Lehrjahre sind keine Herrenjahre? Hannoversche Arbeiterjugend in der Revolte 1967/68

Walter Buschmann’s „Ente“ von 1968 mit Grafitti, was es damals eigentlich noch gar nicht gab „gegen Ausbeutung – für Mitbestimmung“ (Foto Walter Buschmann).

Für den Band „Ansichten der Revolte“ schrieben Walter Buschmann und ich  einen Beitrag zur Rolle der Arbeiterjugend. Herausragend dabei war die Jugend der IG Druck und Papier (aufgegangen in verdi), in der wir beide aktive waren. Die Herausgeber Gerd Weiberg und Wolf-Dieter Mechler erinnerten sich völlig richtig, dass „1968“ eben nicht nur eine Studi-Revolte war, sondern dass die Arbeiterjugend ebenfalls in Aufruhr war. Nun bekamen wir die Gelegenheit (Dank an die beiden Herausgeber), diese Entwicklung in dem Band zu beschreiben. Für mich war der Prozess der Erarbeitung des Aufsatzes ein sehr schönes Erlebnis, habe ich doch nach fast 50 Jahren Gefährten aus dieser Zeit wieder getroffen. Walter Buschmann selbst, in dessen Ente vorne wenig Platz war, weil vom riesigen tragbares Tonband ständig die Stones zu hören waren. Walter wurde über den zweiten Bildungsweg (Hannover-Kolleg und Studium) schließlich habilitierter Architekturhistoriker.

In unserem Beitrag kommen weitere Aktive aus der „Graphischen Jugend“ zu Wort wie Hannes Philipp, der nach vielen Jahren in der praktischen Entwicklungszusammenarbeit Geschäftsführer des Verbandes Entwicklungspolitik in Niedersachsen wurde. Ilsetraut Popke, Detlev Drews und Wilfried Klaproth steuern weitere Geschichten und Notizen zu dem Text bei.

So ist der Aufruhr nicht ein „Ereignis“, das 1969 beendet war. Der Aufruhr zieht sich durch die Biografien und das politische und gesellschaftliche agieren der Beteiligten mit Wirkungen auf die folgenden Generationen an Universitäten, in sozialen und politischen Bewegungen, in Betrieben und Gewerkschaften, „1968“ war folgenreich, wie dem Band und unserem Text darin zu entnehmen ist: Viel Spaß beim lesen!

Jugend in den 1960er Jahren

Die Revolte des Jahres 1968 ging nicht nur von den Studentinnen und Studenten in den Hochschulen und Universitäten aus – in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre sind auch junge Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Verhältnisse aufgestanden, haben sich gegen die Enge und Geschichtslosigkeit im Elternhaus, gegen die gesellschaftliche und politische Situation und autoritäre, ausbeuterische Ausbildungsverhältnisse und die „Lehrherren“ gewehrt. Das Jahr 1968 gehört auch der Arbeiterjugend, die Revolte dieses Jahres hat auch unser Lebensgefühl und unsere Lebensbedingungen verändert.

Vielfach gilt das Ende der Adenauerzeit mit Verabschiedung Konrad Adenauers als Bundeskanzler im Oktober 1963 als Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit und als Übergang zur zweiten Wiederaufbauphase der jungen Bundesrepublik Deutschland. Die Oberländer-Affäre 1959/60, auch die Regierungsarbeit von Globke und die Kanzlerschaft von Kiesinger, mit denen die beschämende Kontinuität der NS-Zeit im Westen Deutschland offenbar wurde, mehr noch aber der Skandal um den Spiegel mit Verhaftung von fünf Spiegel-Journalisten einschließlich des Herausgebers Rudolf Augstein 1963 schlug sich auch nieder im wachsenden kritischen Bewusstsein der nach dem Krieg aufwachsenden Generation. Der stets sich ausdehnende Vietnam-Krieg stieß auf zunehmende Skepsis, dann auf Ablehnung. Spiegel und Pardon wurden auch in der Arbeiterjugend populär; Legendär die Dokumentation von Pardon: „Heinrich Lübke redet für Deutschland.“i

Mehr noch aber stand in dieser Übergangszeit zwischen 1963 und 1967/68 zunehmend der traditionelle Lebensablauf der Adenauerzeit auf dem Prüfstand: Lehre, Absolvierung der eingeführten Initiationsriten Konfirmation, Tanzschule mit Abschlussball, Fußballverein, Heirat, Lebensanstellung bei einem Unternehmen mit beschränkten Aufstiegsmöglichkeiten. Die Alternativen kamen mit der Folk- und Protestsong-Bewegung aus den USA und wurden auch sichtbar ausgelebt auf den Straßen Hannovers. Der Georgs-Platz war der überdeutlich im Stadtbild sich etablierende Treffpunkt der „Gammler“. Die dort regelrecht zelebrierte Verabschiedung von den bürgerlichen Sekundärtugenden, von der Arbeits-, Konsum- und Karrierewelt war als Provokation von Spießern und Kleinbürgern attraktiv und wurde in der Stadtgesellschaft heiß diskutiert. Dies schien der radikalste Ausstieg aus dem vorgezeichneten Lebensgang.ii Es war eine Alternative zumal die Erfahrungen in der Arbeitswelt Frust auf Frust anhäuften und die wachsenden Enttäuschungen sich auch nicht mehr mit Alkohol betäuben ließen – auch nicht mit dem bei der feierlichen „Freisprechung“ von Lehrlingen, auf die wir dennoch stolz waren.iii

