Der Kampf um die Zeit

Stephan Krull* plädiert für einen neuen Anlauf zur Arbeitszeitverkürzung und stellt eine Initiative von attac vor

»Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.« (Karl Marx)

Zeit ist das mit Abstand am häufigsten gebrauchte Substantiv der deutschen Sprache, Ausdruck der Dynamik, mit der Zeitthemen für uns existenziell wichtig geworden sind.

Im Titel dieses Aufsatzes fehlen die Begriffe Arbeit und Arbeitszeit, denn der Kampf wird um alle verfügbare Zeit geführt. Die Menschen, die nicht von ihrem Reichtum, vom angehäuften Kapital leben können, sind gezwungen, immer mehr von ihrer Lebenszeit für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen aufzuwenden. Dafür stehen die Verlängerung täglicher, wöchentlicher, jährlicher Arbeitszeiten ebenso wie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch Verkürzung der Schulzeit und Verschiebung des Renteneintrittsalters auf vorläufig 67 Jahre. Dafür hat die Menschheit Jahrhunderte gekämpft, das Rad erfunden, die Dampfmaschine, elektrische Energie und vieles mehr: Die Arbeit sollte leichter werden. Seit einigen Jahren erleben wir, dass immer mehr Menschen an zuviel Arbeit und bei der Arbeit verzweifeln, immer mehr Menschen werden krank durch die Arbeit; viele andere verzweifeln daran, keine (Erwerbs-)Arbeit zu haben, »nicht gebraucht« zu werden, »überflüssig« zu sein. Nie waren wir in der Lage, mit den Ressourcen der Natur und technisch-wissenschaftlichen Innovationen einerseits und mit so wenigen Menschen andererseits so viele Güter herzustellen. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich bei dem Verbrauch von Zeit für Erwerbsarbeit ein Rückschritt in die Anfänge der industriellen Produktion und des Kapitalismus. Es geht den Herrschenden um mehr Verfügung über die Menschen, über unsere Zeit, über unser Leben!

Erweiterter Arbeitsbegriff

Zunächst ist zu klären, was unter »Arbeit« verstanden werden soll: nicht lediglich Lohnarbeit oder Erwerbsarbeit, sondern – bei größerer Flexibilisierung und weiter zunehmender komplexer Arbeitsteilung – darüber hinaus ebenfalls notwendige, aber überwiegend unbezahlte Arbeit: Reproduktionsarbeit, Familienarbeit, Erziehungs- und Pflegearbeit, Beziehungsarbeit, Versorgungsarbeit, bürgerschaftliche Arbeit, ehrenamtliche Arbeit und Eigenarbeit, Bildungsarbeit und Kulturarbeit.

Inzwischen ist es in unserem Land, einem der reichsten Länder der Erde, im Land des Exportweltmeisters, soweit, dass Unternehmen, auch öffentliche, für Produktions- und Dienstleistungsarbeit oft gar kein Entgelt bezahlen, zunehmend zumindest kein existenzsicherndes. Durch 1-Euro-Jobs werden keine Arbeitsverhältnisse begründet, und von Löhnen zwischen drei und zehn Euro kann hierzulande niemand angemessen leben. Das ist scheinbar ursächlich für die Verlängerung der Arbeitszeiten, nämlich, durch längere Arbeitstage möglichst soviel Geld zu bekommen, dass die Arbeitenden und ihre Familien ihren Lebensstandard halbwegs halten können. Tatsächliche Ursache ist das zu Ungunsten der Arbeitenden und ihrer Organisationen verschobene Kräfteverhältnis und die brutale Ausnutzung dieses Kräfteverhältnisses durch die Unternehmen, durch die Manager, durch die Kapitalisten.

