Die Ökonomie vom Kopf auf die Füße stellen!

Thesen zur Tarifrunde 2012
express, 17.02.2012

Auf was muss sich Tarifpolitik in der Krise einstellen, wie kann sie dieser begegnen? Einen Aufschlag dazu hatten wir in der letzten Ausgabe des express mit dem Diskussionspapier der Gewerkschaftslinken dokumentiert. Stephan Krull nimmt den Ball auf und bezieht sich in seinen Thesen zu den anstehenden Tarifrunden im Öffentlichen Dienst und Metallbereich u.a. auf dieses Papier. Unter dem Motto »Arbeit und Geld umfairteilen« entwickelt er jedoch eine Perspektive, die verteilungspolitische Fragen mit Arbeitszeitverkürzung und einer anderen gesellschaftlichen Arbeitsteilung verbindet und so über klassische monetäre Umverteilungsforderungen hinausgeht.

1. Wie nie zuvor gilt der von Heinrich Heine und Bertolt Brecht beschriebene Zusammenhang von Armut und Reichtum: Sie predigen öffentlich Wasser und saufen (un)heimlich Schampus; die Armut eines großen Teils der Bevölkerung ist der immense, fast unermessliche Reichtum der herrschenden Kaste.
Der private Geldvermögen in Deutschland ist auf über 5000 Milliarden Euro (5 Billionen Euro) gestiegen gegenüber einer gesamten Staatsverschuldung (Bund, Länder und Kommunen) von 2000 Milliarden Euro. Ein Beispiel: Die Quandt-Erbin und Miteigentümerin von BMW, Susanne Klatten, war im Jahr 2011, nach der Krise, eine Milliarde Euro reicher als im Jahr 2008. Inzwischen gibt es hierzulande fast 900000 Vermögensmillionäre. Ein Prozent der Bevölkerung besitzt 40 Prozent des Geldes, die oberen 20 Prozent besitzen 80 Prozent, die unteren 40 Prozent besitzen fast nix oder weniger und dazwischen bewegt sich eine dünner und ärmer werdende Mittelschicht – auf dem Weg zur 4/5-Gesellschaft!
Weniger als ein Prozent der Europäer besitzt ein Geldvermögen von fast acht Billionen Euro. Das ist mehr als das Doppelte aller Staatsschulden der Krisenländer Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien zusammen. Die öffentliche Armut wird uns täglich als »Schuldenkrise« vorgeführt, die private Armut ist verschämt, aber unübersehbar und explosionsartig wachsend. Der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen sank in Deutschland in der zurückliegenden Dekade um zehn Prozent, der Anteil der Vermögenseinkommen stieg um zehn Prozent.

2. Die »Antikrisenprogramme« unter Federführung Deutschlands und Frankreichs folgen der falschen Theorie des Monetarismus von Milton Friedmann. Die strikte Anwendung des Monetarismus ist jedoch immer gründlich gescheitert, so auch in den südamerikanischen Diktaturen. Ihre Protagonisten ziehen daraus seit Jahrzehnten jedoch nicht etwa den Schluss, dass dies die falsche Medizin sei, sondern nur zu wenig davon. In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise wird in Europa wieder experimentiert, ob »Sparen«, »Schuldenbremsen« und ähnliches doch aus der Krise herausführen. Dieses Experiment wird die EU zerreißen, die Volkswirtschaften Griechenlands, Spaniens, Portugals und weiterer Länder werden erwürgt. Die Regierenden, Merkozy, Sarkel & Co., wollen uns glauben machen, ein Land mit erwürgter Ökonomie könne »Schulden« zurückzahlen. Vorläufig profitiert Deutschland davon, in Deutschland profitieren die Banken, die Unternehmen der Exportwirtschaft und diejenigen Beschäftigten, die noch in sogenannten »Normalarbeitsverhältnissen« ihre Arbeitskraft verkaufen bzw. denen »Hauptsache Arbeit« genügt.
Von kritischen Ökonomen sind die einfachen makroökonomischen Erkenntnisse inzwischen so häufig wiederholt worden, dass sie niemand überhört haben kann. In vielen Ländern wurden nach der Euroeinführung die Löhne erhöht, die Arbeitszeiten reduziert und die Inflationsgrenze von zwei Prozent in etwa eingehalten oder leicht überschritten. In Deutschland dagegen wurde über mehr als ein Jahrzehnt durch den Ausbau des Niedriglohnsektors bzw. Nettolohnsenkungen, die Reduzierung der Sozialausgaben und Unterschreiten der Inflationsgrenze die Exporte in die Länder der Eurozone außerordentlich gesteigert: Hartz IV ist Gift für Europa und die übrige Welt. Die deutschen Außenhandelsüberschüsse sind die Defizite der anderen Länder. Über Währungsschwankungen bzw. Abwertungen kann kein Ausgleich dieses Lohn- und Sozialdumpings geschaffen werden – so, wie das noch in Mexiko, Russland und Argentinien mit Schuldenschnitt und radikaler Abwertung praktiziert wurde. Die nun von der »Troika« verordneten Lohn- und Rentenkürzungen wirken sich in der Standortkonkurrenz aus und erhöhen den Druck auf die bereits reduzierten Sozialstandards in Deutschland und allen konkurrierenden Volkswirtschaften.