Was die männlichen Mitglieder in der Grafischen Jugend bis heute leicht übersehen, war das durchgehend gegenwärtige Thema „Emanzipation der Frauen“, schreibt Ilsetraut Popke, und zwar lange vor dem Siegeszug des Feminismus. Empörend war die stark eingeschränkte Selbständigkeit und Erwerbstätigkeit von Ehefrauen: bis 1977 lautete § 1356 BGB Absatz 1: „[1] Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. [2] Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ Wollte eine Frau arbeiten, musste das ihr Ehemann erlauben. Erst 1977 wurde das Gesetz geändert. am 14. Juni 1976 wurde das neue Gesetz verkündet. Am 1. Juli 1977 trat das neue Gesetz in Kraft:  paritätisches Ehemodell: „Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung in gegenseitigem Einvernehmen. […] Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. Auch die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen war eingeschränkt: Ohne Zustimmung des Mannes durften Frauen kein eigenes Bankkonto eröffnen, noch bis 1962. Erst nach 1969 wurde eine verheiratete Frau als geschäftsfähig angesehen.iv

Die Arbeitswelt

Von wegen „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ – ein Spruch, der uns um die Ohren gehauen wurde und der bis dahin nicht angezweifelt wurde. Zu diesem Spruch passt der Grundlehrgang für Berufe der Eisen- und Metallindustrie: Eisen erzieht; die Lehrlinge mussten feilen, bis das Blut kommt.

Hoch waren die physischen und psychischen Belastungen. Ausstiegsszenarien waren beliebt. Auswanderungen in das damals hochbeliebte Skandinavien, besonders Schweden oder in die USA wurden erwogen. Der zumindest zeitweise Rückzug aus dem Arbeitsleben, eine längere Ruhepause – später an den Hochschulen im Staatsdienst als „Sabbatical“ gesellschaftsfähig – wurde durch Ansparung der kärglichen Einkünfte angestrebt. Verbreitet war auch die Auszeit durch Krankheit. Und wer nicht krank war, machte sich krank. Die Adressen geeigneter Hausärzte, die ein Attest für den Arbeitgeber unterschreiben würden, wurden als Geheimtipps herumgereicht. Als eine Möglichkeit an ein begehrtes Attest zu kommen galten Selbstverletzungen. Mehrfache Schläge mit einem stabilen Metallrohr auf den Unterarm erzeugten eine derartige Schwellung, das dies für einige Hausärzte ausreichte. Diese zusätzlichen „Urlaubstage“ machten dann die Arbeitswelt wieder erträglicher.

Ein Ausstiegsszenario war auch die Verlängerung der Schulzeit mit der Perspektive über die Institutionen der Erwachsenenbildung zu einem Hochschulstudium zu kommen. Begünstigt wurde dies auch durch die Einblicke in das Schüler- und Studentenleben während der Zeit ab 1968.

Von „Jugendpflege“ war seinerzeit die Rede, es galt die Jugend zu „erziehen“ – einen solchen „Erziehungsauftrag“ eigneten sich auch viele „Lehrherren“ an: Lehrjahre sind keine Herrenjahre! Wer mit 15 Jahren in die Berufsausbildung kam, hatte eben noch sechs Jahre Unmündigkeit bis zur Volljährigkeit vor sich. Und wer sich nicht anpasste – Anpassung an die Lohnarbeitswelt ist ja die wichtigste Nebenaufgabe der Berufsausbildung, dem und der wurde mit dem „Heim“ gedroht – „Fürsorgeheim“, wie geschlossene Erziehungsanstalten für Jugendliche zynisch genannt wurden. Ein Denkmal des Widerstandes gegen derartige Repression setzen Buch und Film „Bambule“ von Ulrike Meinhof.

Die Graphische Jugend als Teil der hannoverschen Revolte

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wuchs die Graphische Jugend zu einer im einschlägigen Milieu jugendlicher Gewerkschaftskreise bekannten Größe. Drei Dinge waren für die Attraktivität ausschlaggebend: die ausgiebige Behandlung politik- und gesellschaftskritischer Fragen, ein ausgeprägtes Interesse an vielen Themen der Kultur und eine ausgelassene bis überbordende Feier- und Partymentalität.

Es ist uns an dieser Stelle nicht möglich, die hannoversche Geschichte der DGB-Jugend und die der IG Metall-Jugend zu behandeln, wenngleich beide Gruppen bzw. Gremien ebenfalls einen wichtigen Anteil daran haben, dass Lehrlinge und junge Arbeiterinnen und junge Arbeiter sich an der Revolte beteiligten und in der Revolte geprägt wurden. Ausführlich beschäftigt sich Knut Andresen in seinem Buch „Gebremste Radikalisierung“ mit der Rolle der IG Metall-Jugend zwischen jugendlicher Rebellion und Anpassung: „Da das institutionelle Gefüge der Gewerkschaften eine integrierende Funktion hatte, wird die sich in dieser Phase vollziehende politische Entwicklung der Gewerkschaftsjugend als gebremste Radikalisierung bezeichnet.v

Der Zuspruch zur Graphischen Jugend kam nicht nur von Jugendlichen aus den Druckbetrieben. Das Programm aus wöchentlichen Gruppenveranstaltungen, Schulungsveranstaltungen an Wochenenden verbunden mit einer ständigen Bereitschaft für Feten an eben diesen Wochenenden brachte eine stetige Resonanz von etwa 30 und eine potentielle Teilnahmebereitschaft an den Aktivitäten von etwa 60 bis 70 Personen. In der nicht festgefügten Mitgliederstruktur gab es Lehrlinge vieler Branchen: Bauwesen, Elektro- und Fernmeldetechnik, Geldwirtschaft, Nahrungs- und Genussmittel. Diese lockere Offenheit, ohne feste Mitgliedschaft und Mitgliedsbeiträge verschafften der Graphischen Jugend das wohl stadtweite positive Image unter jugendlichen Gewerkschaftsmitgliedern, stieß andererseits aber auch auf Kritik bei der „gastgebenden“ aber durchaus nicht gastfreundlichen Gewerkschaft Druck- und Papier und führte schließlich zur Auflösung der Gruppe 1969.

