Klassenjustiz

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich – Artikel 3 des Grundgesetzes. „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.“ (Anatlole France)

Sind alle gleich vor dem Gesetz? Je teurer der Verteidiger, desto unschuldiger wird der Angeklagte – soweit es überhaupt zur Anklage kommt. Zwei exemplarische Fälle.

Fall 1: Einstellung des Verfahrens gegen einen 18-jährigen, der mit einem 600 PS-Auto einen tödlichen Unfall verursacht.

Am 2. Juli 2024 gegen 10.15 Uhr verlor der 18-jährige die Kontrolle über einen 612 PS-starken AMG-Mercedes in der Hamburger Innenstadt. Der Wagen kam mit überhöhter Geschwindigkeit von der Straße ab, überfuhr den Fußweg und kam an einer Säule direkt vor dem Eingang der Sparkasse zum Stehen. Zuvor hatte das 2,5 Tonnen schwere Fahrzeug einen Transporter gerammt – der den damals 39-jährigen Hochbahnmitarbeiter Thomas B. unter sich begrub. Der schwer verletzte Familienvater überlebte den Unfall nicht. Gegen den Fahrer des Wagens wurde ermittelt, dazu gehörte die Auswertung der Blackbox des Autos, die Erkenntnisse der Beweismittel des Unfallortes, mehr als 50 Zeugenaussagen, Ergebnisse aus der Rechtsmedizin.

Wie die Hamburger Staatsanwaltschaft erklärte, wurde das Verfahren gemäß § 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung eingestellt. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft: „Aufgrund der durchgeführten Ermittlungen, insbesondere nach Einholung eines neurologischen Gutachtens, geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass der Beschuldigte kurzzeitig das Bewusstsein und damit einhergehend die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hat. Hinweise darauf, dass er jederzeit mit einer solchen Situation hätte rechnen müssen, haben die Ermittlungen nicht ergeben. Insofern ließ sich ein Fahrlässigkeitsvorwurf nicht erhärten.“

Strafgesetzbuch § 222, Fahrlässige Tötung

Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Strafprozeßordnung (StPO) § 170 Entscheidung über eine Anklageerhebung

(1) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.

(2) Andernfalls stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Hiervon setzt sie den Beschuldigten in Kenntnis, wenn er als solcher vernommen worden ist oder ein Haftbefehl gegen ihn erlassen war; dasselbe gilt, wenn er um einen Bescheid gebeten hat oder wenn ein besonderes Interesse an der Bekanntgabe ersichtlich ist.

Fall 2: Vier Monate Haft für eine Mutter von vier Kindern für den Versuch, Lebensmittel für 47,57 Euro im Discounter Netto ohne zu bezahlen mitzunehmen.

Der Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts spricht von »beschleunigten Verfahren, soweit es sich um Verfahren auf Antrag der Amtsanwaltschaft handelt«. In diesem in Tempelhof verorteten Bereich gibt es nur zwei zuständige Richterinnen: Abteilung 210 und 211. Beide vertreten sich gegenseitig. Mehr Hauptverhandlungen gibt es hier nicht. An keiner Stelle im Gesetz ist die Rede davon, dass für Fälle, in denen das Gesetz ein beschleunigtes Verfahren erlaubt, eine Sonderzuweisung geschaffen werden soll. Die meisten Menschen sind unverteidigt vor Gericht. Sie sind allein, sie sind mit einer ihnen fremden, juristischen Sprache konfrontiert, sie sind verunsichert, sie wissen nicht, was sie dürfen, sie trauen sich nicht zu fragen. Das ist der Alltag am Tempelhofer Damm. Es möchte auch niemand, dass sie fragen. Das bringt den Zeitplan ja durcheinander.

Hier gilt nach wie vor die Praxis, dass nur dann eine Pflichtverteidigerin »bestellt« wird, wenn eine hohe Strafe droht. Eine Geldstrafe gilt nicht als schlimm genug. Auch dann nicht, wenn klar ist, dass die beschuldigte Person sie nicht bezahlen können wird und die Strafe stattdessen absitzen muss. Selbst dann, wenn auf die schriftliche Anklageschrift verzichtet wird, wie es im beschleunigten Verfahren möglich ist, gesteht man Angeklagten keine Verteidigerin zu.