Die Bundesregierung hat keine eigenen und unabhängigen makroökonomischen Fachleute, mit Ackermann, Asmussen, Weidemann & Co. jedoch die falschen Einflüsterer. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass diese Regierung von der falschen Theorie und Praxis ablässt. Aber in der komplexen Ökonomie gibt es mehrere Hebel, mehrere Akteure. Den Gewerkschaften, der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken kommt jetzt eine besondere Verantwortung und eine große Aufgabe zu. Die ökonomischen Ungleichgewichte in Europa können und müssen durch Tarif- und Sozialpolitik so weit als irgend möglich wieder in ein vertretbares Gleichgewicht gebracht werden. Die Aufgabe ist zweifellos riesig. Wird sie jedoch nicht angegangen, werden die EU und die Eurozone auseinander fallen – mit allen Risiken für Frieden und Stabilität, die wir uns zwischen um Märkte und Rohstoffe hemmungslos konkurrierenden Nationalstaaten nur irgendwie vorstellen können. Der Wirtschaftskrieg zwischen USA und EU ist erst ein laues Lüftchen, die Spekulationen mit Lebensmitteln, dieser Krieg gegen die Armen führt dagegen schon jetzt täglich zu tausendfachem Hungertod.

3. In dieser Situation steht für fast neun Millionen abhängig Beschäftigte die Tarifrunde an  und es stellt sich die Frage, von wem Gewerkschaftsführungen beraten werden. Vom eigenen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institut offenbar nicht,  ebenso wenig von kritischen und keynesianischen ÖkonomInnen wie Nicola Liebert, Mechthild Schrooten, Heinz Bontrup, Heiner Flassbeck oder Rudolf Hickel. Statt die bekannten und auch vom WSI veröffentlichten makroökonomischen Erkenntnisse für die Position der Gewerkschaften zu nutzen, wird eine mikroökonomische Buchhaltermentalität entwickelt, um die Forderung kleinzurechnen bzw. mikroskopisch kleine Abschlüsse zu rechtfertigen. Für die Stahlindustrie, eine gewerkschaftlich bestens organisierte Branche, waren sieben Prozent gefordert und wurden Abschlüsse von 3,8 Prozent mit einer Laufzeit von 16 Monaten vereinbart – also ein Ergebnis von weniger als drei Prozent auf zwölf Monate gerechnet, obwohl der »verteilungsneutrale Spielraum« auf 3,8 Prozent einschließlich eines Nachholeffektes aus dem Jahr 2010 beziffert wird.  Teils wütende Proteste bei Beschäftigten und Vertrauensleuten waren die Reaktion, weil weder die Streikbereitschaft der Belegschaften noch die ökonomischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten auch nur annähernd ausgeschöpft wurden. Dieses schlechte Ergebnis wurde auf die saarländische Stahlindustrie bei der ersten Verhandlung des Jahres 2012 ohne betriebliche Mobilisierung übertragen mit der Aussicht, einen ähnlichen Abschluss für die Metall-, Elektro- und Automobilindustrie im Frühjahr zu erzielen.
Nach ersten Debatten in den Tarifkommissionen, in denen über einen Forderungsrahmen von 6 bis 6,5 Prozent gesprochen wurde, wird der Vorstand der IG Metall am 7. Februar eine Forderung empfehlen und am 24. Februar eine Forderung beschließen. Diese wird voraussichtlich unter sieben Prozent liegen. Damit wird die Lohnsenkung der zurückliegenden Jahre fortgesetzt, von einer Wende in der Tarifpolitik weit und breit nichts zu sehen. Da hilft es auch nichts, wenn die Presse davon redet, dass »die IG Metall ihre Muskeln spielen lässt« (Südwestpresse, 26. Januar 2012) – es drückt zunächst nur deren Sorge vor einem »kräftigen Lohnplus« aus. Dahingestellt bleiben mag, ob solche verbalen Überhöhungen dem IG Metall-Vorstand wenigstens insoweit entgegenkommen, als sie wie ein Pfeifen im Wald wirken. (S. Kasten in der rechten Spalte)