Die wöchentlichen Gruppenabende fanden immer mittwochs um 19.00 Uhr im Haus der Jugend an der Maschstraße statt. Überlieferte Originalthemen waren: „Bob Dylan hören und über die Songs reden“, „Die russische Revolution – alle Räder standen still“ oder „Seid umschlungen Millionen – was mit unseren Mitgliedsbeiträgen geschieht (werden die etwa beim Stammtisch verzehrt?“

Hervorzuheben wären insbesondere die kulturell orientierten Gruppenabende mit den Auftritten von „Song & Lyrik“, einer Band um Fritz und Beate Schmidt. Bei solchen Gesangsabenden mit Mitmachcharakter war der Gruppenraum regelmäßig brechend voll und die Lieder dröhnten aus den geöffneten Fenstern des Hauses der Jugend die ganze Maschstraße entlang. Zum Repertoire gehörten Lieder der Arbeiterbewegung und des Spanischen Bürgerkriegs, Folk- und Protestsongs besonders aus den USA und aus der aufkeimenden deutschen Szene etwa von Dieter Süverkrüp, Franz-Josef Degenhard, Hannes Wader und anderen.

Für die normalen Gruppenabende wurden in der Regel Referenten besorgt. Im Vordergrund standen Themen zur Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Vietnam und andere Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, Sexualität, Geschichte. Auch die Entdeckung bzw. Wiederentdeckung von Bertolt Brecht – gefördert durch die Gesamtausgabe des Suhrkamp-Verlags von 1967 – schlug sich im Programm nieder, Theaterbesuche auch im Theater am Schiffbauer Damm (Berliner Ensemble) wurden zu selbstorganisierten Höhepunkten der politisch-kulturellen Bildung.

Die Gruppenabende während der Woche wurden ergänzt durch Wochenendfahrten mit Schulungen. Dazu gehörte ein über mehrere Wochenenden laufendes Schulungsprogramm, geleitet von einem Team um den DGB-Sekretär Karl Schröder und dem damaligen hannoverschen SDS-Vorsitzenden Rainer Lichte. Diese und andere Wochenendfahrten waren jeweils auch immer durch ausgelassene, bis in die frühen Morgenstunden hinein dauernde Feten gekennzeichnet.

Die Graphische Jugend hat sich nicht als Institution, aber mit ihren Mitgliedern an allen politischen Aktionen jener Jahre beteiligt. Dazu gehören diverse Anti-Vietnam-Demonstrationen, die Springer-Blockade im April 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April in Berlin (siehe Bericht von Hannes Philipp) und die Rote-Punkt-Aktion im Juni 1969. Natürlich war das Attentat auf Martin Luther King am 5. April 1968 und der Aufschrei dagegen ein Fanal für den Protest gegen den weit verbreiteten Rassismus in unserem Umfeld.

Eine innerhalb der Graphischen Jugend wirkende Teilgruppe um Jürgen Kinder beteiligte sich auch an der Gründung des Club Voltaire. Die Mitwirkung erfolgte durch Mitfinanzierung, durch Mitwirkung bei der Instandsetzung der Räume und anfänglich auch durch den Betrieb der Kneipe und des Restaurants.

Exkurs: Warum die Drucker und Setzer?

Seit über 170 Jahren sind Buchdrucker und Schriftsetzer gewerkschaftlich organisiert und Hannover spielte in dieser Geschichte der gewerkschaftlichen Organisation eine gewichtige Rolle. Als Vorläufer des Arbeitervereins Hannover war hier schon 1845 der Buchdrucker-Leseverein entstanden mit der Zielsetzung „die Stände und Berufsgenossen einander zu nähern, Bildung unter den verschiedenen Classen zu verbreiten und das Bewußtsein über die Bedeutung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens aufrecht zu erhalten.“ Nach den ersten Erfolgen in der Märzrevolution 1848 mit Durchsetzung des Assoziationsrechts kam die Umbenennung in Arbeiterverein. Der 1815 in Linden geborene Friedrich Stegen gründete dort 1849 einen gleichnamigen Verein und war Präsident beider Vereine. Im Juli 1849 war Stegen Delegierter der Mainzer Buchdruckerversammlung und wirkte mit an weitreichenden Forderungen, u. a. nach der zuvor auch schon in Hannover geforderten Einführung einer 10-stündigen Arbeitszeit. Wie weitgehend diese Forderung war, zeigt der zweimalige vergebliche Streik der Arbeiter in der Egestorff’schen Maschinenfabrik (später Hanomag) im April und Oktober 1848 gegen den 14-Stunden-Tag. In der Revolution von 1848 entstanden die ersten Gewerkschaften. Im Juni 1848 hatte die Deutsche National-Buchdruckervereinigung etwa 10.000 Mitglieder in 90 Städten. Ende April 1849 schlossen sich die Buchdrucker zum „Gutenberg-Verein“ zusammen. Beide Vereine fielen allerdings der vordringenden Reaktion wieder zum Opfer. Im Jahr 1866 wurde der Verband Deutscher Buchdrucker gegründet, 1873 der erste reichsweite Tarifabschlusses: der Buchdruckertarif, der erste Tarifvertrag dieser Art überhaupt.vi

1898 wurde der Verband der Graphischen Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen aus Druckbetrieben gegründet und damit die Spaltung in weibliche und männliche Beschäftigte überwunden. Paula Thiede war Gründerin und erste weibliche Vorsitzende dieser Gewerkschaft bis 1919. Drucker und Setzer gehörten, wie die Metallarbeiter, zur Avantgarde der Arbeiterbewegung – und das setzte sich nach 1945 fort.

