Seit biblischen Zeiten wissen die Menschen, dass anhaltendem Hochmut der tiefe Fall folgt. Das müssen jetzt die Eigentümer, Manager und leider auch die Beschäftigten von Volkswagen erfahren. Fast alle Autohersteller schummeln die Abgaswerte ihrer Fahrzeuge EU-konform. Volkswagen, Audi und Porsche jedoch haben mit krimineller Energie über zehn Jahre eine betrügerische Software in elf Millionen Fahrzeuge eingebaut und mit »Clean Diesel« eine ebenso betrügerische Offensive gestartet. Die VW-Oberen leben in ihrer eigenen »Volkswagen-Welt«, haben mit dem Käfer schon mal »die Welt erobert« und wollten nun weltgrößter Autokonzern werden: die besten und meisten Autos, den meisten Umsatz, den meisten Gewinn, die meisten und besten Beschäftigten. Das zu erreichen ist mit legalen Mitteln nicht möglich. Deshalb der millionenfache Abgasbetrug – bis im August 2015 alles aufflog. Genauer: Der Betrug geht insofern weiter, als die Dreckschleudern immer noch überall auf der Welt im Einsatz sind und die Luftqualität lebensbedrohlich verpesten.
I. »Ein technisches Problem«?
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse ein gutes Jahr später?
- Es ist nichts aufgearbeitet und veröffentlicht worden, ganz entgegen der Antrittsrede des neuen Chefs Matthias Müller, der als Porsche-Vorstandsvorsitzender vorher schon zum Konzernvorstand gehörte: »Meine vordringlichste Aufgabe wird es sein, Vertrauen für den Volkswagen Konzern zurückzugewinnen – durch schonungslose Aufklärung und maximale Transparenz« (25. September 2015 [1]). Es gebe zwar einen Zwischenbericht, doch »die Veröffentlichung wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit unvertretbaren Risiken für Volkswagen verbunden gewesen«, erläutert der gleiche Herr bei der Pressekonferenz am 28. April 2016. Man kann sich denken, worin die unvertretbaren Risiken bestehen. Der Zeitpunkt ist immer noch nicht günstig für Volkswagen, indes laufen Ermittlungsverfahren gegen Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder vor dem Braunschweiger Landgericht, strafrechtliche Untersuchungen und Anlegerklagen laufen in Deutschland, in den USA, in Kanada, in Südkorea, in Österreich, den Niederlanden und wahrscheinlich in weiteren Ländern. Der neueste Trick aus dem Hause Volkswagen: Dass Abgaswerte manipuliert wurden, hat der Autokonzern zugegeben; jetzt behauptet das Unternehmen, dass dadurch kein Gesetz in Europa gebrochen wurde. Volkswagen bestreitet sogar, dass die Stickoxid-Emissionen gesundheitsschädlich seien. [2] In den USA hatte VW das gleiche versucht, indem Müller zu Beginn diesen Jahres erklärte, die Affäre um manipulierte Dieselmotoren sei letztlich auf »ein technisches Problem« zurückzuführen – diese Lüge wurde mit weiteren Absatzeinbrüchen und drakonischen Strafzahlungen beantwortet.
- Im Fokus des Managements stehen weiter nur Expansion und Maximalprofit – ohne Rücksicht auf Klima, Umwelt und völlig andere Mobilitätsbedürfnisse. Die VW-Strategen planen E-Mobilität, Digitalisierung und »Autonomes Fahren«, als wenn sie die Erfinder einer völlig neuen Mobilität und andere Unternehmen hier nicht schon viel weiter seien.
Ein Beispiel: Der Porsche Panamera Hybrid (ab 110.000 Euro steil aufwärts) kommt mit seiner Batterie ganze 30 Kilometer weit. Die offiziellen Verbrauchs- und Abgaswerte sind top: Mit 71 Gramm CO₂ stoße er gerade mal ein Drittel seines konventionellen Gegenstücks aus – auf den ersten 100 Kilometern. Grundsätzlich sind Elektroautos, die den bisherigen Fahrzeugabmessungen und vergleichbaren Anforderungen bezüglich Reichweite und Geschwindigkeit entsprechen, in der Öko-Bilanz vom Rohstoff bis zum Recycling keinerlei Verbesserung gegenüber Verbrennungsmotoren. Jedoch: Bei VW sind weder ein kleines, zweckmäßiges Fahrzeug zu erschwinglichen Preisen noch ganz andere Projekte von Mobilität, die den unterschiedlichen Bedarfen in wachsenden urbanen Zentren einerseits und infrastrukturarmen Regionen andererseits entsprechen, in Sichtweite.