4. Neben der bescheidenen Lohnforderung gibt es weitere »qualitative Forderungen«, die bereits vor Beginn der Lohnverhandlungen ergebnislos mit den Arbeitgebern verhandelt wurden, u.a. die »faire Gestaltung von Leiharbeit« sowie die Übernahme der Ausgebildeten. Die Gewerkschaft blickt auf den propagandistisch überhöhten »Facharbeitermangel«  wie das Kaninchen auf die Schlange. Dies belastet die Lohnverhandlungen und wird, wie in ersten bereits getätigten Abschlüssen (z.B. Ingenieurgesellschaft Arbeit und Verkehr, IAV) deutlich wurde, eine löchrige Übernahme, entsprechend dem jeweiligen Personalbedarf des Unternehmens und abhängig von »Leistungskriterien«, nach sich ziehen.
Die IGM hat angekündigt, für Leiharbeiter eigene Tarifverträge abschließen zu wollen. Das ist fragwürdig, nachdem höchstrichterlich die Dumping-Tarifverträge der »christlichen Gewerkschaft« für ungültig erklärt wurden und – nach einer Kündigung der Tarifverträge des DGB – die gesetzliche Regelung der Gleichbehandlung von Leiharbeitern und Stammbelegschaft greifen würde. Die Absicht, neue Tarifverträge für Leiharbeit abzuschließen, widerspricht dem Beschluss des Gewerkschaftstages, der »Leiharbeit in ihrer jetzigen Form« abgeschafft wissen will – es sei denn, die Gewerkschaft geht davon aus, per Tarifvertrag eine bessere als die gesetzliche Regelung erreichen zu können. Das ist natürlich möglich und würde dem Beschluss des Gewerkschaftstages entsprechen, allerdings wäre dazu eine hohe Mobilisierung in den Betrieben und in der Gesellschaft erforderlich. Nutzen würde das dann auch lediglich den ZeitarbeiterInnen, die unter die Tarifverträge der IG Metall fallen. An einer wichtigen Schnittstelle hat die DGB-Tarifgemeinschaft die vorhandene Möglichkeiten nicht genutzt, die Billigtarife in der Zeitarbeit zu verhindern. Dazu der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler:
»… die Existenz (der DGB-Tarifverträge; S.K.) verhindert, dass der im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) verankerte Equal-Pay-Grundsatz überall zum Tragen kommt. Ich habe schon früher Tarifabschlüsse für einen großen Fehler gehalten. Man hätte sich 2004 verweigern können. Dann hätte es nur die CGZP-Dumpingtarife gegeben. Schon damals hätte man in einem gerichtlichen Verfahren die Tarifunfähigkeit der CGZP feststellen lassen können. Schätzungsweise 2007 wäre der Equal-Pay-Grundsatz dann wirksam geworden. Hinter dem Vorgehen der DGB Gewerkschaften steckte wohl die Vorstellung, durch die Ausweitung der Randbelegschaften die Stammbelegschaften schützen zu können.«
Seither haben die Gewerkschaften den Abbau von Lohnstandards und insbesondere den Ausbau des Niedriglohnsektors unterstützt. Nicht verbal – da haben die Gewerkschaftsführungen heftig gewettert, sondern durch Nichtstun bzw. durch Tarifabschlüsse unterhalb von Inflationsrate und Produktivitätssteigerung sowie durch die Zustimmung zu betrieblichen Kostensenkungsprogrammen. Spätestens dann muss von »exklusiver Solidarität« (Klaus Dörre) oder – ebenso schlimm – einer »Wettbewerbskoalition«  von Betriebsräten, Gewerkschaften, Unternehmen und Arbeitgeberverbänden gesprochen werden.