In den frühen Jahren nach dem 2. Weltkrieg waren es in der als Einheitsgewerkschaft neu gegründeten IG Druck und Papier vor allem die Betonung des allgemeinpolitischen Mandates, der Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit (!), für mehr Mitbestimmung, gegen den in den Druckereien geltenden Tendenzschutzparagrafen 118 des Betriebsverfassungsgesetztes, der die Meinungsfreiheit erheblich einschränkt. Der Rationalisierungsschutz und die Arbeitszeitverkürzung, 1965 wurde die tarifliche 40-Stunden-Woche durchgesetzt, die von der IG Druck und Papier vorangetrieben wurden, die Zusammenfassung aller Beschäftigtengruppen, eben auch der Journalistinnen und Journalisten, für die 1967 mit einer Streikdrohung der Drucker und Setzer die Tariffähigkeit durchgesetzt wurde, waren wesentliche gewerkschaftliche Aktivitäten gegen die konservative Restauration in der alten Bundesrepublik.

Hans Baumann wurde 1967 als Nachfolger von Heinrich Steinwedel zum Vorsitzenden des Ortsverbandes Hannover der DruPa gewählt, ihm folgte Werner Tschischka, der als 16jähriger bereits 1956 in die Graphische Jugend eintrat und diese bis in die späten 1960er Jahre leitete. Über Unzufriedenheit und kritisches Potenzial in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in den Gewerkschaften berichtet Werner Tschischka in der DGB-Maizeitung aus dem Jahr 2015: „Es herrschte Unzufriedenheit darüber, dass die Maiveranstaltungen nur noch ein Ritual war. Der Montagskreis bestand aus linken, meist hauptamtlichen Gewerkschaftern. Er legte ein Papier mit Meinungen und Gedanken zum 1. Mai auf den Tisch. Wesentliche Punkte des Papiers waren: Bildung betrieblicher Maiausschüsse, Wiederaufnahme der Demonstrationszüge, kurze Reden von Kolleginnen und Kollegen aus den Betrieben anstatt eines „Starredners“ und Solidaritätskundgebungen für Arbeitnehmer in betrieblichen Konfliktsituationen. Das war 1968, als die Maikundgebung wieder auf den Klagesmarkt kam.“ vii Bei der Maikundgebung ein Jahr später wurde Georg Leber, der Bundesverkehrsminister und vormalige Vorsitzende der Bau-Gewerkschaft, auf dem Klagesmarkt ausgepfiffen und am Reden gehindert.

Solche Aktionen, an denen die Graphische Jugend beteiligt war, beförderten den latenten Konfliktmit dem Gewerkschaftsapparat. Im Ergebnis dieses Konfliktes wurden vom DGB durch einen „Sparbeschluss“ die Jugendsekretäre (in Hannover war das Karl Schröder) abgeschafft und etwas später durch Jugendbildungssekretäre ersetzt. Die Gewerkschaftsführungen wollten die gewerkschaftliche Jugendbildung kontrollieren.

1968 wurde Leonhard Loni Mahlein Vorsitzender der IG Druck und Papier, sicher eine der profiliertesten Persönlichkeiten der Gewerkschaften in der BRD. Mahlein trat 1952 wegen ihrer sektiererischen Politik aus der KPD aus (u.a. These 37 des Münchner Parteitages von 1951) – keine Abwendung von seiner linken Grundüberzeugung, sondern ein Bekenntnis zur Einheitsgewerkschaft. Viele wichtige Streikerfolge wurden in dieser Zeit erzielt: 1973 genügten wenige Stunden Streik, um eine Lohnerhöhung von 10,8 Prozent sowie eine zusätzliche Anhebung der unteren Lohngruppen und der Ausbildungsvergütungen durchzusetzen.

Vorher ging es uns jedoch um bessere Berufsausbildung und demokratische Rechte auch für uns Lehrlinge, wie Auszubildende damals genannt wurden. Es gab nicht nur Muff unter den Talaren, sondern auch unter den Meisterkitteln. Die Ausbildung war angelehnt und orientiert an der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869, die über Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Zeit bis in das Jahr 1969 übernommen wurde: „Die zuständige Behörde hat darauf zu achten, dass bei Beschäftigung der Lehrlinge gebührende Rücksicht auf Gesundheit und Sittlichkeit genommen und denjenigen Lehrlingen, welche des Schul- und Religionsunterrichts noch bedürfen, Zeit dazu gelassen werde.“ (§106 GewO von 1869)

Ein zweiter Konflikt war das Streikrecht, das uns Lehrlingen abgesprochen wurde, weil wir nach damals herrschender Rechtsausfassung eben keine „Arbeitnehmer“, sondern zu Sittlichkeit zu erziehende Jugendliche waren. Diese Position vertreten Arbeitgeber bis heute, die damals erkämpfte und begonnene Praxis von Lehrlingsstreiks hat diese Arbeitgeberposition ad absurdum geführt, das Bundesarbeitsgericht hat dieses 1984 dann auch so entschieden (BAG v. 30.8.1984 – 1 AZR 765/93).viii Ein dritter Konflikt wurde um das Entgelt geführt: Von der Lehrlingsbeihilfe von ein paar Mark hin zu einer Ausbildungsvergütung, von der junge Erwachsene auch ihren Lebensunterhalt bestreiten können – ein unerhörter Anspruch seinerzeit.