Weil der Betriebsrat auf eine externe Beratung von Volkswagen gepocht hat, wurde ein »Nachhaltigkeitsbeirat« berufen. In ihm sitzen neun »Experten«, darunter der ehemalige Postgewerkschafter und DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Der erste »Fall«, mit dem sich dieser Beirat beschäftigen soll, ist die Trennung des Unternehmens von Dr. Manfred Grieger, dem langjährigen Leiter des Unternehmensarchivs, der zwar mit dem Abgasbetrug wirklich nichts zu tun hat, sich aber um die Aufarbeitung der dunklen Geschichte von Volkswagen verdient gemacht hat und dabei wohl den Piëchs und Porsches zu sehr auf die Füße getreten ist. [3] (S. Artikel Seite 7 unten)
II. »Einfach mal machen«?
Der millionenfache Abgasbetrug hat die Krise der Automobilindustrie deutlich sichtbar gemacht: sinkende Profite, gesättigte Märkte, Verkehrskollaps in Megacities und steigende Kosten – eine Katastrophe für die Konzerne. In ihrer Not und in ihrer Gier nach Profiten greifen diese zu schwerer Wirtschafts- und Umweltkriminalität, bei Volksagen bis hin zur Aktenvernichtung! [4] Aber es geht nicht nur um VW, die gesamte Automobilindustrie ist in diese Betrügereien verstrickt, namentlich auch die Zulieferer Bosch und Continental, die die betrügerische Software geliefert haben.
Aus der Krise rückläufiger Märkte und riesiger Überkapazitäten entsteht ein Veränderungsdruck, in dessen Verlauf eine weitere Konzentration und erhebliche Verschiebungen in der Automobil- und Zulieferindustrie absehbar sind. Die Unternehmen nehmen solche Situation als Chance, Kosten, insbesondere Personalkosten, zu senken, die Arbeitsintensität zu erhöhen, die Ausbeutung zu verschärfen. Es ist noch offen, wer kapituliert und wer als vorläufiger Sieger aus dieser mörderischen Konkurrenz hervorgehen wird. Sichtbar ist, dass sich die Kräfteverhältnisse zugunsten Chinas verschieben. In diesem Kampf ist der Untergang bisheriger Auto-Imperien absehbar.
Volkswagen hat dabei in Folge des Abgasbetrugs schlechte Karten wegen zu geringer Rückstellungen für Strafzahlungen und Rückrufaktionen, wegen geringerer Umsätze und deutlich niedrigerer Gewinne; letztere stammen fast ausschließlich aus China und dem Verkauf von Beteiligungen (Leaseplan und Suzuki). Der rückläufige Absatz von VW wird darüber hinaus mit fetten Rabatten, »Kaufanreizen« und umfangreichen Eigenzulassungen bezahlt, was in der Strategie eigentlich nicht vorgesehen ist.
Trotz drastischer Absatzeinbrüche in USA, Großbritannien, Kanada, Russland und Brasilien, trotz faktischer Fabrikschließungen in Dresden und im argentinischen Pacheco, trotz der Entlassung von annähernd 3.000 LeiharbeiterInnen in Deutschland hat Volkswagen in den letzten Wochen neue Werke in Mexiko und Polen in Betrieb genommen, damit die Überkapazitäten vergrößert und die Konkurrenz weiter angeheizt. Im nördlichen Sachsen-Anhalt ist die Erwerbslosigkeit bereits gestiegen – ehemalige Leiharbeiter und bei Zulieferern Beschäftigte stehen wegen des Abgasbetruges auf der Straße, wie der Chef der Stendaler Arbeitsagentur bestätigte (Altmark Zeitung, 2. November 2016).