5. Ein zweiter Baustein neben kräftigen Lohnerhöhungen zur Krisenüberwindung ist eine radikale Arbeitszeitverkürzung, eine Umkehrung des Trends zu längeren Arbeitszeiten. In der Zeitung der IG Metall, die nach dem Gewerkschaftstag erschien, drückte der Betriebsratsvorsitzende von BMW in Leipzig, Jens Köhler, in einem Leserbrief seine Enttäuschung darüber aus, dass bei der Berichterstattung vom Gewerkschaftstag die Debatte und die Beschlüsse zur Verkürzung der Arbeitszeit mit keinem Wort erwähnt werden.  In der folgenden Ausgabe der Mitgliederzeitung darf Jens Köhler dann ein kleines Interview geben, das übertitelt ist mit »Arbeitszeit: Im Osten wieder Thema«.  Falsch ist dieser Titel, weil im Text dann sehr richtig für die gesamte Wirtschaft festgestellt wird: »In der Krise seit 2008 konnten wir es praktisch mit den Händen greifen: Arbeitszeitverkürzung sichert Arbeitsplätze.« Und er liefert die notwendige Schrittfolge gleich mit: »Die neue selbstbewusste Diskussion weiterführen, Argumente sammeln und eine gute Strategie entwickeln.«
Allerdings scheint es derzeit bei den Gewerkschaften keine ernsthaften Absichten zu geben, diese Beschlusslage von ver.di und IGM und dieses dringende Erfordernis in gewerkschaftliches und politisches Handeln umzusetzen.

Dringend ist die radikale Verkürzung der Arbeitszeit aus mehreren Gründen. Ohne Arbeitszeitverkürzung
– ist die Erwerbslosigkeit nicht zu überwinden,

– wird es nicht gelingen, die prekären Jobs zurückzudrängen, den Niedriglohnsektor und die Leiharbeit abzuschaffen,
– werden psychische Erkrankungen weiter zunehmen,
– gibt es keine geschlechtergerechtere Teilung aller Arbeit,
– gibt es keine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
– gibt es keine Zunahme an demokratischer Partizipation,
– wird es nicht gelingen, die Altersarmut zu verhindern,
– ist die Autonomie der Beschäftigten nicht zu vergrößern, die Verfügungsgewalt der Unternehmer über die Beschäftigten nicht einzuschränken,
– und nicht zuletzt: Ohne Arbeitszeitverkürzung und ohne Überwindung der Erwerbslosigkeit kommen die Gewerkschaften nicht aus der Defensive, in die sie sich haben drängen lassen.

Steffen Lehndorff vom Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Uni Duisburg-Essen stellt in einem Kommentar für die Dezemberausgabe der Fachzeitschrift Arbeitsrecht im Betrieb  dar, dass eine Rückkehr zur Tendenz verlängerter Arbeitszeiten zu beobachten ist. Die heftigen Auseinandersetzungen seit Mitte der 1990er hatten bis zum Vorabend der Krise im Jahr 2008 dazu geführt, dass die gewöhnlichen Arbeitszeiten der Vollbeschäftigten wieder auf dem Niveau vom Ende der 1980er angelangt waren. Diese Verlängerung ist mit Arbeitsverdichtung und dem Abbau von Stammbeschäftigung verbunden. Angesichts der Krisenerfahrungen wird die Arbeitszeitflexibilität auch von Betriebsräten als eine Art »Sicherheitsreserve« verstanden – eine Einstellung, die Lehndorff kritisiert, denn: »… aus der Krise lernen sollte auch einschließen, aus den Erfahrungen zu lernen, die vor der Krise gesammelt wurden. Die gegenwärtige Rückkehr zu Arbeitszeitverlängerungen beeinträchtigt die Beschäftigungswirksamkeit der jetzigen, ohnehin sehr schwachen und prekären wirtschaftlichen Erholung.« In der Krise hat die Flexibilisierung der Arbeitszeiten also geholfen, Entlassungen zu vermeiden. Allerdings hat sie zuvor verhindert, dass ein Teil der Jobs überhaupt erst geschaffen wurden – und tut dies nun erneut.