Natürlich muss jede Person von ihrer Arbeit bzw. jede Lebensgemeinschaft von der Arbeit ihrer erwerbstätigen Mitglieder ein angemessenes Leben führen können; nicht erwerbstätige Personen haben Anspruch auf eine ausreichende Grundsicherung. Das ist das Mindeste, was im 21. Jahrhundert in einem der reichsten Länder der Erde als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden müsste. Dass dies nicht so ist, hängt mit der seit Jahrzehnten andauernden Massenarbeitslosigkeit zusammen. Die Regierenden und die ökonomisch Herrschenden haben alles getan, um die abhängig Beschäftigten und ihre Familien in diese Lage zu bringen: Sie nutzen die Globalisierung, um die Menschen aller Länder (Standorte) gegeneinander in Konkurrenz zu setzen, Produktion wandert um den Globus immer dorthin, wo die Profite am höchsten sind; Gewerkschaften wurden systematisch geschwächt, Löhne gesenkt und Arbeitszeiten verlängert; viele der so arbeitslos Gemachten ist in Armut abgerutscht mit der Folge, dass sie für ihren Lebensunterhalt bereit sind bzw. gezwungen werden, zu geringsten Löhnen zu arbeiten. Wer dazu nicht in der Lage oder bereit ist bzw. sich nicht zwingen lässt, wird ausgegrenzt, ausgesteuert, abgeschoben. Viele leben so nicht nur im »Prekariat«, sondern im unwiderruflich »abgehängten Prekariat«. Diese Personen, etwa ein Drittel aller sieben Millionen Erwerbslosen plus deren Familien, haben keine Aussicht, einen Anschluss an die Lebensstandards in Bezug auf Arbeit, Konsum, Mobilität, Kultur und Bildung, auf wirtschaftliche und politische Teilhabe in dieser Gesellschaft zu finden. Ursächlich für diese Entwicklung ist ein Paradigmenwechsel Ende des letzten Jahrhunderts, als es den Regierenden und Herrschenden gelang, die Qualität der Arbeit völlig hinter »Arbeit an sich« zurück zu stellen. Das fand Ausdruck in SPD-Wahlplakaten mit den Worten »Arbeit, Arbeit, Arbeit« oder der Umwidmung des Begriffes »sozial«: Sozial sei, so die Mächtigen in Politik, Medien und Unternehmen, was Arbeit schafft: »Sozial ist heute, was die Beschäftigungssicherung und die Beschäftigungsfähigkeit ermöglicht.« (Interview Peter Hartz, in: Oberösterreichische Nachrichten, 10. Juni 2002)

Arbeitszeiten länger und krankmachend

In den letzten sechs Jahren (2003 bis 2008) müssen wir eine dramatische Verlängerung der tatsächlichen durchschnittlichen Arbeitszeiten bei Vollzeitbeschäftigten beobachten, nämlich von 37,6 Stunden auf 41,1 Stunden. Dabei handelt es sich zumeist um Überstunden, die über die tariflich vereinbarte Arbeitszeit hinaus von den Unternehmen abgefordert werden. Die regionalen Unterschiede sind erheblich, nirgendwo wird so lange gearbeitet wie in Ostdeutschland, nirgendwo sind auch die Löhne so gering wie dort. Nur in Großbritannien, Tschechien, Bulgarien und Rumänien sind die tatsächlichen Arbeitszeiten länger (bis zu 41,7 Stunden). Die kürzeste Arbeitszeit (Durchschnitt aller Vollzeitbeschäftigten einschließlich Überstunden) gibt es in Frankreich mit 37,7 Stunden, wobei auch dieser Wert schon Ergebnis von Verlängerungen ist. (Grafik 1)

Grafik 1

Gleichzeitig ist ein starker Trend zu ungesunden Arbeitszeiten zu erkennen. In den letzten zehn Jahren haben eine Million Menschen mehr in Schicht gearbeitet, ebenfalls eine Million Menschen mehr arbeitet zu Nachtzeiten, zwei Millionen mehr müssen sonntags und vier Millionen mehr müssen samstags arbeiten. Mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen arbeitet also zu gesundheitsschädlichen Zeiten und in ungesunden Rhythmen. (Grafik 2)

Grafik 2

Harte Kämpfe um die Arbeitszeit

Es lohnt ein kurzer Blick auf die geschichtliche Entwicklung der Arbeitszeit, um die gegenwärtige Etappe einordnen zu können.

Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts begann die sich entwickelnde Gewerkschaftsbewegung den Kampf um Arbeitszeitverkürzung, vor allem gegen Kinderarbeit. Ein erstes Ergebnis dieses Kampfes, der in England unter dem Einfluss des utopischen Sozialisten Robert Owen schon den 8-Stunden-Tag als Ziel hatte, war die gesetzliche Einführung des 10-Stunden-Tages 1848. Den ersten offiziellen 8-Stunden-Tag gab es ab 1856 in Australien im Ergebnis eines Streiks von Bauarbeitern. Von da an stand der 8-Stunden-Tag als Ziel und Symbol für erkämpfte Arbeiterrechte. Im Jahr 1886 riefen die nordamerikanischen Gewerkschaften in Anlehnung an die Massendemonstrationen in Australien von 1856 zum Generalstreik für den 8-Stunden-Tag am 1. Mai auf. In Chicago eskalierte der Streik, nachdem die Polizei zwei Demonstranten erschossen hatte, über 30 Tote und 200 Verletzte forderte dieses Massaker. Daraufhin wurde auf dem Genfer Kongress der Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA) die gesetzliche Einführung des 8-Stunden-Tages gefordert und damit zur allgemeinen Forderung der internationalen Arbeiterklasse. Einen ersten tarifpolitischen Durchbruch erzielten in Deutschland die Buchdrucker mit dem 10-Stunden-Tag im Jahr 1873. Dies bedeutete eine Begrenzung gegenüber völlig ungeschützten Arbeitszeiten: Zwölf Stunden und mehr an sieben Tagen in der Woche waren durchaus üblich. Danach folgte der Kampf um den arbeitsfreien Sonntag, also eine wöchentliche Arbeitszeitverkürzung, durchgesetzt im Schweizer Fabrikgesetz von 1877, in Deutschland im Jahr 1900 mit zehn Stunden Arbeitszeit an sechs Tagen in der Woche. Seit 1918 ist in Deutschland der 8-Stunden-Tag gesetzlich vorgeschrieben – auch ein Resultat der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Als Ergebnis der Novemberrevolution gelten seit 1919 die Tage von Montag bis Samstag als Werktage, Sonn- und Feiertage sind gesetzlich arbeitsfrei. Um weitergehende Forderungen der Arbeiter- und Soldatenräte zu unterlaufen, wurde zwischen Gewerkschaften und Unternehmern ein Abkommen über die Anerkennung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner und die Einführung des 8-Stunden-Tages abgeschlossen: die Erfindung und Begründung der bis heute wirkenden Sozialpartnerschaft. Die tarifliche 48-Stunden-Woche an sechs Arbeitstagen wurde so für längere Zeit zum Standard in Deutschland.

Im Zuge der Kriegswirtschaft und als Teil der sozialen Demagogie der Nazis wurden 1940 einerseits umfangreiche Ausnahmen des Verbotes der Sonntagsarbeit eingeführt, andererseits wurden »Erschwerniszulagen« steuerfrei gestellt – eine ökonomische Begünstigung der Sonntagsarbeit, die bis heute fast uneingeschränkt gültig ist und anreizend wirkt.

Nach der Wiederaufbauphase und im Zuge der Systemkonkurrenz begann 1955 eine neue Runde im Arbeitszeitkampf mit der Forderung nach der 5-Tage- und 40-Stunden-Woche, die etwa zehn Jahre später zum neuen tariflichen, allerdings nie zum gesetzlichen Standard wurde. Vor allem dieser Arbeitszeitverkürzung um acht Stunden bzw. 20 Prozent in zehn Jahren (nebst erklecklichen Lohnerhöhungen) war es zu verdanken, dass es trotz rasanter technisch-wissenschaftlicher Entwicklung und Produktivitätssteigerungen nahezu Vollbeschäftigung gab. Wieder 20 Jahre später wurde die Forderung nach der 35-Stunden-Woche erhoben, die im Verlaufe von zehn Jahren und massiven Kämpfen vor allem in der Metall-, Elektro- und Druckindustrie durchgesetzt werden konnte, aber nicht zum allgemeinen Standard und nicht gesetzlich abgesichert wurde. Der Verzicht auf weitere kontinuierliche Reduzierung der tatsächlichen Arbeitszeit ist bei schnell steigenden Produktivitätsraten eine der Ursachen der anhaltend hohen Massenarbeitslosigkeit.