Ein Fiasko ist der Abgasbetrug für Kommunen wie Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter oder Emden, die bis zu 70 Prozent weniger bei den Gewerbesteuern einnehmen und deshalb Haushaltsperren verhängten – und in deren Folge wieder für die Bürgerinnen und Bürger: »In Braunschweig sollen Eltern bald wieder Kitagebühren zahlen. Hintergrund der Wiedereinführung sind die Löcher in der städtischen Kasse – die auch durch den VW-Abgasskandal gerissen wurden. Auch Wolfsburg will die fehlenden Einnahmen über die Kita-Gebühren teilweise wieder reinholen.« [5]
In anderen kommunalen Zusammenhängen zeigt Volkswagen sich scheinbar großzügig. So wurde mit Hamburg, jüngst auch mit Dresden, eine »strategische Mobilitätspartnerschaft« vereinbart. Im Rahmen des Projektes soll sich Hamburg zu einer Modellstadt für eine nachhaltige und integrierte Mobilität entwickeln. Die Schwerpunkte der Partnerschaft sind urbane Mobilitätskonzepte und Intermodalität, Verkehrssteuerung und -management, autonomes Fahren und Parken, innovative Fahrzeugkonzepte und alternative Technologien sowie Luftreinhaltung. Intelligente Mobilitätslösungen nach Maß sollen den individuellen Personentransport und den Güterverkehr nachhaltig verbessern. Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnik sowie innovativen Technologien im Verkehrsbereich, die Erhöhung der Verkehrssicherheit, die Verlässlichkeit und die Effizienz im Verkehr sowie die Senkung verkehrsbedingter Emissionen sollen gefördert werden [6] – neoliberales Wortgeklingel, das darauf hinausläuft, die Stadt als Beute zu nehmen und an die Interessen und Bedürfnisse der Autoindustrie anzupassen. »Es geht darum«, so Müller bei der Unterzeichnung am 29. August 2016 in Hamburg, »Denkbarrieren zu überwinden, Innovationen gemeinsam voranzutreiben und Dinge einfach mal zu machen, statt darauf zu warten, dass andere es tun. Mit unserer Expertise und unseren Ideen wollen wir dazu beitragen, dass Hamburg zur Modellstadt für intelligenten Verkehr wird.« Das lässt nichts Gutes erwarten.
III. »Sharing-Ökonomie«: unser aller Mobilität?
Die Strategie von Volkswagen besteht darin, einerseits mit E-Mobilität und Autonomem Fahren technisch nach vorn zu kommen, andererseits durch Personalkostenreduzierung und Arbeitsverdichtung die Gewinne zu erhöhen.
Das Unternehmen erklärt dazu: »Damit hat der Vorstand den Startschuss für den größten Veränderungsprozess in der Geschichte des Volkswagen-Konzerns gegeben. Mit dem Zukunftsprogramm Together – Strategie 2025 wird der Volkswagen-Konzern fokussierter, effizienter, innovativer, kundennäher, nachhaltiger – und konsequent auf profitables Wachstum ausgerichtet.« [7] Dem wird sich auch der Zukunftspakt mit dem Betriebsrat unterzuordnen haben, der nicht »Sanierungstarifvertrag« genannt werden darf, mit dem aber die deutschen Werke auf Rendite getrimmt werden sollen: Ein Stellenabbau von ca. 20 Prozent (nach Redaktionsschluss wurde am 18. November bekannt, dass VW 30.000 Stellen weltweit streichen will, davon ca. 20.000 in Deutschland – wenn möglich ohne Kündigungen; Anm. d. Red.) bei gleichzeitiger Erhöhung des Outputs führt zu Arbeitsverdichtung in allen Bereichen. Personalchef Blessing sagt dazu: »[W]ir müssen Produktivität und Profitabilität steigern, Kosten senken. Volkswagen muss effizienter entwickeln, produzieren und wirtschaften.« Der Sozialdemokrat und ehemalige Gewerkschaftssekretär beim Vorstand der IGM Blessing ist – nach der Position des Arbeitsdirektors bei der Dillinger Hütte – nun auch bei VW wieder in der Spur von Peter Hartz.