Häufig wurden durch »Sanierungstarifverträge«, »Zukunftsverträge« und »Beschäftigungssicherungsvereinbarungen« Arbeitszeitverlängerungen vereinbart. Nirgendwo in Europa ist die Arbeitszeit derart verlängert worden. Ganz wesentlich tragen lange Arbeitszeiten zur Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit und zur strukturellen Schwächung der Gewerkschaften bei. Deshalb die Beschlussfassung auf dem Gewerkschaftstag, das Thema »Arbeitszeitverkürzung« – entgegen der Empfehlung von Vorstand und Antragskommission – wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Wenn die Gewerkschaftslinke das Thema jetzt auch nicht mehr setzt, dann wird sie meines Erachtens ihrer Verantwortung nicht gerecht.
Aber es gibt die andauernde Krise, über fünf Millionen Erwerbslose, über acht Millionen Unterbeschäftigte und die Notwendigkeit, weniger Ressourcen zu verbrauchen. Nur durch eine radikale Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohn- und Personalausgleich ist diesem Problembündel beizukommen. Das ist heute so wenig attraktiv, wie Anfang der 80er-Jahre die Forderung nach der 35-Stunden-Woche attraktiv war. Es ist politisch-ökonomische Aufklärung erforderlich und eine große Kampagne für eine neue Arbeitszeitinitiative.
Die Arbeitsgruppe »Alternative Wirtschaftspolitik« hat belegt, wie eine solche Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich ökonomisch möglich ist.  Aus der Defensivposition kommt die Gewerkschaft nur, wenn es gelingt, Erwerbslosigkeit und Niedriglohnsektor zurückzudrängen – und das geht nur durch eine Verknappung der Ware Arbeitskraft, durch eine radikale Arbeitszeitverkürzung.

6. Es klingt vielleicht absurd, ist aber  die einzige Möglichkeit: Nur durch eine Umkehrung der Verteilungsverhältnisse, durch eine völlig andere Ver- und Fairteilung von Geld und Arbeit bzw. Arbeitszeit kommen die Gewerkschaften aus der Defensive, lassen sich große gesellschaftliche Probleme wie Massenarbeitslosigkeit (45 Millionen Menschen in Europa sind offiziell erwerbslos), prekäre, unwürdige Arbeitsverhältnisse, psychische Erkrankungen, die häufige Unvereinbarkeit von Beruf und Familie lösen.
Das gibt es nicht ohne harte Auseinandersetzungen. Mehr noch als in früheren Jahrzehnten haben die Mächtigen und Regierenden jegliche Arbeitszeitverkürzung zum Tabu erklärt. Sie wissen, dass die Verfügbarkeit über die Arbeitskraft der Menschen für sie die einzige Macht- und Reichtumsquelle ist. Für diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben – mit unterschiedlichsten sozialen Bezügen in »Normalarbeitsverhältnissen«, in Leiharbeit und anderer prekärer Beschäftigung, in Scheinselbständigkeit, als Freelancer und Erwerbslose – wird es immer schwerer, das Verbindende ihrer Lage zu erkennen, gemeinsame Interessen zu definieren, einen (gemeinsamen) Gegner zu erkennen und also auch (gemeinsam) zu kämpfen. Deshalb lohnt es, die Ungleichmacherei zu widerlegen und zu schauen, wer schon kämpft, wo schon gekämpft wird – und diese Kämpfe zusammenzuführen!

Es gibt schon einzelne, teils monatelange Streiks und Kämpfe, teils erfolgreich, teils weniger erfolgreich, z.B. im Einzelhandel und im Verkehrsgewerbe mit neuen Ideen für die Streiktaktik. Wenn im Nahverkehr nur die Fahrkartenverkäufer und Kontrolleure streiken, findet das größte Sympathien bei den Fahrgästen, die Wirkung für den Arbeitgeber ist mehrfach fatal! In den jüngsten Arbeitskämpfen sind es vor allem Frauen, Erzieherinnen, MigrantInnen, Gebäudereiniger, Minijobber und prekär Beschäftigte, deren Wut am größten und deren Angst am geringsten ist – viel mehr zu verlieren haben sie bei der miesen Bezahlung und bei den miesen Jobs nicht.