Erinnerungen an die Graphische Jugend

„Das Gedächtnis, ein Sieb“, schrieb 1984 Hans Magnus Enzensberger aus Anlass einer Jiří-Kolař-Ausstellung in der Kunsthalle Nürnbergix – und da waren erst 16 Jahre vergangen: „1968, eine Jahreszahl, in der sich das Imaginäre eingenistet hat. Ein Gewimmel von Reminiszenzen, Allegorien, Selbsttäuschungen, Verallgemeinerungen und Projektionen hat sich an die Stelle dessen gesetzt, was in diesem atemlosen Jahr passiert ist.“

Die sozialdemokratisch-/gewerkschaftliche Verankerung

Wilfried Klaproth erinnert sich an seinen sozialdemokratischen Weg als junger Arbeiter in die Revolte, den wir unbedingt mit beschreiben möchten:

An der Podbielskistraße waren um unsere Wohngegend mehrere Fabriken angeordnet: Conti, VW, Bahlsen, Pelikan, Reemtsma, Polydor, GEHA. Fest verankert in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung traf man sich im „Heim Freundschaft“ wenn die SPD-Ortsgruppe eingeladen hatte. Regelmäßig kam Herbert Schmalstieg, der spätere Oberbürgermeister zum kassieren der Mitgliedsbeiträge. Er versuchte Wilfried immer wieder zur Mitwirkung bei den Jungsozialisten zu bewegen. Aber soweit ging seine Sympathie denn doch nicht für die SPD. 1966 begann er die Maurerlehre und schon bald fragte sein Vater ihn öfter, ob er nicht in die Gewerkschaft eintreten will. Der Vater selbst hat als Schlosser bei der Conti gearbeitet und war aktiv in der IG Chemie, Papier, Keramik und fand das als ebenso überzeugter Sozialdemokrat schon wichtig. Widerstrebend wurde Wilfried im Jahre 1967 Mitglied der IG Bau Steine Erden; wohl wissend, dass es ein ziemlich „konservativer Laden“ war, mit Georg Leber an der Spitze. „Schorse Bartsch, ein Schulkamerad, hat mich irgendwann zur Grafischen Jugend mitgenommen, da fühlte ich mich sofort zu Hause.“

Aktiv wurde Wilfried schon als ungefähr 10-/11-jähriges Kind in einem anderen Teil der Arbeiterbewegung, bei den Naturfreunden in Hannover. Der ursprüngliche Anspruch der Naturfreunde war relativ einfach, angelehnt an die Sozialdemokraten, ging es darum den Naturfreunde-Mitgliedern, als Ausgleich zur anstrengenden körperlichen Arbeit in den Fabriken, den „Weg in die Natur“ zu ermöglichen. Sein erster Kontakt war an einigen Sonntagen im Winter, wenn er mit den Naturfreunden für ca. 8,- DM mit dem Bus zum Skilaufen in den Harz fahren konnte. Da lernte er andere Kinder und Jugendliche kennen und wurde so bald Mitglied in der Kindergruppe, die später zur Jugend- und Klettergruppe heranwuchs. Außerdem gab es bei der Naturfreundejugend auch politisch aktive Leute mit einem Anspruch, der weit links von der SPD angesiedelt war. Davon waren mehrere später auch aktiv in der Graphischen Jugend.

Die etablierten Jugendverbände Hannovers, bzw. Niedersachsens waren übrigens im Stadtjugendring, bzw. im Landesjugendring zusammengefasst. Als Teil des Bundesjugendringes ist auch der Stadtjugendring Hannover 1968 mit zu den „Weltjugendfestspielen in Sofia“ gefahren. Von Hannover waren u. a. beteiligt die SDAJ, die Falken und auch die Naturfreundejugend. Wilfried war dabei und schreibt, „es war schon ein prägendes Erlebnis mit allen deutschen Teilnehmern gemeinsam in einem großen Wohnheim untergebracht zu sein. Auch der SDS war mit uns zusammen untergebracht.“

Noch nicht 18 Jahre alt, hat Wilfried mit Freunden der Naturfreundejugend an den Ostermärschen beteiligt und ist zur Demo gegen die Notstandgesetze nach Bonn gefahren, mit einer kleinen Gruppe auch nach Berlin u. a. zum SDS Kongress.

Hannover war damals ja fest in Sozialdemokratischer Hand und so waren auch die Leiter vom Haus der Jugend, von den Freizeitheimen Ricklingen (Georg Dullinger) und Linden (Egon Kuhn) sowohl Sozialdemokraten, als auch Naturfreunde. Auch in der kritisierten Jugendpflege waren überwiegend Sozialdemokraten tätig. Leute wie Wolfgang Pahl und Hans Schaffner. Wolfgang Pahl auch Leiter des Paddelklubs Hannover und Hans Schaffner, Sozialdemokrat und Naturfreund. Der Jugendsekretär der Naturfreundejugend war damals Siegfried Matzack, später dann Roman Nothan.

In die Grafische Jugend zog Wilfried besonders der antiautoritäre Grundcharakter, dem er auch später treu blieb. „Und natürlich fand ich nie Zugang zu den dogmatischen „K-Gruppen“. Und als man später erfahren konnte, was für Schweinereien Stalin und später Mao so zu verantworten hatten, bin ich auch ganz froh darüber, dort nie gelandet zu sein.“x

Ein ehemaliges Mitglied dieser Gruppe, Detlev Drews, schrieb folgende persönliche Erinnerungen an die Graphische Jugend auf:

Mein Selbstvertrauen wurde gestärkt!

Wenn ich meine Zeit in der Graphischen Jugend schildern soll, muss ich zuerst an mich in dieser Zeit denken. In einem Nachkriegs-Elternhaus mit einer streng katholischen Erziehung groß geworden, hatte sich bei mir während der Schulzeit ein Sprachfehler ausgeprägt, den ich im Nachhinein als einen Ausdruck meiner damaligen inneren Gehemmtheit sehe.

