Zur Klassenauseinandersetzung bei Volkswagen vor Abschluss eines neuen Tarifvertrages.
Im September platzte die erste Bombe: Der VW-Konzern will drei Werke schließen und 30.000 Personen aus der Belegschaft vor die Tür setzen. Besonders gefährdet sind die Werke in Osnabrück, Dresden und Zwickau. In Brüssel wird gegen den Widerstand der Arbeiter:innen ein Werk geschlossen, ohne dass vom deutschen Betriebsrat oder der IG Metall dagegen protestiert oder Solidarität mit den kämpfenden Kolleg:innen in Brüssel entwickelt würde. Neben dem massiven Personalabbau für alle VW-Werke drohen zudem Entgeltverluste in Richtung 20 Prozent und eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich für zehntausende Beschäftigte.
Mitte November platzte die zweite Bombe: IG Metall und Betriebsrat bieten vor der dritten Verhandlung Lohnverzicht aller Beschäftigten für zunächst zwei Jahre im Volumen von 1,5 Milliarden Euro an: Kürzungen von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Verzicht auf die Lohnforderung von sieben Prozent, stattdessen die in der Fläche vereinbarte Entgelterhöhung von 5,1 Prozent für 25 Monate, die allerdings nicht ausbezahlt, sondern in einen „solidarischen Zukunftsfond“ überwiesen werden soll. Dieser Lohnverzicht soll für 105.000 Arbeiter:innen in den sechs Werken der VW AG in Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter, Kassel, Hannover und Emden sowie 17.000 Personen im Bereich der Konzernstellen und Finanzdienstleistungen gelten, für die der Haustarifvertrag verhandelt wird. Für die sächsischen Werke soll das gleiche gelten. Umgerechnet auf all diese Personen bedeutet das einen Einkommensverlust von gut 12.000 Euro in den beiden Jahren. Für die Werke außerhalb des Haustarifvertrages wie in Osnabrück würde sicher eine gleiche Forderung aufgestellt, ebenso für die Werke von Audi in Ingolstadt und Neckarsulm mit nochmals rund 100.000 Arbeiter:innen. Und selbstverständlich müssten in der Logik der Konkurrenz die anderen Hersteller und Zulieferer diesem Lohnraub folgen. Eine millionenfache Senkung von Arbeitseinkommen mit allen daraus resultierenden Folgen für die Binnenwirtschaft – wie weniger Steuereinnahmen und Kaufkraftverlust – ist genau das, was dieses Land nicht braucht. Die Wahl in den USA hat deutlich gemacht, wohin eine solche Abwertung von Lohnarbeit führt.
„Im Gegenzug“ erwarten IG Metall und Betriebsrat eine Fortschreibung der „Beschäftigungssicherung“ und einen Erhalt aller Standorte. Zugleich erklärt die Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo sich bei der Pressekonferenz am 20. November 2024 bereit zu Personalabbau, Outsourcing und dem Abbau von Produktionskapazitäten. Seit 1994 sind allerdings der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen und die unbefristete Übernahme von ausgebildeten jungen Menschen vertraglich abgesichert. Darüber war jedoch, ebenso wie über die bereits gekündigte Vereinbarung zur übertariflichen Vergütung hochqualifizierter Expert:innen und zur Aufzahlung für Leiharbeiter:innen, von IG Metall und Betriebsrat bei ihrem Angebot von Lohnverzicht gar nichts zu hören.
Zur Vorgeschichte des aktuellen Konfliktes gehört, dass beim Abschied von der 28,8-Stunden-Woche ein „Arbeitszeitkorridor“ von 25 bis 33 Stunden vereinbart wurde, der per „Arbeitszeitfixpunkt“ im Einvernehmen mit dem Betriebsrat bisher regelmäßig fast ausschließlich in Richtung 33 Stunden plus Mehrarbeit umgesetzt wurde. Jetzt, wo es darauf ankäme, durch differenzierte Arbeitszeitverkürzung in Richtung 25-Stunden-Woche diesen Vertrag mit Leben zu erfüllen, wird er vom Unternehmen aufgekündigt. Das Ziel ist wohl die Angleichung zwischen Haustarif I und Haustarif II in Richtung der 35-Stunden-Woche als Regelarbeitszeit ohne Lohnausgleich. Praktisch bedeutet das, dass die Arbeiter:innen fast zwei Jahrzehnte lang wöchentlich vier Stunden gratis für das Unternehmen geschuftet haben. Künftig sollen es sechs Stunden werden, die vom Unternehmen nicht vergütet werden. Konservativ gerechnet eine Vorleistung von rund zehn Milliarden Euro aus den zurückliegenden Jahren.