Erfahrungen mit der 4-Tage-Woche bei VW

Nur eine Episode blieb die 4-Tage-Woche bzw. die 28,8-Stunden-Woche bei VW. Im Jahr 1994 mit Lohnminderung eingeführt und 2006 ohne Lohnerhöhung wieder auf 35 Stunden verlängert, handelt es sich sowohl um ein gigantisches Lohnkürzungsprogramm für den Automobilkonzern, als auch um partielle und befristete Arbeitsplatzsicherung und die schöne Erfahrung des 6-Stunden-Tages, so genannter »kurzer Vollzeit«. Weil in den VW-Überlegungen Krisenbewältigung und Kostenreduzierung im Mittelpunkt standen, wurde der Humanisierungsaspekt, die gewerkschaftliche Begründung für Arbeitszeitverkürzung, völlig ausgeblendet. Es ging nur um die Sicherung von Beschäftigung und Standort – die Geburt der These, sozial sei, was Arbeit schafft und Beschäftigung sichert. Dass dies zunächst in einem gewerkschaftlich gut organisierten Betrieb unter Bedingungen weitgehender Mitbestimmung und relativ hoher Einkommen durchgesetzt und mit einem bis heute wirkenden Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen verbunden wurde, war eine der Voraussetzungen, davon abgeleitet Arbeit flächendeckend zu entwerten, ohne die Arbeitszeitverkürzung selbst zur Regel zu machen. Lediglich in der niedersächsischen Metallindustrie gelang es, einen befristeten Vertrag zur Beschäftigungsförderung durch Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen. Mit dem Auslaufen des Fördertopfes, der von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gespeist wurde, ist dieser durchaus erfolgreiche Versuch freiwilliger Arbeitszeitverkürzung nach zwei Jahren beendet worden.

Die Tatsache nutzend, dass kaum ein Unternehmen dem Beispiel der 4-Tage-Woche gefolgt ist und die besondere Schwäche von Betriebsrat und Gewerkschaft im Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre um den Betriebsratsvorsitzenden aufgreifend, wurden bei Verhandlungen in den Jahren 2001 (Auto 5000), 2004 und 2006 Arbeitszeitverlängerungen ohne zusätzliche Vergütung, die Schlechterstellung einzelner Beschäftigtengruppen sowie ein drastischer Lohnabbau vereinbart: wie 1994 »zur Sicherung von Standort und Beschäftigung«, nur als umgekehrter Weg der Arbeitszeitverlängerung. Abgesehen davon, welche Auswirkungen solche Standortpolitik auf andere Fabriken hat, lohnt ein Blick auf die Beschäftigungsentwicklung, um die Fragwürdigkeit solcher Arbeitszeitregelungen zu erkennen. (Siehe Tabelle 1)

Tabelle 1

BeschäftigungsentwicklungVW
AG und VW Wolfsburg 1987 bis 2008

1
Zeitpunkt

2
VW AG

3
Wolfsburg

4
Leistungslohn

5
Zeitlohn

6
Gehalt

1/1987
131 000
65 000
29 300
18 300
14 700
1/1993
108 000
56 000
27 200
11 600
15 400
3/1994
105 800
50 400
23 400
10 800
14 400
12/1995
100 700
48 000
20 900
10 500
14 700
12/2002
104 700
50 600
19 800
10 300
18 200
12/2004
102 500
49 800
19 000
9 800
18 500
8/2006
97 500
47 300
16 600
9 900
18 400
8/2008
89 800
43 800
14 500
9 400
18 100