So begann ich meine Lehrzeit als Schriftsetzer bei der Hannoverschen Druck- und Verlagsgesellschaft. Dort war ich als verklemmter Stotterer der Doofe, auf dem die Lehrkollegen ihren Spott entluden. Heute würde man das alles als Mobbing bezeichnen.

Zwei oder drei der ca. fünfzehn Lehr-Kollegen behandelten mich gleichwertig und einer von denen lud mich zur Gewerkschaftsjugend ein. Ich machte mich fein mit weißem Hemd, Mantel und Stockschirm. Nach heutigem Standard total overdressed, damals aber nicht allzu ungewöhnlich, fanden sich selbst unter den Teilnehmern der damaligen sogenannten Studentendemonstrationen viele junge Männer mit Anzug und Schlips.

Die Gruppe, in die ich kam, empfand ich als offen und tolerant. Im Gegensatz zu der damaligen „normalen“ Bevölkerung sowieso, aber auch im Gegensatz zu heute. Keiner stieß sich an meinem Sprachfehler, keiner belustigte sich darüber, dass ich mich in diesem eher atheistischen Umfeld offen als Christ bezeichnete. Auch wollte keiner mir meinen Glauben ausreden. Man diskutierte über alles, ließ aber den anderen in seiner Meinung oder als Person stehen. Zumindest, wenn man sich als „Linker“ sah. Wer meinte nicht links zu sein, wurde gefragt ob er rechts sei. Wurde das verneint, kam die Frage ob mein ein „Scheiß-Liberaler“ sei. Das wollte man natürlich auf keinen Fall sein.

An den Abenden der Graphischen Jugend nahmen aber nicht nur Mitglieder der damaligen „IG Druck und Papier“ teil. Sie waren ein Sammelbecken sämtlicher linken Gruppen die es damals gab (SDS, SDAJ, Falken etc.) und die froh waren, sich gemeinsam treffen zu können. Man kannte sich und wusste wo man hingehörte. Einige Gewerkschaftskollegen sahen das kritisch, was aber ignoriert wurde.

Ich nahm an den Abenden regelmäßig Teil und wurde dadurch selbst politisiert und in mir wuchs ein linkes Fundament (das bis heute anhält). Konnte aber nie etwas mit den verschiedenen Theorien oder Ideologien anfangen. Hatte mal versucht das Kommunistische Manifest (meine Mutter sagte immer „Maniheft“) zu lesen, bin aber nicht allzu weit gekommen. Der Unterschied zwischen Marxismus und Trotzkismus ist mir bis heute verborgen.

Durch die regelmäßige Teilnahme und weil der Gruppenleiter in meiner Nähe wohnte, kam ich mehr in den inneren Kreis. Nicht nur, dass ich an kleineren Nervereien wie das regelmäßige Bekleben des Schaukastens vom SPD-Ortsverein mit Agitations-Aufklebern „Heroisches Vietnam!“ beteiligt war, auch an der Gestaltung des Monatsprogramms war ich beteiligt. Weil wir einigen Gewerkschaftskollegen ja zu radikal waren, mussten die Themenankündigungen der Abende „verschlüsselt“ werden. Ein Abend über die Pariser Kommune hieß so „Pariser Tagebuch“. Ein Abend über Empfängnisverhütung (damals noch ein heikles Thema) hieß lustiger weise „Messer, Gabel, Pille, Licht!“.

Apropos Agitation: Bei den Demonstrationen, an denen wir teilgenommen hatten, gab es diverse „Schlachtrufe“. Teilweise mit Bürgerschreckcharakter. Einer lautete: „Wir sind alle angeheuert und von Moskau ferngesteuert!“. Ich fand das lustig, bis ich irgendwann merkte, dass das Propagandamaterial nicht aus eigenen Kreisen sondern von der DKP kam. Da fand ich es dann nicht mehr so lustig.

Ach ja, die DKP. Irgendwann, wohl 1967/68 beim Roten Silvester der DKP stand die Graphische Jugend auf der Bühne und sang Schlag Null Uhr mit erhobener Faust die Internationale. Die feuchten Augen der Genossen im Saal habe ich heute noch in Erinnerung. Nach meiner Loslösung von der Katholischen Kirche und bei näherer Beschäftigung mit dem Thema „Religion“ habe ich dann für mich auch den Kommunismus als Religion eingestuft.

Die Graphische Jugend zähle ich zu den positiven Teilen meiner Jugend. Mein Selbstvertrauen wurde gestärkt. Jahrzehnte später erzählten mir meine Eltern, dass sie unseren damaligen Hausarzt, der wohl so eine Art Ratgeber für sie war, gefragt haben, ob sie mir den Umgang mit der Graphischen Jugend verbieten sollten. Er empfahl ihnen, es nicht zu tun, da es gut für meine Entwicklung sei. Recht hatte er.

So wurde ich nur von meinen Eltern „verwarnt“ und sie baten mich, mich nicht zu tief in die „Propagandamaschinerie“ reinziehen zu lassen, damit nicht „eines Tages die Polizei ins Haus kommt“. Das konnte wohl gut möglich sein. Nach unseren Abenden im „Haus der Jugend“ gingen einige immer noch auf ein Bier in eine Kneipe in der Nähe. Angeblich soll auch immer jemand vom Verfassungsschutz anwesend gewesen sein. Wie weit das stimmt weiß ich nicht. Mag sein, dass sich einige nur wichtig tun wollten, wahrscheinlich stimmte es aber. So haben wir dann nach einiger Zeit die Kneipe gewechselt. Und der Staatsschützer soll dann nach einiger Zeit auch wieder da gewesen sein. Würde mich mal interessieren, ob es über mich eine „Akte“ gab oder gibt.