Zur Vorgeschichte gehört auch ein „Zukunftspakt“ mit nicht eingehaltenen Zusagen für die Auslastung der Fabriken – nicht nur wegen schlechter Absatzlage, sondern weil Produktion wie die des Transporters und des Passats sowie administrative Arbeit wie Controlling in die Türkei, in die Slowakei und nach Polen oder Indien verlagert wurden. Und wenn die Absatzlage schlecht ist (was mit der völlig verfehlten Modellpolitik zu tun hat), ist vom Management des sozialpartnerschaftlichen Musterbetriebs zu erwarten, dass sie sich zumindest um eine teilweise Neuausrichtung des Unternehmens kümmern. Aber wir erleben gerade, dass in diesem System absolut nichts sicher ist, was sicher schien.
Charakter der Krise: Unterauslastung installierter Kapazitäten.
Der Absatzrückgang bei VW (minus zwei Millionen Fahrzeuge pro Jahr) resultiert aus gesättigten Märkten und einer Produktstrategie mit Orientierung auf große und teure Autos – die Profitrate ist dabei höher. So ist zu erklären, dass der Gewinn stieg, obwohl der Absatz an Fahrzeugen sank. Die Überkapazitäten will der Konzern jetzt loswerden. Kritiker:innen monieren schon lange, dass Volkswagen keine kleinen und preiswerten Fahrzeuge im Programm hat und die Mobilitätswende nicht angeht. Volkswagen hat in den zurückliegenden Jahren staatliche Subventionen in Milliardenhöhe erhalten, ohne dass der öffentliche Einfluss auf das Unternehmen stieg, ohne dass das am Unternehmen beteiligte Land Niedersachsen Einfluss auf die Strategie genommen hätte.
Alle Konzerne haben gleich gehandelt: Es mag sein, dass es zu viele Autos gibt, sicher aber zu wenige VW – oder, je nach Herkunft, zu wenige BMW oder Mercedes. Der Zwang zum Wachsen und die mörderische Konkurrenz fordern jetzt ihre Opfer. Opel hat große Teile der Segel gestrichen und ist bei Stellantis untergeschlüpft, Ford schließt das Werk in Saarlouis. 75.000 Arbeitsplätze wurden in den zurückliegenden sechs Jahren in der Automobil- und Zulieferindustrie verlagert oder gestrichen – darunter zehntausende vor allem von Leiharbeiter:innen auch bei Volkswagen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Betonung der Beschäftigungssicherung für „Stammarbeiter“ von Daniela Cavallo. Sie erklärt ebenso die Bereitschaft, die aktuellen Stückzahlen zum Ausgangspunkt für die weitere Werksplanung zu machen: In Wolfsburg 500.000 statt 800.000 Autos, in Zwickau 120.000 statt 360.000 Autos und in Emden 160.000 statt 320.000 Autos. Das ist das länger prognostizierte Szenarium: Die Kapazitäten im Inland werden mit Zustimmung des Betriebsrates abgebaut – statt sie für andere, nützliche und notwendige Produkte zu verwenden. Trotz der aufgekündigten Sozialpartnerschaft sagt Cavallo auch: „Das Unternehmen ist mehr als eine Autofabrik – es ist eine Familie, die für Stolz, Aufstieg und Integration steht.“ Aber sie wollen Werke schließen und Massen von Arbeiter:innen und Ingenieur:innen entlassen – statt etwas zu unternehmen, um eine Produktion jenseits des Autos zu etablieren. Trotzig reklamiert Cavallo mehr Mitbestimmung und Beteiligung auch wegen der Geschichte von Volkswagen: „Volkswagen gehört nicht allein den Aktionärinnen und Aktionären! Volkswagen gehört auch uns. Der Belegschaft.“ Sie erinnerte an die Wurzeln des Konzerns. VW ist von den Nazis in den 1930er Jahren als Teil der Volksgemeinschaftsideologie mit 130 Millionen Reichsmark aufgebaut worden, die direkt aus dem geraubten Vermögen der Gewerkschaften stammten. Im Nachkriegsdeutschland klagte der Deutsche Gewerkschaftsbund nur deshalb nicht auf seine Eigentumsrechte an VW, weil die Rolle der Mitbestimmung bei dem Autobauer in starkem Maße abgesichert wurde. Auch beim Börsengang von VW im Jahr 1960 hatte diese historische Wurzel Bestand, es entstand das VW-Gesetz.