Es gilt jetzt, in den nächsten kleineren oder größeren Auseinandersetzungen wirkliche Erfolg zu erzielen, Verbesserungen zu erreichen und Vertrauen in die eigene Stärke zu gewinnen. Es kommt darauf an, Druck zu machen, auf der Straße, in den Betrieben, auch auf die Gewerkschaften, damit sie aufwachen und mobil werden. Gewerkschaften vermeiden den Kampf nicht, weil sie schwach sind – sie sind schwach, weil sie den Kampf vermeiden, weil sie Ausbeutung wie Leiharbeit »fair« gestalten wollen, was zumindest stillschweigende Zustimmung bedeutet. Kulturelle, sektorale, regionale und internationalistische Ansätze von sozialer und gesellschaftlicher Gewerkschaftsarbeit gibt es fast nicht; so ist der Kampf zum Scheitern verur-teilt und das Vertrauen in die Gewerkschaften schwindet.
Heiner Flassbeck schreibt zum Schluss eines Aufsatzes in der Februarausgabe der Zeitschrift Capital: »Erst wenn alle Dämme brechen, hört man nicht mehr auf die Experten, die stets erklärt haben, die Dämme seien absolut sicher.«

»Die Realwirtschaft ist auf stabilem Niveau, auch wenn sich im Jahresverlauf 2011 das Wachstum etwas abgeschwächt hat. Bei der Produktion gibt es aktuell einen kleinen Dämpfer, der noch im Rahmen normaler Schwankungen liegt. Die Aufträge in der Metall- und Elektrobranche liegen immer noch bei vier Prozent über dem Vorjahresniveau. Die Produktivität soll zwischen 0,4 und 1,4 Prozent zulegen, bei der Inflationsrate erwarten die Institute zwischen 1,6 und 1,8 Prozent.« (IGM-Presseerklärung vom 15. Dezember 2011)

Wie entsteht eine Lohnforderung, wie setzt sie sich zusammen?

Inflationsrate (2011): Von 1,7 Prozent im Januar über 2,6 Prozent im September bis 2,2 Prozent im Dezember; im Durchschnitt 2,5 Prozent unterstellt für 2012 – ohne die Spezifik des Warenkorbes: z.B. Verkehr (4 Prozent), Grundnahrungsmittel (3 Prozent), Energie (10 Prozent), Mieten (5 Prozent) etc.pp

Produktivität: Die gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung beträgt in der letzten Dekade etwa 1,5 Prozent pro Jahr – dies hängt mit dem Trend zu mehr Dienstleistungen zusammen – hier sank die Produktivität sogar. In der Alten-Pflege und beim Friseur sind Produktivitätssprünge in diesem Umfang kaum möglich bzw. angesichts des damit verbundenen Rationalisierungsproblems nicht wünschenswert! Der monetäre, zu verteilende Reichtum unserer Gesellschaft entsteht in der materiellen Produktion, deren Produktivitätssteigerung deshalb Basis für die Aufstellung von Tarifforderungen sein kann.
Die Produktivitätsrate, also die Steigerungen in der Metall- und Elektroindustrie liegen bei ca. + 5 Prozent; ähnlich in der chemischen Industrie, z.T. auch bei Banken, Versicherungen und im öffentlichen Dienst. Für Daimler lauten die Prognosen: 2012 und 2013 jeweils 10 Prozent – mit Wirkungen auf den Rest der Industrie.

Die Formel für Tarifforderungen:
Arbeitsentgelte sind begründet in zweiseitigen Arbeits- und Tarifverträgen zwischen Unternehmern und Beschäftigten bzw. Arbeitgeberverband und Gewerkschaft. Sie sind befristet und kündbar, z.B. auf zwölf Monate. Erst über die Produktivitätsentwicklung und Inflationsrate hinausgehende Tarifabschlüsse wirken sich zugunsten der Arbeitseinkommen und zulasten der Gewinne aus.
Die Formel für 2012 müsste lauten:
Inflationsrate        + 2,5 Prozent
Produktivität         + 2,0 Prozent
Umverteilung z.B. + 4,0 Prozent
Abschluss           + 8,5 Prozent

Dies durchzusetzen vor dem Hintergrund explodierter privater Vermögen und gesunkener Arbeitseinkommen würde eine Forderung von ca. 12 Prozent, eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit und eine gemeinsame Mobilisierung der neun Millionen Beschäftigten, für die jetzt Tarifverhandlungen anstehen, erfordern.

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/12
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express

 

http://www.linksnet.de/artikel/27338

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