Für die jüngste Ausgabe von Ossietzky habe ich einen weiteren menschenfeindlichen Aspekt kapitalistischer Produktionsweise beschrieben: Arbeit gefährdet die Produktion des Lebens!
In der gewerblichen Wirtschaft in Deutschland gab es im Jahr 2016 fast 400 tödliche Unfälle, im ersten Halbjahr 2017 über 220 solch tragischer Todesfälle. Eventuell ist die Zahl etwas ungenau, weil Suizide am Arbeitsplatz in die Bilanz der Arbeitsunfälle selten und erst nach langen gerichtlichen Auseinandersetzungen einbezogen werden. Womit wir bei einem dramatischen Problem sind: Arbeit tötet!
Im Mai 2014 stirbt ein Bauarbeiter im VW-Werk Hannover beim Bau einer neuen Produktionshalle. Im Juni 2015 erdrückt ein Roboter einen junger Arbeiter im Kasseler VW-Werk, und im Februar 2016 kommt ein Testfahrer auf dem VW-Prüfgelände im niedersächsischen Ehra-Lessien bei einem Unfall ums Leben. Aus Wolfsburg ist über einen bisher unbekannten Fall aus dem Herbst 2017 zu berichten: Ein Ingenieur stürzt aus dem Fenster seines Büros und stirbt an den Verletzungen; seine Kollegen sind zutiefst erschrocken und geschockt. Ähnliches spielt sich in allen anderen großen Betrieben unseres Landes ab.
Der japanische Begriff „Karōshi“ wurde als „Tod durch Arbeit“ inzwischen in die globale Weltsprache übernommen. Vor einigen Tagen war im Online-Magazin Telepolis zu lesen, dass „japanische Frauen zu müde seien, um nach einem Liebespartner zu suchen“. Felix Lill berichtete in der Wiener Zeitung Ende November 2017 aus Tokio: „Fünf Jahre waren wir ein Paar gewesen, mit all den großen Plänen und Träumen, die Verliebte so aushecken. Vielleicht eine Hochzeit, vielleicht Kinder, bestimmt viel Glück. Aber dann, kurz nach unserem Umzug nach Tokio, war es aus. Schon länger lag diese Trennung in der Luft, doch nur als Schreckensbild, das uns den Himmel, den wir uns als Zukunft malten, umso begehrenswerter machte. Entsprechend hart fühlte sich der Aufprall auf dem Boden der Realität an. Da schien es erst kein Trost zu wissen, dass ich nun zu diesen einsamen Hunden gehörte, die durch die Stadt streunen und vielleicht gar nicht wissen, wonach sie suchen.“
Nach einer Umfrage stresst die Arbeit die Frauen, die dennoch gerne heiraten würden, was wiederum die Männer stresst. Auch die Verheirateten gaben als Grund für die verschwundene Lust an Sex und körperlicher Liebe vorwiegend an, von der Arbeit erschöpft zu sein. Frauen sagen heute, sie seien nicht entspannt genug, um an Liebesbeziehungen interessiert zu sein. Sie scheinen nun ebenso überarbeitet zu sein wie vormals die Männer mit langen Arbeitszeiten und kaum Urlaub. Das geht so weit, dass immer mal wieder Menschen, zunehmend auch Frauen, an Karōshi, also an Überarbeitung sterben. Dazu zählen Suizide, aber auch Todesfälle durch Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Das Problem wird durch den Niedriglohnsektor verstärkt, was dazu beiträgt, keine festen Bindungen oder Ehen eingehen zu können oder zu wollen, geschweige denn, Kinder zu bekommen und großzuziehen.
Das ist ein bedrohlicheres Ergebnis unserer Art von „Arbeitsgesellschaft“, dieser Ideologie von „Hauptsache Arbeit“, dieser Propaganda, schlechte Arbeit sei besser als erwerbslos zu sein: Wir bauen mit unserem Arbeitsfetisch an einer kinderfeindlichen Welt! Es werden weniger Kinder geboren, Mütter und Väter haben zu wenig Zeit für die Liebe zu den Kindern, und die Unterbringung und Versorgung der Kinder wird zum Geschäftsmodell für Krippen- und Kindergartenbetreiber. So wird das nix mit der Zukunft, jedenfalls nicht mit einer guten Zukunft! Arbeit tötet also nicht nur, sondern gefährdet Lust und Liebe und damit auch die „Produktion des menschlichen Lebens“.
Was würde helfen zur Wiederherstellung der Bedingungen für die Produktion des Lebens? Weniger Arbeit, mehr Zeit für das Leben, die Partnerschaft, die Beziehungen, für die Kinder sind möglich und nötig. Warum wird die Arbeit in unserem Land nicht gerechter verteilt, warum wird sie nicht gerechter entlohnt? In unserer kapitalistischen, neoliberalen Gesellschaft geht es eben nicht um den Menschen, nicht um Bedürfnisbefriedigung, sondern um Konkurrenz und Profit, am besten um Maximalprofit.
Die Zeiträuber sind aber schon wieder unterwegs: „Betriebe sollen im Einvernehmen mit dem Betriebsrat beziehungsweise direkt mit dem Arbeitnehmer über eine Einzelvereinbarung mehr Möglichkeiten zur Gestaltung flexibler Arbeitszeiten erhalten.“ Weiterhin ist „– bei gleichbleibendem Regelungsregime der Zuschläge – die Anhebung der Höchstgrenze der Arbeitszeit auf zwölf Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich vorgesehen“ – so werden die Pläne der schwarz-braunen Koalition von ÖVP und FPÖ in Österreich beschrieben (kurier.at). Ähnlich sind die Pläne der Regierung Macron in Frankreich. Mit dem „Weißbuch Arbeit“ der letzten GroKo in Berlin sind ebenfalls derartige Projekte bekanntgeworden, obwohl es doch um eine faire Verteilung der Arbeit gehen sollte: weniger Stunden für diejenigen, denen durch zu viel Arbeit die Lust am Leben genommen wird ,und mehr Stunden für diejenigen, die unfreiwillig in Minijobs und Teilzeitarbeit zu wenig Geld verdienen.
Gewerkschaften, soziale und ökologische Bewegungen haben sich auf den Weg gemacht, den Acht-Stunden-Tag zu verteidigen und die Arbeitszeit weiter zu verkürzen.
Der Acht-Stunden-Tag wird 2018, im Jubiläumsjahr der Novemberrevolution, 100 Jahre alt. Und damit wird es höchste Zeit, die nächsten großen Schritte der Arbeitszeitverkürzung zu gehen. Dafür brauchen Gewerkschaften auch ein bisschen Druck von außen und vor allem Unterstützung.
Nach wie vor aktuell: Ossietzky-Sonderdruck: »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit« mit Beiträgen von Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup und Prof. Dr. Mohssen Massarrat und einem Vorwort von Eckart Spoo, 2011, 20 Seiten, 2 €/ zzgl. 1,50 € Versandkosten, ossietzky@interdruck.net.
http://www.ossietzky.net/willkommen