Erstmals seit mehr als 30 Jahren werden durch Androhung von Lohnkürzungen, Massenentlassungen und Werksschließungen wieder Abstiegs- und Existenzängste unter den Arbeiter:innen verbreitet. Die Spaltung der Belegschaften innerhalb der Werke und zwischen den Werken ist im Vorgehen des Managements angelegt und wohl beabsichtigt. Mit Empörung reagieren die gemeinten Arbeiter:innen, die Autos entwickeln, zusammenschrauben und den Vertrieb gewährleisten, auf diesen Tabubruch bei Betriebsversammlungen und rufen in Richtung des Managements: „Wir sind Volkswagen – ihr seid es nicht!“
Volkswagen ist kein Sanierungsfall
Die Arbeiterin arbeitet, der Chef scheffelt – frei nach Dietrich Kittner…
Die Personalkosten sind nicht der Grund für die Probleme des Unternehmens, konstatiert die IG Metall. Deshalb jedenfalls hat das Management keinen Grund, die Löhne zu senken. Die IG Metall hat aber allen Grund, die Einkommen und sozialen Rechte der Arbeiter:innen zu verteidigen! In den ersten drei Quartalen 2024 wurde ein Profit nach Steuern von neun Milliarden Euro erzielt. Die Krise wird herbeigeredet, um Ängste zu schüren und Sozialabbau durchzusetzen. Unbegreiflich, dass die IG Metall dennoch erklärt: „Wir sind bereit, einen Beitrag zu leisten.“ Was sollte es für einen Grund geben, „einen Beitrag zu leisten“, 1,5 Milliarden Euro von den Beschäftigten abzuzwacken, wenn die Personalkosten gar nicht das Problem sind? Mit Maßnahmen, die nicht zum Problem passen, kann das Problem logisch nicht angegangen werden. Es gehe um „frühzeitige Produktzusagen“, so IG Metall und Betriebsrat, als habe der Vorstand nicht gerade alle Produktzusagen aus dem Zukunftspakt in die Tonne getreten.
Die Not bei VW ist nicht wirklich groß, es geht nur darum, den künftigen Profit zu sichern: 6,5 Prozent Rendite statt 3,5 Prozent in der Marke Volkswagen – also ohne Audi, Porsche, VW-Bank und den ganzen Rest. Bei Volkswagen ist weder die Produktion „zu teuer“, noch werden „Verluste gemacht“ (das stimmte schon vor 30 Jahren nicht), sondern im kapitalistischen System stimmen die Profiterwartungen einfach nicht. 147 Milliarden Euro Gewinnrücklagen und mehr als 18 Milliarden Euro Nettogewinn 2023 sind in der Bilanz des Konzerns. Davon ausgeschüttet wurden 4,5 Milliarden 2024, gut zwei Milliarden Euro direkt an den Porsche-Piëch-Clan. Unabhängig von den Verhandlungen in Deutschland werden Fabriken in Belgien und China schon geschlossen. Über die Fabrik in Osnabrück wird munter spekuliert, aus der „gläsernen Manufaktur“ in Dresden könnte bald ein Showroom und eine Party-Location werden und der stark defizitäre Fahrservice MOIA in Hannover und Hamburg könnte beendet werden.
Nun fordert die IG Metall, dass nach den Arbeiter:innen auch der Vorstand auf Gehalt verzichten solle. Ich finde: das ist falscher, schlechter Populismus. VW ist kein Sanierungsfall und die Arbeiter:innen müssen auf gar nichts verzichten. Wenn Vorstandschef Oliver Blume auf die Hälfte seiner Bezüge verzichten würde, hätte er immer noch 20.000 Euro – am Tag! Wenn der Ex-Generalsekretär des Konzernbetriebsrates und Personalvorstand Gunnar Kilian auf die Hälfte seiner Vergütung verzichten würde, hätte er immer noch 10.000 Euro – am Tag. Und das alles noch im Konjunktiv. Natürlich müssen Vorstandsgehälter begrenzt, vor allem aber müssen Gewinne der Großaktionäre, in diesem Fall des Porsche-Piëch-Clan, stärker besteuert werden.
