Im Gespräch mit Karl Marx: Die Kritik der politischen Ökonomie

In Vorbereitung eines Seminars hatte ich Gelegenheit, Karl Marx zu interviewen.

Marx und Engels haben herausgearbeitet, dass im Kapitalismus alles zur Ware und den Profitinteressen untergeordnet wird. Die beiden haben sich wissenschaftlich mit der Situation der Arbeiter*innenklasse auseinandergesetzt – wenngleich sie auch politisch aktiv waren. Hier ein fiktives Interview, überwiegend mit Original-Zitaten:

Lieber Kollege Marx, wie bist Du, schöpfend aus der klassischen englischen Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo, zu Deiner Kritik der politischen Ökonomie gekommen?

Marx: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. Die Lage der arbeitenden Klasse ist der tatsächliche Boden und Ausgangspunkt aller sozialen Bewegungen der Gegenwart, weil sie die höchste, unverhüllteste Spitze unsrer bestehenden sozialen Misere ist.“

Der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit

Wodurch, lieber Marx, sind die heutigen Klassenauseinandersetzungen gekennzeichnet?

Marx: Nach meinen Erkenntnissen stellt das Proletariat die Klasse der entwurzelten, besitzlosen und ausgebeuteten Lohnarbeiter (Proletarier) dar, die nur ihre Arbeitskraft besitzen und diese als Ware an den Eigentümer der Produktionsmittel verkaufen müssen, um existieren zu können. Die Klasse der Kapitalisten strebt nach maximalem Profit und beutet die Arbeiterinnen und Arbeiter aus, der Lohn entspricht nicht dem Ergebnis der geleisteten Arbeit. Aus diesem Ausbeutungsverhältnis entsteht ein Interessengegensatz, ein unauflöslicher Klassenwiderspruch (Klassenantagonismus).

Die Rolle des Staates

Und was, lieber Karl, hat der Staat damit zu tun?

Marx: „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, …, daß … die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. …Ich betrachte das System der bürgerlichen Ökonomie in dieser Reihenfolge: Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit; Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt. Unter den drei ersten Rubriken untersuche ich die ökonomischen Lebensbedingungen der drei großen Klassen, worin die moderne bürgerliche Gesellschaft zerfällt; der Zusammenhang der drei andern Rubriken springt in die Augen.“

Profitmaximierung

Wie kann man die vielfältige Bedeutung von Kapital und kapitalistischer Produktionsweise auf einen Nenner bringen?

Marx: „Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise. Der Profit ist das belebende Feuer, das treibende Motiv in der kapitalistischen Produktion.“

Bourgeoisie und Proletariat

Und welche Rolle spielt die bürgerliche Klasse dabei?

Marx: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier. Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendigt, dass er seinen Arbeitslohn ausgezahlt erhält, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.“

Und wie sieht die andere Seite des Klassenkampfes aus, lieber Marx?

Marx: „Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren. Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf. Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Wert und Mehrwert

Und, lieber Marx, was hat es jetzt mit dem Mehrwert auf sich?

Marx: „Der Wert einer Ware spiegelt die Arbeitszeit (gesellschaftlich notwendige Arbeit) wieder, die gebraucht wird, um die Ware herzustellen. Der Preis der Ware Arbeitskraft besteht also in den Kosten der Reproduktion dieser Ware (Ernährung, Kleidung, Wohnung, Bildung für die arbeitende Person und ihre Familie). Wir wissen jedoch bereits, dass der Arbeitsprozess über den Punkt hinaus fortdauert, wo ein bloßes Äquivalent für den Wert der Arbeitskraft reproduziert und dem Arbeitsgegenstand zugesetzt wäre. Statt der 6 Stunden, die hierzu genügen, währt der Prozess z. B. 12 Stunden. Durch die Betätigung der Arbeitskraft wird also nicht nur ihr eigener Wert reproduziert, sondern ein überschüssiger Wert produziert. Dieser Mehrwert bildet den Überschuss des Produktenwerts über den Wert der verzehrten Produktbildner, d. h. der Produktionsmittel und der Arbeitskraft.“[

Hört sich ganz schön kompliziert an, Herr Marx.

Marx: Ist halt ein bisschen verschleiert, dieser Wert. Ebenso wie „Wert“ ist „Mehrwert“ eine ökonomische Kategorie, die nur im Kapitalismus volle Gültigkeit besitzt. Ökonomisches Ziel aller vorkapitalistischen Gesellschaften war die Produktion von Gebrauchswerten, also von konkret nützlichen Gegenständen. Soweit die unmittelbaren Produzenten (z. B. Bauern) mehr Gebrauchswerte produzierten, als sie selbst verbrauchten, gab es ein Mehrprodukt. Die Aneignung dieses Mehrprodukts durch herrschende Klassen geschah in der Regel unmittelbar durch Zwang (Fronarbeit, den „Zehnten“ …). Dem Kapitalismus dagegen geht es nicht um die Aneignung von Gebrauchswerten. Ziel des Wirtschaftens unter kapitalistischen Bedingungen ist vielmehr die Erzeugung und Aneignung von Mehrwert. „Mehrwert“ ist das spezifische Produkt der kapitalistischen Wirtschaftsweise.

Ausbeutung

Und das, lieber Marx, ist dann Ausbeutung?

