlos. Gewerkschaften wehren sich seit Jahrzehnten gegen die Versuche, die tägliche, wöchentliche und jährliche Arbeitszeit zu verlängern – von der KAPOVAZ, der „kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit“ in den 1980er Jahren über den SCHLANDO, den „scheiß langen Donnerstag“ bis hin zur als „Flexibilisierung“ getarnten jederzeitigen Verfügbarkeit der digital vernetzten Beschäftigten heutzutage.

Die Durchsetzung des nächsten Schrittes, des 6-Stunden-Tages, der 30-Stunden-Woche oder der 4-Tage-Woche steht nun an. Aber nicht einmal für eine gesetzliche Begrenzung der Arbeitswoche auf 40 Stunden wollte die SPD, lange der „natürliche“ Verbündete der Gewerkschaften, im Bundestag ihre Hand heben -passend zum Festhalten an allem menschenverachtenden Sozialabbau, der mit der Agenda 2010 und Gerhard Schröder verbunden ist.

Neben der Systemstabilisierung auch durch den 8-Stunden-Tag, eigentlich durch jede Arbeitszeitverkrüzung, tritt heute das Bedürfnis vieler Menschen, die unfreiwillig in Minijobs beschäftigt werden, überwiegend Frauen, die Arbeitszeit zu verlängern – aus finanziellen Gründen, aber auch der sozialen Funktion der Arbeit wegen. Statt nur um Arbeitszeitverkürzung geht es heute also um eine faire Verteilung aller Arbeit – der Lohnerwerbsarbeit ebenso wie der Hausarbeit, der Pflegearbeit und der politischen Arbeit in der Gesellschaft. Deshalb heißt die Attag AG, in der ich seit vielen Jahren mitarbeite, auch AG  ArbeitFairTeilen!

Aus Anlass des 100. Jahrestag des 8-Stunden-Tages hat die Attac AG ArbeitFairTeilen eine kleine Festveranstaltung in Erfurt durchgeführt. Bodo Ramelow hat, inzwischen Ministerpräsiden in Thüringen, anschaulich aus dem Kampf um die Arbeitszeit berichtet. Ingrid Kurz-Scherf, die Erfinderin des „phantastischen Tarifvertrages zum 6-Stunden-Tag“ hat in einem unbedingt sehens- und hörenswerten Vortrag eine ambivalente Bilanz dieses -Stunde-Tages gezogen. In einer Talkrunde haben Anne Rieger, Beate Zimpelmann, Sandro Witt, Friedhelm Nachreiner und Michel Raab bei Moderation durch Tom Strohschneider eine differenzierte und sehr interessante Debatte geführt. All das ist jetzt online und hier abzurufen: https://www.rosalux.de/dokumentation/id/39610/

 

Viel Spaß dabei, gerne auch Rückmeldungen an mich.

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