Strafgesetzbuch (StGB) § 242 Diebstahl

(1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

Strafgesetzbuch § 265a Erschleichen von Leistungen

(1) Wer die Leistung eines Automaten oder eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder einer Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.

(2) Der Versuch ist strafbar.

Es wird hier nichts eingestellt. Es gibt hier keine Sachverhaltsaufklärung, kein Verständnis, keine Suchtprophylaxe, keine Sozialarbeitenden, keinen Versuch zu verstehen oder nach den passenden Antworten zu suchen. Es gibt in den knapp 15-minütigen Verhandlungen auch gar keine Zeit dafür. Das ist der Sinn und Zweck dieser Verfahren. Sie sind eines Rechtsstaates unwürdig – so Dr. Lukas Theune, Rechtsanwalt in Berlin und Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV).

Klassenjustiz – ein systemisches Problem

Vielleicht hat der 18-jährige Unfallverursacher, Sohn eines bekannten Gastronomen, dem das Fahrzeug gehörte, kurzzeitig sein Bewusstsein verloren, wie ein neurologisches Gutachten attestiert und vielleicht hätte er damit nicht rechnen müssen. Jedenfalls hat die Staatsanwaltschaft sich bemüht und in alle Richtungen ermittelt. Bestenfalls hat die Versicherung des Gastronomen die Kosten des Gutachtens getragen. Eine Verantwortlichkeit für einen toten Familienvater und mehrere teils schwer verletzte Personen kann die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln.

Die mittellose Mutter hat etwas zu Essen geklaut, der heroinabhängige Erwerbsunfähigkeitsrentner und der Minijobber sind ohne Ticket im Öffi gefahren und werden jeweils zu Geldstrafen und, da sie diese nicht zahlen können, zu Ersatzhaft verurteilt. – Die Straftatbestände sind eindeutig, Hintergründe werden nicht ermittelt, Gutachten werden nicht erstellt, Anwälte werden nicht hinzugezogen. Die Verantwortung für Diebstahl von Lebensmitteln für 47 Euro und „Erschleichung von Beförderungsleistungen“ bei den Verkehrsbetrieben liegen offen zutage und werden gnadenlos bestraft.

Quellen:

Tödlicher Jungfernstieg-Unfall mit 600 PS-SUV war wohl tragisches Unglück – Die Welt, 28.4.2025 https://www.welt.de/regionales/hamburg/article256027686/Verfahren-eingestellt-Toedlicher-Jungfernstieg-Unfall-mit-600-PS-SUV-war-wohl-tragisches-Unglueck.html

Soziale Probleme lassen sich nicht mit dem Strafrecht lösen – nd Die Woche, 26.4.2025 https://nd.digital/editions/nd.DieWoche/2025-04-26/articles/17684631

Ronen Steinke; Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich; Berlin-Verlag https://www.swr.de/swrkultur/literatur/ronen-steinke-vor-dem-gesetz-sind-nicht-alle-gleich-102.html Steinke greift mit seiner Analyse die historische Diskussion rund um den Begriff der Klassenjustiz wieder auf und beschreibt, dass sich dieses Problem in den vergangenen zwanzig Jahren weiter verschärft hat. Dabei beleuchtet er vor allem die strukturellen Gründe, die im deutschen Rechtsystem begründet liegen und liefert hiermit einen wichtigen Baustein zur gegenwärtigen Klassismus-Debatte, die viele gesellschaftliche Bereiche auf Diskriminierungen untersucht. Das Bildungs- oder Gesundheitssystem sowie die Medien werden darin bereits seit Längerem thematisiert, die Justiz wurde bislang eher ausgespart. Steinkes Überlegungen weiterzudenken und mit den sozialpolitischen Hintergründen zusammenzubringen, könnte für die Soziale Demokratie sehr lohnend sein.

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