Es gibt keinen Einstieg in die sozial-ökologische Transformation ohne Arbeitszeitverkürzung!
Gibt es ein Recht auf Arbeit, wie es unter anderem Gewerkschaften seit vielen Jahren fordern? Oder gibt es ein Recht auf Faulheit, wie es unter anderem Marx Schwiegersohn Paul Lafargue im Jahre 1880 zur Widerlegung des „Rechts auf Arbeit“ fordert?
Es geht um die praktische und philosophische Frage, ob wir leben um zu arbeiten oder ob wir arbeiten, um zu leben? Über die Bedeutung und Widersprüchlichkeit der Arbeit bei der Entwicklung der Menschheit schrieb Friedrich Engels im Jahr 1876 zur Dialektik der Natur, über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen:
„Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen. … Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unseren Menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.“
Zunächst muss unbedingt über den Arbeitsbegriff und seinen Inhalt ein gemeinsames Verständnis hergestellt werden. Es gibt Lohnerwerbsarbeit, aber eben auch andere Arbeit, Nichterwerbsarbeit, Nichtlohnarbeit im familiären Bereich (Familien-Arbeit), im gesellschaftlich-politischen Bereich (ehrenamtliche Arbeit, z.B. Naturschutz) und natürlich im künstlerischen Bereich. Frigga Haug spricht ergänzend von der Eigenarbeit, von der Arbeit an und für sich selbst und also von der Vier-in-einem Perspektive, die gleichmäßig im Leben verteilt werden sollte.1
Entsprechend unterschiedlich sind die Anforderungen an materielle Abgeltung dieser Arbeit, von gutem Lohn über Grundsicherung und Grundeinkommen bis zum grundgesetzlichen Sozialstaatsgebot und den Staatsstrukturprinzipien bis zu den Grundlagen der EU (Art 20, 23, 28 GG).
Nur kursorisch benannt werden soll hier die „ursprüngliche Akkumulation“, die Enteignung, der Raub und die Trennung des Arbeiters bzw. des Bauern vom Produktionsmittel, von Boden und Werkzeug in der frühen Entwicklungsphase des Kapitalismus – zeitlich versetzt in verschiedenen Weltregionen. Marx analysiert und beschreibt diese Vorgänge im Kapital sehr anschaulich, sodass wir Wiederholungen in anderen Ländern und anderen Entwicklungsstufen sehr gut als solche wahrnehmen können.2
Ebenfalls nur kursorisch sei ganz kurz auf die Geschichte des Kampfes um Zeit hingewiesen. Dieser begann mit dem Widerstand gegen die ursprüngliche Akkumulation, gegen die Zwangsregime der Fabrikherren an 7 Tagen in der Woche, an 12 Stunden pro Tag, gegen die grenzenlose Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Der 10-Stunden-Tag und der freie Sonntag wurden erkämpft, blutig wurde um den 8-Stunden-Tag gerungen, der im Ergebnis der Novemberrevolution in Deutschland gesetzlich Standard wurde. Der 1. Mai als Kampftag der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Arbeiter_innenklasse, liegt im Massaker der US-Nationalgarde gegenüber der für den 8-Stunden-Tag streikenden Chikagoer Arbeiter am 1. Mai 1886 auf dem Hayetmarket begründet. Im Nachkriegsdeutschland wurde ein kurzer Frühling der Vollbeschäftigung nach der Wiederaufbauphase dadurch ermöglicht, das die 40-Stunden-Woche und der freie Samstag tariflich weitgehend durchgesetzt wurden und die Urlaubsansprüche der Beschäftigten erweitert wurden.
Nur in den 1960er Jahren betrug die Erwerbslosenrate deutlich unter 1 Prozent, davor und danach war und ist Massenerwerbslosigkeit die beschissene kapitalistische Normalität. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche mit wochenlangen Streiks in der Metallindustrie und der Druckindustrie endet mit kleinen Erfolgen für begrenzte Bereiche, konnte aber bisher nicht als neuer Standard durchgesetzt werden. Nun wird gerade ein neuer Anlauf genommen, der angesichts der Belastungen bei der Erwerbsarbeit und angesichts der derzeitigen Produktivitätssprünge unverzichtbar ist.3
Wir haben es aktuell mit einem ganzen Bündel von Problemen zu tun. Es gibt eine verfestigte Erwerbslosigkeit von 3,5 Mio. Menschen (7,5%) plus 7,5 Mio. „geringfügig Beschäftigte“, überwiegend Frauen in unfreiwilliger und schlecht entlohnter Teilzeitarbeit, in Minijobsund als oft unfreiwillige Solo-Selbständige, zusammen über 10 Millionen Menschen, die unterbeschäftigt sind.
Zwar rühmt sich die Bundesregierung mit nie dagewesener Anzahl Erwerbstätiger von 44 Millionen Personen, sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind jedoch lediglich 33 Millionen Menschen, in Vollzeit und damit auskömmlich beschäftigt sind gar nur 24 Millionen Menschen. Das Wunder der großen Zahl Erwerbstätiger ist vor allem auf Niedriglohn und prekäre Beschäftigung aufgebaut, überwiegend also auf schlechte Arbeit und schlechte Arbeitsbedingungen.
Die finanziellen Kosten der Erwerbslosigkeit belaufen sich inklusive der Steuerausfälle und der Ausfälle der Sozialversicherungen auf ca. 60 Mrd. € pro Jahr. Hinzu kommen Stress durch zu viel Arbeit oder durch zu wenig Arbeit und deshalb auch zu wenig Entgelt.