Nun könnte man die Auffassung vertreten, ohne diese Tarifverträge wäre die negative Beschäftigungsentwicklung noch dramatischer verlaufen; unabhängig von der nur hypothetisch möglichen Antwort auf diese Frage bleibt die Erkenntnis, dass Beschäftigungs- und Standortsicherung keineswegs bedeuten, dass die Beschäftigung tatsächlich konstant bleibt. Allein in den Jahren von 1994 bis 2002 (vor Wirkung von Auto 5000) ist wegen der Arbeitszeitverkürzung eine relativ konstante, teils steigende Personalentwicklung zu beobachten. Mit dem Tarifabschluss 2004 geht es durch die Arbeitszeitverlängerungen mit den Beschäftigtenzahlen vor allem im Leistungslohn dramatisch bergab. Andererseits haben die verbliebenen Beschäftigten mit erheblichen Lohneinbußen, Intensivierung der Arbeit und verlängerten Arbeitszeiten zu tun. Der Unternehmensgewinn hat sich in all den Jahren, von Schwankungen abgesehen, vervielfacht; Volkswagen wurde zum drittgrößten Automobilkonzern nach Toyota und Ford.

Produktivität, Arbeitszeit und Beschäftigung

Parallel zur Arbeitszeitverlängerung haben sich Belegschaft und Produktion innerhalb des VW-Konzerns weltweit wie folgt entwickelt:

Tabelle 2

Jahr
Belegschaft

Produktion
Mio. Fahrzeuge

2004
342 500
5,0
2007
329 300
6,2

13000 Beschäftigte weniger haben 1,2 Millionen Fahrzeuge mehr produziert. Dies ging einher mit dramatischem Personalabbau in einigen Werken, z.B. in Brüssel, bei gleichzeitigem Kapazitätsaufbau in China, Indien, Russland und neuerdings in den USA. Zwar sind hier weder die Fertigungstiefe noch Fremdleistungen berücksichtigt, allerdings alle Tochterfirmen wie Auto 5000, AutoVision, Sitech und andere, die zu schlechteren tariflichen Bedingungen neue Modelle bauen, ausgelagerte Produktion übernommen haben oder Leiharbeit für VW organisieren.

Unabhängig von der Konjunktur zeigt dieses Beispiel, dass durch Absatzsteigerungen die Beschäftigung nicht zu halten ist, zumal die Konjunkturaussichten für alle Märkte eher düster sind und eine geplante Vervielfachung des Individualverkehrs mit PKW in den erhofften neuen Absatzmärkten Indien und China die Klimakrise und ökologische Katastrophe beschleunigen würde. Umgekehrt ist es zwingend erforderlich, den öffentlichen Personenverkehr in den europäischen Industrieländern, den USA und den entwickelten asiatischen Ländern zu Lasten des Individualverkehrs flächendeckend auszubauen und zu fördern. Statt jetzt Automobilhersteller mit Milliardensummen zu fördern, wie dies von Frankreich und den USA beschlossen und von der Bundesregierung geplant ist, muss dieses Geld in den Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs gesteckt werden.

Die Entwicklung der Produktivität führt unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu immer weniger Beschäftigung, zu Massenarbeitslosigkeit und millionenfacher, erzwungener Teilzeitarbeit und Unterbeschäftigung. Das liegt ursächlich daran, dass sich die Arbeitsproduktivität in den zurückliegenden Jahrzehnten immer schneller entwickelt hat als das Bruttoinlandsprodukt. In der BRD hat sich das Arbeitsvolumen, trotz steigenden Outputs, von 56 Mrd. Arbeitsstunden in 1960 über 46 Mrd. Arbeitsstunden in 1990 bis 55 Mrd. Arbeitsstunden in 2005 (einschließlich der 17 Millionen Bürger der ehemaligen DDR) entwickelt, und dies bei steigendem Erwerbspersonenpotenzial. Alles spricht dafür, dass eine stetig sinkende Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich das adäquate Mittel ist, um dieses Problem zu lösen.