Irgendwann wurde die Graphische Jugend den alten Gewerkschaftlern doch zu radikal und die IG Druck und Papier trennte sich von ihrer Jugend. So konnten wir nicht mehr unsere Abende kostenfrei im Haus der Jugend abhalten. Als Ausweichquartier gab es mittlerweile den „Club Voltaire“ von Dietrich Kittner in der Nikolaistraße. Aber der alte Schwung war nicht mehr da. Es soll dann dort nach einiger Zeit bei der Suche nach der politischen Wahrheit zu ideologischen Prügeleien zwischen den einzelnen Gruppen gekommen sein. Religionskriege sind ja nichts Unbekanntes.“ xi

Einen zweiten persönlichen Bericht von Hannes Philipp möchten wir hier einfügen; er ist auch ein gutes Beispiel für die konkreten politischen und sozialen Erfahrungen, die damals in und mit der Graphischen Jugend erlebt und vermittelt wurden.

Von der Schriftsetzerlehre, dem „lauschen der Gesellen“ zur Graphischen Jugend – Wie ich SOLIDARITÄT lernte!

Meine Zeit in der Graphischen Jugend hatte einen Vorlauf, denn schon in der Lehre (Berufsausbildung) bei der damals sozialdemokratisch dominierten HP (Hannoversche Presse)xii, wurde ich politisiert.

Ich komme aus einem Elternhaus, in dem über politische Themen, auch über Artikel in der Tagespresse hinaus, gesprochen wurde; ich würde es als eher links bezeichnen. Mir wurde vermittelt, dass nicht „alle Deutschen“ nach dem Kriege (bzw. nach der Währungsumstellung) mit 50 DM angefangen haben, sondern dass es unterschiedliche Startbedingungen gab. Flüchtlinge, wie meine Eltern es waren, fühlten sich auch damals schon nicht ganz dazugehörig.

Aber im Unterschied zu heute sah man „Aufstiegschancen“. So jubelte meine Mutter, als ich in der Berufsschule die Prüfung für einen Job in einer Druckerei bestanden hatte. „Mein Sohn wird Schriftsetzer, der hat einen Job fürs Leben!“ Aus ihrer Sicht hatte ich ausgesorgt.

Als ich den Lehrvertrag als Schriftsetzer bei der Hannoverschen Druck- und Verlagsgesellschaft, die die HP herausgab, unterschrieben in den Händen hielt, gab es eine zweite klare Vorgabe: Als nächstes gehst Du zum Betriebsrat, dort wirst Du Gewerkschaftsmitglied in der IG Druck und Papier und erst dann kannst Du mit der Lehre beginnen. Keine Frage oder Diskussion meinerseits.

Was hieß das denn in der Praxis? Ich war mit großen Augen und Ohren fast täglich Zeuge von politischen Gesprächen. Die „Gesellen“, zu denen ich selbstverständlich aufschaute, diskutierten am Arbeitsplatz was „gut und richtig“ für uns als Arbeiter des graphischen Handwerks war. Rückblickend lernte ich so mit unterschiedliche Themen und unterschiedlichen Sichtweisen umzugehen – und durfte schnell merken: Politik hat etwas mit mir und meinem Leben zu tun. Wir Lehrlinge setzten oft in den Frühstücks- und Mittagspausen diese Gespräche fort.

Nach dem ersten Lehrjahr sprach mich dann jemand von den „großen“ Lehrlingen an, „ob ich nicht mal zur Graphischen Jugend mitkommen möchte“. Dort könne man unter sich diskutieren und Partys und Feiern gibt es obendrauf. Yipp! Das war attraktiv! Den Kern der Gruppe bildeten Setzer- und Drucker-Lehrlinge, aber auch schon ausgelernte Berufstätige gehörten der Gruppe an. Angetrieben durch ein Unbehagen an den Arbeits- und Lebensverhältnissen fand man schnell einen Draht zueinander. Aber wie waren diese Arbeits- und Lebensverhältnisse verbessern?

Die Graphische Jugend organisierte für uns Schulungen z.B. im DGB-Jugendheim in Ehlershausen, das später, am 6. Dezember 1974, von Neonazis überfallen wurdexiii. Dort wurde intensiv gearbeitet, diskutiert und gefeiert. Natürlich mit unserer Arbeiterdroge Alkohol. Hah – aber morgens ging es weiter – hatten wir doch noch den Spruch aus den Elternhäusern im Kopf: „Wer saufen kann, kann auch arbeiten“, und Zugang zu Marx und Engels finden: das war Arbeit!

Stolz kamen wir mit unseren neu gewonnenen Erkenntnissen montags in den Betrieb und mussten feststellen: Das war bei einigen Kollegen bekannt – aber es gab natürlich mehr Kollegen, die das Modell „Jeder ist seines Glückes Schmied“ verinnerlicht hatten. Vereinzelt trafen wir auch auf Antikommunismus – was ich mit meinen neuen Erkenntnissen nicht verstand.

Aber wir wurden dank unserer Teamer in unseren Argumentationen besser. Wir lernten die Sonderstellung des graphischen Handwerks in der Geschichte der Arbeiterbewegung kennen – und waren stolz darauf! Denn schließlich gab es den Unterschied zwischen einer „großen Gewerkschaft“, der IG Metall, und einer „guten Gewerkschaft“ – das waren wir von der IG Druck und Papier.

Sehr hilfreich war es, dass der Vorsitzende unserer Gewerkschaft, Loni Mahlein, die Gewerkschaft nicht als „Lohnmaschine“ verstand, sondern auch als politische Bewegung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich für eine Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft einsetzt. Etwas, was wir auch auf unseren Schulungen gelernt hatten.

Das alles spielte sich also schon ab ohne eine aktive Studentenbewegung! Will heißen: Lehrlinge und Arbeitnehmer waren schon viele Jahre aktiv – zumindest bei der graphischen Jugend.