Marx: Durch die Theorie des Mehrwerts erkläre ich, wie im Kapitalismus Ausbeutung möglich ist, obwohl die Lohnarbeiter als formal freie Subjekte, wenn sie ihre Arbeitskraft wie eine Ware verkaufen, gemäß dem Wertgesetz grundsätzlich das Äquivalent dessen bekommen, was ihre Arbeitskraft wert ist. Auf der Basis der Marktgesetze ist der Kapitalismus also grundsätzlich nicht „ungerecht“. Das Ungerechte und Ausbeuterische besteht darin, dass der Kapitalist sich den Mehrwert alleine aneignet und darüber verfügt, obwohl er den geringsten Beitrag zum Produkt geleistet hat. Wenn Geld zu Kapital wird, ändert sich der Geldkreislauf qualitativ: Geld-Ware-mehr Geld (G-W-G‘). Damit diese Formel für den Kapitalisten ökonomisch sinnvoll ist, kommt es auf das G‘ an, d. h. auf die Vergrößerung der ursprünglichen Geldsumme („Mehrwert“). G‘ – das den so genannten Mehrwert beinhaltet – wird als neues G wieder Ausgangspunkt der Formel, der Kreislauf beginnt von vorne; diese Formel zielt also auf eine endlose, spiralförmige Bewegung ab. Entscheidend ist hier alleine die Vermehrung des Werts, der Gebrauchswert ist hier bloß Voraussetzung der Verkäuflichkeit. Nach meinen Untersuchungen kann die Kapitalvermehrung nicht aus der Sphäre der Waren-Zirkulation erklärt werden: Wenn z. B. der Kapitalist als Verkäufer einen Preisaufschlag erheben könnte, müsste er ihn als Käufer beim „G-W“ wieder verlieren. Die Wertvergrößerung muss also aus der Benutzung der gekauften Ware entspringen: Sie entsteht durch Kauf und produktive Anwendung der menschlichen Arbeitskraft. Damit das Geld in der Hand des Kapitalisten zum Kommandomittel über menschliche Arbeit wird, ist das Vorhandensein einer eigentumslosen Klasse unterstellt, die keine Mittel besitzt, um selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen – also auch kein anderes Lebensmittel hat, als ihre eigene Arbeitskraft zu verkaufen: Der „doppelt freie Lohnarbeiter“. Doppelt frei in dem Sinne, dass der Lohnarbeiter im Unterschied zum Sklaven oder Leibeigenen frei ist seine Arbeitskraft zu verkaufen, an wen er will, aber auch „frei“ ist von Eigentum an Produktionsmitteln, so dass er dann doch wieder gezwungen ist – aber eben anders als Sklave und Leibeigener –, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Rechnerisch ist der Mehrwert dann die Differenz zwischen dem Wert geleisteter Lohnarbeit und dem gezahlten Lohn.

Geld, Kapital und die ursprüngliche Akkumulation

Aber der Unternehmer, Herr Kollege Marx, hat doch das Kapital beigetragen.

Marx: „“Man hat gesehen, wie Geld in Kapital verwandelt, durch Kapital Mehrwert und aus Mehrwert mehr Kapital gemacht wird. Indes setzt die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert, der Mehrwert die kapitalistische Produktion, dieser aber das Vorhandensein größerer Massen von Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Warenproduzenten voraus. Diese ganze Bewegung scheint sich also in einem fehlerhaften Kreislauf herumzudrehen, aus dem wir nur hinauskommen, indem wir eine der kapitalistischen Akkumulation vorausgehende „ursprüngliche“ Akkumulation („previous accumulation“ bei Adam Smith) unterstellen, eine Akkumulation, welche nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt.

Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biss in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei. So kam es, dass die ersten Reichtum akkumulierten und die letzteren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten. Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eignen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziert sie auf stets wachsender Stufenleiter. Der Prozess, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts anderes sein als der Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozess, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als „ursprünglich“, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet. Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden. Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. Ihre Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihenfolge und in verschiedenen Geschichtsepochen.“

Krisen und Krisenzyklus

Und was, lieber Herr Marx, hat es jetzt mit den Krisen auf sich?

Marx: Ich gehe davon aus, und das ist empirisch belegt, dass die kapitalistische Wirtschaft periodisch von Krisen heimgesucht wird. Der Krisenzyklus ist erklärbar: Zu unterscheiden sind zwei Krisentypen: 1. Realisierungskrisen, die durch Disproportionalität zwischen den verschiedenen Produktionszweigen oder durch Unterkonsumtion, 2. Krisen, die durch Überakkumulation entstehen. Letzterem Krisentypus liegt der (dialektische) Widerspruch zwischen Produktivkraftentfaltung und Kapitalverwertung zugrunde. Die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit (Arbeitsproduktivität) erscheint widersprüchlich, weil sie gleichzeitig den Einsatz an Arbeitern zugunsten von Maschinen, also fixem Kapital vermindert. Die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit erhöht den relativen Mehrwert nur dadurch, indem sie bei gegebenem Kapitaleinsatz den Arbeitseinsatz vermindert. Dadurch senkt sie die Profitrate und schafft eine Verwertungsschranke, die nur durch die Krise überwunden werden kann. Das nenne ich auch den tendenziellen Fall der Profitrate. Aber Krisenursachen gibt es noch mehr: Die kapitalistische Produktion entwickelt nämlich nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“

Internationale Solidarität – oder: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch

Und was ist die Quintessenz dieser Erkenntnisse, lieber Karl Marx?

Marx: „Nun, die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern. Meine Prämisse dabei ist: Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Deshalb sage ich: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch. Oder mit den Worten Eurer IG Metall: Sie bekennt sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und setzt sich für die Sicherung und den Ausbau des sozialen Rechtsstaates und die weitere Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, für Frieden, Abrüstung und Völkerverständigung und den Schutz der natürlichen Umwelt zur Sicherung der Existenz der Menschheit ein. Vor dem Hintergrund der globalisierten Wirtschaft schließt dies eine Internationalisierung der IG Metall ein. Sie fördert aktiv die Gleichstellung von Frauen und Männern in Gesellschaft, Betrieb und Gewerkschaft, unabhängig von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität.“

 

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