Sozial gestaffelter Lohnausgleich und Zeitwohlstand

Besonders schwierig ist in dieser Zeit das Problem des Lohnausgleiches; dies nicht aus ökonomischen Gründen, sondern wegen der machtpolitischen Konstellation, der Schwäche der Gewerkschaften. Aus den Produktivitätserhöhungen könnte völlig problemlos ein Lohnausgleich für die Arbeitszeitverkürzung bezahlt werden, ohne dass die Gewinne der Unternehmen kleiner würden.[1] Wenn nur die direkten Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit von mehr als 40 Mrd. Euro zur Lösung des Problems hinzugenommen werden, so gilt die Feststellung: Arbeitslosigkeit ist teurer als Arbeitszeitverkürzung!

Um den Stillstand in der Arbeitszeitdebatte zu durchbrechen, haben WissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen in einem Aufruf zur solidarischen Verteilung von Arbeit aus dem Jahr 2006 zur Frage des Lohnausgleichs folgenden Vorschlag gemacht: »Wir plädieren für Arbeitszeitverkürzung mit sozial gestaffeltem Einkommensausgleich. Für obere Einkommensgruppen (…) scheint der vorgeschlagene Tausch von Geld gegen freie Zeit in der Regel auch ohne Lohnausgleich vertretbar. Denn in oberen Einkommensgruppen ist ein gutes Leben mit mehr Zeitwohlstand auch auf der Basis des Verdienstes von kürzeren Arbeitszeiten möglich. Für weniger Verdienende (…) sind finanzielle Ausgleiche zu schaffen. Wir schlagen vor, den Lohnausgleich dadurch zu finanzieren, dass die durch die Verringerung von Arbeitslosigkeit freiwerdenden Mittel für Ausgleichszahlungen an Bezieher unterer und mittlerer Einkommen eingesetzt werden.« Es geht also um Mittel der Arbeitslosenversicherung, die von Beschäftigten und Arbeitgebern aufgebracht werden. Zu einem Teil würden, diesem Vorschlag zufolge, die Beschäftigten den Lohnausgleich durch ihre eigenen Beiträge finanzieren – die oberen Einkommen mehr, die unteren Einkommen weniger; die Arbeitgeber wären ebenfalls beteiligt. Natürlich ist das kein Lohnausgleich aus den Profiten, wie ihn sich linke und konsequente GewerkschafterInnen vorstellen; aber durch die machtpolitischen Veränderungen, durch die wieder gestärkte Position der Gewerkschaften, ergibt sich die Möglichkeit, sich diesen Teil von den Profiten zurück zu holen. Gegenwärtig haben wir die Situation, dass in vielen Betrieben (siehe oben die Beschreibung von VW) Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich, häufig mit Lohnsenkungen verbunden wird. Im Übrigen orientiert sich der Vorschlag des sozial gestaffelten Lohnausgleiches, z.T. finanziert aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung, an der Systematik der Altersteilzeit, für dessen Verlängerung die Gewerkschaften eintreten. Auch vergangene Arbeitszeitverkürzungen wurden oft ohne vollen Lohnausgleich durchgesetzt.

Nur eine radikale Arbeitszeitverkürzung – auch die 30-Stunden-Woche bzw. die 4-Tage-Woche wäre hier nur ein erster Schritt – hilft, das Problembündel zu lösen, das nicht nur in unfreiwilliger Unterbeschäftigung, sondern auch im Ungleichgewicht der internationalen Arbeitsteilung, dem Ungleichgewicht in der Arbeitsteilung der Geschlechter bezogen auf Erwerbsarbeit, Versorgungsarbeit, Bürgerarbeit und Eigenarbeit bzw. Freizeit liegt. Für die Diskussion ist die starke Segmentierung des Arbeitsmarktes ein wichtiger Anknüpfungspunkt, die gravierenden Ungleichheiten zwischen Ost und West, zwischen Frauen und Männern, zwischen Jung und Alt, zwischen jungen MigrantInnen und lange in Deutschland lebenden, hier entstandenen Familien. Gute Arbeit, wie sie von den Gewerkschaften seit geraumer Zeit in den Mittelpunkt gestellt wird, ist eben auch kurze Arbeit(szeit) und eine gerechte Verteilung aller Arbeit und der arbeitsfreien Zeit.