Ein zentrales Erlebnis für mein weiteres politisches Leben war die Springer-Blockade 1968. Ich war im dritten Lehrjahr und kurz vor der Gehilfenprüfung. Während der Blockade und arbeitete ich innerhalb des Gebäudes. Ich hoffte, dass die Arbeitszeit bald beendet war und ich mich „draußen“ einreihen konnte. So kam es dann auch. Mit mehreren Lehrlingen reihten wir uns ein, wurden natürlich von Seiten der Betriebsleitung erkannt und am nächsten Morgen einbestellt.

Man eröffnete uns, dass wir uns „geschäftsschädigend“ verhalten hätten – und wir bekamen die Kündigung ausgesprochen, wenige Wochen vor der Gehilfenprüfung.
Das war – siehe Anfang dieses Berichtes – eine persönliche Katastrophe. Kein Abschluss, kein Geld, keine Arbeit. Was für eine Zukunft? Das war schon sehr beängstigend.

Es sprach sich aber, unter Mithilfe der Vertrauensleute und zu unserem Vorteil und Glück bei den Kollegen sehr schnell herum, dass wir „nur weil wir unser demokratisches Recht der Meinungsäußerung“ wahrgenommen hatten (sic.), entlassen werden sollten. Das ging, so die Kollegen, gar nicht! Sie teilten der Geschäftsführung und dem Betriebsrat mit, dass „die Zeitung erst erscheinen kann, wenn die ‚jungen Kollegen‘ umgehen wieder eingestellt werden“. Zu unserer Überraschung hatten wir, die ja nicht mehr im Betrieb verbleiben durften, wenige Stunden später die schriftliche Bestätigung in den Händen, dass wir unsere Lehre beenden können.

und ich hatte von und mit den Kollegen, ganz ohne Studentenbewegung, gelernt:

Solidarität erreicht Ziele und schützt den Einzelnen. Gibt es nicht? Doch!xiv

Fraktionierung auch in der Arbeiterjugend

Die offene Gruppenstruktur mit Zugang für Alle und die zunehmende Radikalisierung mit antiautoritärer, trozkistischer und maoistischer Ausrichtung führte zu Konflikten mit der Gewerkschaftshierarchie. Der verdienstvolle Vorsitzende Fritz Strophal musste sein Amt zur Verfügung stellen. Die Wahl seines Nachfolgers Georg Brasch verschafft eine nur kurzzeitige Entspannung. Der wöchentliche Gruppentreffpunkt im Haus der Jugend musste aufgegeben werden. Ersatzweise traf man sich im Freizeitheim Ricklingen. Zugleich betraf auch die Graphische Jugend die sogenannte Fraktionierung der Studentenbewegung. Der aktive Teil der Graphischen Jugend verteilte sich auf die 1969 entstehenden Gruppen mit den entsprechend eindeutigen politischen Ausrichtungen. Einige konzentrierten sich auf die traditionelle Gewerkschaftsarbeit. Andere beendeten ganz ihr politisch-gewerkschaftliches Engagement. Der Höhenflug der Graphischen Jugend war beendet mit einer Parallelentwicklung wie beim SDS.

Anmerkungen

i https://www.youtube.com/watch?v=t2cNS4wZTK4

ii E. Noelle-Neumann, DIE ZEIT, 13.6.1975, abgerufen am 5.9.2017 http://www.zeit.de/1975/25/werden-wir-alle-proletarier: „Das Ausmaß der Veränderungen zeigte uns, daß wir einen Ausschnitt aus einem schon länger anhaltenden Prozeß erfaßt hatten: dem Prozeß der Erosion der bürgerlichen Tugenden.“

iii https://de.wikipedia.org/wiki/Gautschen

iv Brief Ilsetraut Popke vom 25. 9. 2017

v Andresen, Knut; Gebremste Radikalisierung, Seite 95; Wallstein Verlag Göttingen, 2016

vi Angaben nach: Gabel, Angela: Die Arbeiterinnen und ihre gewerkschaftliche Organisation im deutschen Buchdruckgewerbe 1890-1914, Technische Hochschule Darmstadt, 1988. – Buschmann, Walter: Linden. Geschichte einer Stadt im 19. Jahrhundert, (2. Aufl.) Hannover 2012, S. 81. – Hensche, Detlef: Chronik IG Medien, Ortsverein Hannover o.D. (wohl 2000 im Fusionsprozess zu verdi). – Mottek, Hans: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriss. Bd. II von der Zeit der Französischen Revolution bis zur Bismarckschen Reichsgründung, Berlin 1976, S. 247. – Zoller, Helga: Die historischen Wurzeln der IG Medien; https://www.verdi.de/++file++5073a223deb5011af9001e9d/download/1990-02-a-110.pdf

vii DGB Hannover, Maizeitung 2015; http://niedersachsen-mitte.dgb.de/++co++591d30da-e33c-11e4-a1b3-52540023ef1a

viii https://www.igmetall.de/jupo-ratgeber-fight-for-your-right-dein-recht-im-arbeitskampf-10008.htm

ix 1968 – Eine Enzyklopädie, Frankfurt/M. 2008, Edition Suhrkamp

x Brief von Wilfred Klaproth, 28. 9. 2017

xi Brief von Detlev Drews vom 23.8.2017

xii https://de.wikipedia.org/wiki/Hannoversche_Druck-_und_Verlagsgesellschaft

xiii https://www.nd-archiv.de/ausgabe/1974-12-07

xiv Brief von Hannes Philipp vom 15.9.2017

https://www.offizin-verlag.de/Wolf-Dieter-Mechler-Gerd-Weiberg-Hg-Ansichten-der-Revolte-Hannover-1967-%E2%80%93-1969?source=1&refertype=8

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