Zur Strategie sei angemerkt, dass VW in der E-Mobilität hinter der Konkurrenz zurückliegt und die Anforderungen, die China demnächst an zuzulassende Autos stellen wird, nicht erfüllen kann. Insbesondere das sogenannte Autonome Fahren erfordert an Straßen und in Städten eine Infrastruktur, deren Aufbau Jahrzehnte dauern würde und die gegen die Interessen der EinwohnerInnen kaum durchsetzbar sein wird – vom »Nutzen« solcher Projekte und vom Preis der entsprechenden Fahrzeuge ganz abgesehen. Deutlich wird der eklatante Rückstand an folgenden Beispielen: Weil VW und andere nicht liefern konnten bzw. wollten, hat die Deutsche Post ein eigenes Unternehmen etabliert: StreetScooter. In Aachen werden Elektrofahrzeuge für den Kurzstreckeneinsatz entwickelt und produziert. Es geht dabei um Fahrzeuge für die Zustellung auf der sogenannten »letzten Meile« – eine Entfernung und Geschwindigkeit, die der Alltagsnutzung der meisten Autofahrer entspricht. Kommunale Einrichtungen, Logistikdienstleister sowie andere Unternehmen setzen auf StreetScooter. Mit dem Entwicklungs- und Produktionsansatz gelang es, innerhalb von weniger als 18 Monaten das Elektrofahrzeug Compact zu präsentieren. Darauf basierend wurden ein auf die Bedürfnisse der Post ausgelegtes Elektrofahrzeug und spezielle Komponenten entwickelt – der »Work«. Dieses in enger Kooperation mit Zustellern der Post entwickelte Nutzfahrzeug ist seit 2014 im bundesweiten Flottentest bei der Post. Die Serienproduktion des »Work« und der Komponenten ist im Jahr 2015 angelaufen. Volkswagen ist dagegen mit dem Versuch, mit Quicar in das CarSharing-Geschäft einzusteigen, nach wenigen Jahren gescheitert, hat sich stattdessen teuer (300 Mio. Euro) in den »Uber-Killer« Gett eingekauft, der bisher einen bescheidenen Umsatz von unter 500 Mio. Euro und keinen Gewinn zu vermelden hat.
»Unser Kernprodukt ist künftig zunehmend nicht mehr nur das Auto«, sagte VW-Chef Müller während der Pressekonferenz in Berlin. »Wir wollen vom Automobilhersteller zum Anbieter von Mobilität werden.« Stichwort: Ride-Hailing. Darunter versteht der VW-Boss alles, was Menschen und Dinge mithilfe von digitalen Lösungen bewegt – vom Chauffeur-Dienst bis hin zu Gütertransporten per Knopfdruck. [8]
IV. Solidarität mit wem?
Eine exklusive »Solidarität« mit den Beschäftigten der Stammbelegschaft verbietet sich, wenn diese dabei sind, die Betriebsgemeinschaftsideologie wieder frisch erblühen zu lassen, alle »Feinde« außerhalb des Betriebes und außerhalb des »eigenen« Landes, vornehmlich in den USA, sehen und mehr oder weniger zuschauen, wenn KollegInnen, die als Leiharbeiter beschäftigt sind, entlassen werden. Folgende Losung steht dafür beispielhaft, ist aber bei Weitem nicht die schlimmste: »Volkswagen und IG Metall: Ein Team – eine Familie!«
Wenn der Abgas-Betrug nicht zu einer radikalen Wende in der Produktpolitik, in der Orientierung auf Maximalprofit führt, wenn nicht eine gesellschaftliche Planung im Sinne einer Wirtschaftsdemokratie durchgesetzt werden kann, steuert dieses Unternehmen wie die gesamte kapitalistische Ökonomie auf eine Katastrophe zu. Das zu erkennen, zu formulieren und zu diskutieren, ist anspruchsvoller, als Solidarität mit … ja man weiß nicht genau wem, einzufordern. Es ist Aufgabe auch der gewerkschaftlichen Linken, richtige Forderungen zu entwickeln, in der Belegschaft und in der Gewerkschaft zur Diskussion zu stellen und diesen zum Durchbruch zu verhelfen, zum Beispiel solche:
- Der Porsche-Piëch-Clan hat viele Milliarden Profit kassiert und muss für die Folgen des Betruges zur Kasse gebeten werden. Konkret muss die Porsche Automobil Holding SE als Hauptgesellschafter von Volkswagen für die entstehenden Schäden in Haftung genommen werden, der Umbau des Konzerns ist mit deren Mitteln zu finanzieren. Dazu sind alle gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen, so auch die Möglichkeit der Vergemeinschaftung von Eigentum nach Artikel 14 und 15 unseres Grundgesetzes. Das gilt auch für die Qatar-Holding, die Investmentsparte des Terrorstaats Qatar, der mit fast 20 Prozent an den Stammaktien beteiligt ist.
- Auf der Produktionsseite muss entschieden umgesteuert werden. Die bisherige Technologie, die bisherige Produktion und die Orientierung auf maximalen Profit sind untauglich, die gesellschaftlichen Anforderungen zu erfüllen. Da die Unternehmensleitung keinen Plan B hat, muss dieser Plan gesellschaftlich entwickelt werden: Der Staat, die Beschäftigten, die Gewerkschaft, Umweltverbände und Wissenschaft verständigen sich auf die Richtung einer anderen Produktion und einer anderen Mobilität. Die besondere Mitbestimmung durch das VW-Gesetz ebenso wie das Land Niedersachsen mit seiner Sperrminorität ermöglichen diese sozialökologische Wende mit starken wirtschaftsdemokratischen Elementen.