Viele Akteure und Wege – ein Ziel? Die nächsten Schritte:

Das Thema Arbeitszeitverkürzung hat für die Gewerkschaften gegenwärtig keine Priorität, weil sie sich in der Defensive sehen. Aus dieser Situation kommen die Gewerkschaften nur heraus, wenn das Erpressungspotential von Millionen Arbeitslosen kleiner wird und verschwindet – das wiederum geht nur durch Arbeitszeitverkürzung. Es gibt weitere Themen und entsprechend weitere Akteure wie Sozialbewegungen, Kirchen, Frauenbewegung und viele mehr, die auf verschiedenen Wegen auf das gleiche Ziel zulaufen. Für diese Vielfalt an Akteuren ist, wenn wir erfolgreich sein wollen, ein gemeinsames Projekt zu definieren und ein Bündnis zu entwickeln. Keine Kraft, die auf sich allein gestellt Arbeitszeitverkürzung, Mindestlohn oder Grundeinkommen durchsetzen will, ist in der gegenwärtigen Situation dazu in der Lage. Deshalb ist es erforderlich und sinnvoll, die dazugehörigen Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Anspruch auf ein Leben in Würde, demografische Entwicklung, Gesundheit und weitere gemeinsam zu diskutieren. Das macht die Debatte nicht einfacher, bietet aber mehr Aussicht auf Erfolg.

Arbeitszeitverkürzung erfordert zudem einen Mindestlohn als Schutz vor uferloser Absenkung sowie ein existenzsicherndes und diskriminierungsfreies Grundeinkommen für diejenigen, die durch Produktivitätssteigerungen aus dem System der Erwerbsarbeit geworfen werden oder etwa aufgrund mangelnder Ausstattung von Kindergärten bzw. des dreigliedrigen Schulsystems gar keinen Zutritt dazu bekommen.

Das Arbeitsvolumen wird, die Produktivitätsentwicklung berücksichtigt, in den Industrieländern nicht steigen, sondern sinken. Der Traum der Menschen, für ein gutes Leben weniger arbeiten zu müssen, wird wahr. Die Menschen werden dadurch partiell von der Arbeit befreit, die Befreiung in der Arbeit bleibt in der verbliebenen kürzeren Arbeitszeit Aufgabe der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften.

Seitens der bundesweiten attac-Arbeitsgruppe »ArbeitFairTeilen« (www.attac-netzwerk.de/ag-arbeitfairteilen externer Link) wurde ein neuer Vorstoß unternommen, das Thema stärker in die öffentliche Debatte zu bringen. Dafür gibt es folgende zwei Ansätze:

  1. Alle Anstrengungen der Unternehmer und der Regierenden, die Arbeitszeiten weiter zu verlängern, sind strikt und entschlossen zurückzuweisen. Dazu gehört, die vom EU-Ministerrat beschlossene neue EU-Arbeitszeitrichtlinie zu verhindern. Diese Richtlinie verkehrt nicht nur das EuGH-Urteil, wonach Bereitschaftszeiten als Arbeitszeiten gewertet werden müssen, ins Gegenteil, sondern eröffnet auf tariflicher oder gesetzlicher Basis wöchentliche Arbeitszeiten von bis zu 78 Stunden. Angesichts der derzeitigen Schwäche der Gewerkschaften und der Konkurrenz zwischen den Ländern (Standorten) innerhalb der EU ist klar, wie schnell daraus ein Trend zur Arbeitszeitverlängerung würde. Das EU-Parlament muss dieser Richtlinie noch zustimmen, damit sie in Kraft treten kann. Im Vorfeld der Wahlen zum EU-Parlament in 2009 sollte es gelingen, die Abgeordneten – und sei es aufgrund ihres Selbsterhaltungstriebes – dafür zu gewinnen, diesen Entwurf von Olaf Scholz und seinen europäischen KollegInnen aus Arbeits- und Sozialministerien abzulehnen. DGB und EGB haben ihre Ablehnung bereits deutlich gemacht, mehr als Presseerklärungen und etwas Lobbyarbeit sind aber weit und breit nicht zu sehen. Und die Unternehmerlobby ist viel zahlreicher und besser ausgestattet als der unterbesetzte EGB in Brüssel.
  2. Im Bundesrat sollte über ein besonders betroffenes und von der SPD oder SPD/»Die Linke« regiertes Land eine Gesetzesinitiative eingebracht werden, um freiwillige Arbeitszeitverkürzung analog dem Altersteilzeitgesetz zu ermöglichen. Wir wissen, dass eine so genannte »kurze Vollzeit« von 30 Arbeits-Stunden pro Woche den Wünschen vieler berufstätiger Menschen entspricht. Dies beinhaltet die Möglichkeit der Verkürzung der Arbeitszeit einschließlich gestaffeltem Lohnausgleich für diejenigen, die heute (zu) lange arbeiten und die Verlängerung der Arbeitszeit derjenigen, die in Mini-Jobs oder unfreiwilliger Teilzeitarbeit zu kurz, vor allem nicht existenzsichernd, arbeiten. Zu dieser Initiative gibt es einen Aufruf »für ein Gesetz, das Arbeitsplätze schafft durch Umverteilung von Arbeit« (www.attac-netzwerk.de externer Link) und eine Unterschriftensammlung, deren Zweck vor allem darin besteht, mit vielen Menschen aus den genannten Spektren ins Gespräch zum Thema Arbeitszeit zu kommen.

Schließlich, im übernächsten Schritt, wird es darum gehen, auf tariflicher und gesetzlicher Grundlage die Arbeitszeit entsprechend der Produktivitätsentwicklung weiter zu reduzieren. Das nächste Ziel sollte die 4-Ta-ge-Arbeitswoche sein, um den Freizeiteffekt in besonderer Weise spürbar zu machen, Fahrten zur Arbeit zu reduzieren und eine wesentlich verbesserte Vereinbarung von Erwerbsarbeit und Familie/Beziehungsarbeit zu ermöglichen.

In allen Arbeitszeitkämpfen hat sich herausgestellt, dass das Fehlen von guten gesetzlichen Regelungen von den Unternehmern in der Krise genutzt wird, um die tariflichen Standards zu unterlaufen und zu senken. Gesetzliche Reduzierung der Arbeitszeit sollte deshalb als politisches Projekt der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken diskutiert und vereinbart werden. Wir brauchen beides: Gute Tarifverträge und gute gesetzliche Regelungen. Gerade in dieser Zeit der strukturellen Schwäche der Gewerkschaften ist es erforderlich, dass gesetzliche Leitplanken eingezogen werden. Der Diskussion dieses Projektes dienen die genannten Initiativen.

* Stephan Krull ist Mitglied der Delegiertenversammlung der IG Metall in Wolfsburg, aktiv in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und der attac AG ArbeitFairTeilen.

Lesetipp: attac-Basis-Text 27, Bontrup/Niggemeyer/Melz: »Arbeitfairteilen«, VSA Hamburg 2007, ISBN 978-3-89965-249-9

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/08


(1) Ohne Umverteilungskomponente (Erhöhung der Lohnquote) kann Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich im Rahmen des Produktivitätszuwachses preis- und verteilungsneutral erfolgen. Durch Produktivitätszuwachs steigt bei gleichem Arbeitsvolumen und reduzierter Arbeitszeit der Arbeitskräftebedarf einerseits, der Umsatz andererseits. Ohne Veränderung von Lohn- und Gewinnquote können mehr Beschäftigte zu Entgelten wie vor der Produktivitätserhöhung und Arbeitszeitverkürzung beschäftigt werden (Rechenbeispiel siehe Bontrup/Niggemeyer/Melz: ArbeitFairTeilen, VSA 2007, S. 77-79).

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