Tendenziell haben wir es mit einem sinkenden Arbeitsvolumen zu tun, kurzfristig nur aufgefangen durch die exorbitanten Exportüberschüsse und den Niedriglohnsektor. Die steigende Erwerbstätigkeit stößt aber bald wieder auf große Produktivitätssprünge, auf die Grenzen der Exportmöglichkeiten und natürlich auf begrenzte Ressourcen und zu begrenzendes Wachstum.
Zum Problembündel gehören die Ungerechtigkeiten im System zwischen den Geschlechtern, zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen In- und Ausländern, zwischen Ost und West, zwischen Hight-Tech-Betrieben im Inland und verlängerten Werkbänken im Ausland.
Zum Problembündel gehört, dass der Grad an geforderter Flexibilität in der Erwerbsarbeit bereits das gesellschaftliche Leben zerstört, Sportvereine, kommunale Parlamente, Kirchen und viele andere können nicht mehr auf Zuspruch hoffen, weil die Menschen rund um die Uhr für den Betrieb zur Verfügung stehen müssen. Wir entwickeln uns auf diese Weise zu einer Gesellschaft der Kinderfeindlichkeit. Nacht- und Wochenendarbeit hat erheblich zugenommen und führt zu unvertretbaren Belastungen der Menschen – selbst am Heiligabend, der auf einen Sontag fällt, sollen die Geschäfte geöffent werden.
Aus all diesen Gründen gibt es eine Untergrundbewegung zur 30-Stunden-Woche – alle, die es betrieblich und finanziell irgendwie ermöglichen können, reduzieren ihre Arbeitszeit; natürlich ohne eigentlich notwendigen und möglichen Lohnausgleich.
In einem der reichsten Länder der Erde stellt sich natürlich die Frage, wo die Überschüsse aus der Produktion bleiben, wo der Profit bleibt und wofür er verwendet wird.
Schließlich darf und muss natürlich auch die Frage gestellt werden, was wir eigentlich produzieren und exportieren. Wenn wir dann zu dem Ergebnis kommen, dass es überwiegend Autos, Waffen und Lebensmittel sind, mit denen in unserem Land einerseits Geld verdient wird, mit dem andererseits Arbeitslosigkeit exportiert wird, mit dem andere nationale Märkte erdrückt werden, dann wird das Problembündel voll und sehr komplex, Antworten entsprechend anspruchsvoll. Klar ist jedoch, es muss um Bedürfnisorientierung gehen (statt Konsumzwang), es muss darum gehen, anders und weniger zu arbeiten!
Die IG Metall und ver.di haben jeweils eine Arbeitszeitkampagne begonnen. Das gemeinsame Ziel heißt Kurze Vollzeit. Dieser Begriff wurde gewählt in Abgrenzung zur „Teilzeit“, die negativ belastet ist wegen weniger Einkommen und weil die Menschen eben nicht als voll-wertig betrachtet werden. Bei den Stahlbetrieben in Eisenhüttenstadt zum Beipiel haben 80 Prozent der Beschäftigten eine Arbeitszeit von 32 Stunden gewählt – und niemand spricht dort von Teilzeit. So setzt sich ein neuer Standard durch, um den es eben auch gehen muss.
Es kommt darauf an, die nur ganz kurz benannten ökonomischen Zusammenhänge deutlich machen! Das ist ein guter und wichtiger Prozess gewerkschaftlicher und politischer Bildungsarbeit, die da zu organisieren und zu leisten ist.
Ein weiterer wichtiger Schritt könnte die Orientierung auf Gemeinwohlarbeit auf allen Ebenen sein – ein Schritt, der mit einer Vergütung von bisher nicht vergüteten Tätigkeiten einhergehen könnte. Alles das, was die Menschen für die Gesellschaft, für das Gemeinwohl tun, wird angemessen entlohnt und als „Arbeit“ anerkannt.
Schließlich geht es darum, Gewerkschaften und Betriebsräte laut und öffentlich in ihrem Kampf gegen Verlängerung von Erwerbsarbeitszeit, in ihrem Bemühen für kollektive oder individuelle Ansprüche auf Verkürzung der Arbeitszeit und Lohnausgleich zu unterstützen – von den Arbeitgebern und aus der etablierten Politik kommt nur Gegenwind.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat eine Vielzahl von nützlichen Vorschlägen bis hin zur Wirtschaftsdemokratie entwickelt.4
Die gesellschaftlichen und systemkritischen (transformatorischen) Dimensionen liegen also in der Überwindung jeglicher Spaltung am Arbeitsmarkt, der Aufhebung langer Ungerechtigkeiten, der Überwindung der Erwerbslosigkeit und der Beendigung des Raubbaues an der Natur und an natürlichen Ressourcen.
Und wir haben viele Bündnispartner wie zum Beispiel Attac. Attac hat die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche für Europa aufgenommen, die Attac AG ArbeitFairTeilen ist an der Mitarbeit vieler weiterer Menschen sehr interessiert5. Die Kirchen, die Sportverbände, Mediziner_innen und die Umweltbewegung sind weitere gesellschaftliche Gruppen, die mit am gleichen Ende des Stranges ziehen. Nun muss daraus noch eine große Bewegung werden. Die Chance ist jetzt da, gleichermaßen die Notwendigkeit. Nicht jammern über Jamaika ist angesagt, sondern Klassenkampf für gute Arbeit und gutes Leben. Billiger ist das nicht zu haben!
Vortrag in Bonn, 6.11.2017, Stresemann-Institut, Workshop zur Arbeitszeitfrage, poeples climat summit, COP 23