- Die weitere Massenmotorisierung verträgt sich nicht mit den begrenzten Ressourcen der Erde und mit dem Gebot, den Klimawandel zu stoppen. Es bedarf einer grundsätzlich anderen Verkehrspolitik: weg vom motorisierten Individualverkehr, hin zu einem umweltfreundlichen und kostengünstigen öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Dieser Paradigmenwechsel bedarf der gesellschaftlichen Planung und der Mitbestimmung von Produzenten und Konsumenten. Dabei kann Volkswagen auch aufgrund der entwickelten Mitbestimmung ein Vorreiter werden!
So gewendet kann diese Krise Chance für sinnvolle und erforderliche Transformation sein. Es liegt an den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften, an der Linken, an der internationalen Solidarität und an globalen Klimaallianzen, ob diese Chancen genutzt werden. Die Alternative dazu wäre eine Marktbereinigung zulasten von vielen Städten und Gemeinden, von Hunderttausenden Beschäftigten und zugunsten der verbliebenen Autokonzerne – und hätte im Ergebnis mit wirklicher Solidarität, mit der Wahrnehmung wohlverstandener eigenen und kollektiver Interessen nichts zu tun.
V. Statt »End of the pipe«: anders vorwärts
Ein Neustart ist möglich und notwendig, wird auch von der Gewerkschaft und vom Betriebsrat eingefordert! Wohlverstandene Solidarität mit den Beschäftigten bedeutet, einen Weg aus der Sackgasse zu finden. Der Kampf um Wirtschaftsdemokratie, ein aktuelles Projekt der IG Metall, bietet sich als Aktionsmöglichkeit an. Die Voraussetzungen bei VW sind dafür wegen des VW-Gesetzes und der Mehrheitsverhältnisse im Aufsichtsrat günstiger als bei vielen anderen Unternehmen. Damit müssen real-utopische Ideen, ökologisch und sozial nachhaltige Alternativen zu Individualverkehr und Profitmaximierung verbunden werden. Notwendige Veränderungen sind komplex, sie betreffen Produkt, Produktion und damit technische, soziale, ökologische, ökonomische, juristische, ethische und politische Prozesse:
- Technisch geht es um die Frage: Aufrüsten oder Umrüsten? Weg von zwei Tonnen Stahl und monströser Technik auf vier Gummirädern zwecks Transport von einer Person von A nach B – hin zu bedarfsorientiertem öffentlichem Personen- und Güterverkehr auf Schienen, Wasserwegen und – soweit unvermeidbar – auf Straßen, sicherlich nicht in kleinen privaten Autos, die zu 90 Prozent Stehzeuge und nicht Fahrzeuge sind.
- Sozial geht es um »Gute Arbeit« versus Profitmaximierung – jüngste Schlagzeile dazu: »VW-Werker und Roboter arbeiten jetzt Hand in Hand« [9]. In dieser Vision wird es einsam um die Kolleginnen und Kollegen in den Werkshallen. Der Robby macht keine Pause, trinkt keinen Kaffee, spielt keine Karten und erzählt nix von zu Hause. Der Tarifvertrag und die Gewerkschaft sind dem auch schnuppe. Schon ist nur noch von »Effizienz« die Rede, »die Familie« (ein Synonym für den Porsche-Piëch-Clan) fordert den Betriebsrat zu Gesprächen über Personalabbau auf, ein größerer Einzelaktionär (der britische Hedgefonds TCI) wie auch die Staatsholding von Qatar sprechen bereits von 30.000 überflüssigen Arbeitsplätzen, übertrieben hohen Löhnen und einem zu großen Einfluss der Gewerkschaften (Managermagazin, 7. Mai 2016). Digitalisierung und Robotisierung sollten jedoch zur Erleichterung von Arbeit und zu einer radikalen Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung führen.
- Ökologisch geht es um sehr vieles: um Klimabelastungen bzw. deren Vermeidung, um Gesundheit, um Flächenverbrauch und Flächenversiegelung, um Ressourcenschutz und in diesem Zusammenhang auch um Krieg und Frieden, um die Möglichkeit oder die Blockierung alternativen Verkehrs. Wir erleben gegenwärtig den Weltuntergang in Zeitlupe – wir können zuschauen oder eingreifen.
- Ökonomisch geht es um Profit und darum, dass der Staat bzw. die Staaten die Autoindustrie mit Milliarden subventionieren (Abwrackprämie, E-Mobilität): sei es direkt, wie etwa bei den 900 Mio. US-Dollar für das VW-Werk in Chattanooga (inkl. Anti-Gewerkschaftsklausel), den 130 Mio. Euro für die Produktion eines neuen Produkts in der Slowakei oder die Sonderwirtschaftszonen in Mexiko und Polen, oder auch indirekt durch Steuererleichterungen, Steuerverzicht, Infrastrukturleistungen, Rabatte auf Energie, Wasser, Abwasser usw. Es geht darum, die ungerechte Verteilung vom Kopf auf die Füße zu stellen.
- Ethisch geht es um die Frage, ob wir so leben wollen, ob wir so arbeiten, produzieren und konsumieren wollen. Diese Produktionsweise ist mit unendlich vielen Ungerechtigkeiten behaftet, sie ist zerstörerisch und tödlich für viele Menschen – ähnlich wie die Rüstungsproduktion. Jede Waffe findet ihren Krieg – allein in Deutschland starben im vergangenen Jahr 3.500 Menschen bei Verkehrsunfällen, weltweit sind es 1,2 Millionen, mehr als 300 Tote pro Tag!
- Juristisch geht es nicht in erster Linie um den Abgasbetrug, nicht um die Frage, ob da auch die Finanzbehörden betrogen wurden und wer für diesen Schaden aufkommt – obwohl allein die angelaufenen Klagen dem Unternehmen das Genick brechen können. Vor allem geht es um die Eigentums- bzw. die Verfügungsfrage. »Die Familien«, der Porsche-Piëch-Clan, und der Terrorstaat Qatar haben von dem Abgasbetrug profitiert, diese Profite quasi als Hehler aber längst privatisiert durch Dividendeneinnahmen der zurückliegenden zehn Jahre. Wie verhält es sich denn da mit dem Eigentum, das dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll und widrigenfalls enteignet werden kann (und das trifft dann sicher nicht nur auf VW zu)? Jeder Dieb und Hehler muss das Diebesgut abgeben – warum nicht die Großaktionäre von Volkswagen?
- Politisch geht es um die Rolle des Staates, der von der damaligen Besatzungsmacht als Treuhänder für das Werk eingesetzt wurde, das von Porsche und den Nazis mit geraubtem Gewerkschaftsvermögen und Zwangs- und Sklavenarbeit errichtet wurde. Schon von der CDU-Regierung unter Adenauer wurden Teile des Unternehmens privatisiert, Kohl hat dann in der Koalition mit der FDP den Rest von Anteilen des Bundes verschleudert. Lediglich das Land Niedersachsen hat – ungeachtet der jeweiligen Regierungskonstellation – an seinen Anteilen am Unternehmen festgehalten. Alle neoliberalen Politiker verweigern sich einer aktiven Wirtschaftspolitik – diese ist aber erforderlich, wenn Wirtschaftsdemokratie durchgesetzt werden soll. Das Land als Großaktionär und die IG Metall bzw. der Betriebsrat verfügen über 12 von 21 Stimmen im Aufsichtsrat.
Sichtbar ist leider, dass die IG Metall ebenso wie die Landesregierung wenig Interesse daran zeigt, diese Mehrheit als politisches Instrument einzusetzen. Der vormalige IGM-Vorsitzende Berthold Huber hat in einer prekären Situation, beim Showdown zwischen Piëch und Winterkorn, als amtierender Vorsitzender des Aufsichtsrates keinerlei Anstalten gemacht, irgendetwas im Sinne von Wirtschaftsdemokratie zu gestalten.
Sozial und ethisch geht es aber auch und vor allem um die Frage, welche Alternativen den Beschäftigten geboten werden, wenn sie anderes auf andere Weise produzieren sollen. Abgesehen davon, dass wir ihnen das nicht vorschreiben wollen oder können, sondern mit ihnen beraten müssen, stehen wir in der Verantwortung, über Möglichkeiten und Chancen nachzudenken, Alternativen und Perspektiven vorzuschlagen.
* Stephan Krull, bis 2006 Mitglied des Betriebsrates bei VW in Wolfsburg, ist Koordinator des Projektes »Zukunft der Automobilindustrie« bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen und Herausgeber eines kritischen Geschichtsbuches zu VW: »Volksburg – Wolfswagen, 75 Jahre ›Stadt des KdF-Wagens‹, Ossietzky-Verlag 2013