Die Friedenspflicht für die Entgeltforderung der IG Metall endete am 30. November 2024. Ab Anfang Dezember, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe des express, hat die Gewerkschaft Warnstreiks angekündigt. Für den vom Unternehmen gekündigten Zukunftstarifvertrag endet die Friedenspflicht am 31. Dezember. Dann droht laut IG Metall eine massive Eskalation! Der VW-Vorstand ist so frech und beinhart, weil die Manager die Kampffähigkeit der IG Metall in Frage stellen. Die durch Krisengeschrei, die Verlagerung von Produktion in sogenannte Low-Cost-Länder und durch die verweigerte sozial-ökologische Transformation verbreitete Angst soll die Hoffnungen der Arbeiter:innen dämpfen und die Gewerkschaft mürbe machen. Dass das brandgefährlich und Wasser auf die Mühlen der Rechten ist, wie die Wahlen in den USA und jüngst auch in der österreichischen Steiermark zeigen, nehmen die Kapitalvertreter mindestens billigend in Kauf.
Mitbestimmung über die Produktion, Umbau statt Abbau
Bei der Ausgangslage, bei den Zugeständnissen, die die Gewerkschaft offensichtlich machen will, wird es eher früher als später Ergebnisse in den Verhandlungen geben. Auch deshalb, weil ansonsten die Tarifverträge von 1994 als sog. Schattentarifverträge wieder in Kraft treten – einschließlich der starren 35-Stunden-Woche und Leistungen wie Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, bezahlten Pausen und Schichtzuschläge. In der Krise vor 30 Jahren wurde die Arbeitszeit verkürzt, um Entlassungen zu vermeiden. Im Jahr 2006 wurde die vorher vereinbarte 28,8-Stunden-Woche zugunsten eines Arbeitszeitkorridors von 25 bis 33 Stunden ohne Lohnausgleich aufgegeben. Tatsächlich lag die Arbeitszeit aber immer bei 33 und mehr Stunden auf Basis der Bezahlung von 28,8 Stunden. Möglich wäre es längst und jetzt wieder, den Arbeitszeitfixpunkt auf die 25 Stunden oder die Drei-Tage-Woche zu legen und das mit der Unterbezahlung in den zurückliegenden 20 Jahren zu verrechnen. Das wäre jetzt eine Option, wenngleich die technischen Kapazitäten weiterhin unausgelastet blieben. Um die Krise längerfristig zu überwinden, wollen IG Metall und Betriebsrat mehr Mitbestimmung über wirtschaftliche Angelegenheiten und über die Produktion. Carsten Büchling vom Betriebsrat bei VW in Kassel sagt: „Unser Ziel muss sein, dass die Beschäftigten über die Produktion entscheiden. Die Beschäftigten müssen zu Miteigentümern der Betriebe werden.“ Mehr wirtschaftliche Mitbestimmung wäre tatsächlich der Schlüssel für eine andere Produktion, anknüpfend an die Herstellung von Blockheizkraftwerken im Motorenwerk in Salzgitter. Nur lässt sich damit nicht so hoher Profit erwirtschaften, wie die Eigentümer es verlangen. Was also tun?
Bevor Kapazitäten tatsächlich vernichtet werden, ist deren sinnvolle Umnutzung zu prüfen. Im VW-Werk in Osnabrück zum Beispiel wurden die Autos für den Fahrservice von MOIA produziert. Die Fahrzeuge waren etwas zu luxuriös und deshalb auch zu teuer – vom Ansatz her aber genau das, was vor allem in ländlichen Regionen erforderlich ist, um einen smarten öffentlichen Personenverkehr zu realisieren. Dafür gibt es in Deutschland und weit darüber hinaus einen großen Bedarf. Wenn die Besteller von öffentlichem Verkehr, die Kommunen und die Länder, ohne die Schuldenbremse in die Lage versetzt werden, den ÖPNV als Teil der Daseinsvorsorge bedarfsgerecht zu finanzieren, dann gibt es auch Abnehmer für solche, für Ridepooling geeigneten Fahrzeuge. Das Land Niedersachsen steht hier als großer Anteilseigner an Volkswagen in der Verantwortung. Nicht weiter die Autoindustrie pampern (auch nicht durch Lohnverzicht), stattdessen kräftig in den ÖPNV investieren und die Kapazitäten für den Schienenfahrzeug- und Busbau aufbauen. Und wenn der Porsche-Piëch-Clan das wegen zu geringer Profite nicht will, könnte eine gemeinnützige GmbH oder eine Genossenschaft gegründet werden, die demokratisch organisiert ist und diese Produktion aufnimmt. Die Arbeiter:innen in dem Osnabrücker Werk haben ebenso wie die Ingenieur:innen jahrzehntelange Erfahrung im Fahrzeugbau – diese Qualifikationen könnten genutzt werden, niemand würde ins Elend gestoßen, die Kommunen würden nicht verarmen. Der Hebel dafür sind das VW-Gesetz und die Satzung der VW AG, wonach Verlegung und Aufhebung von Zweigniederlassungen der Zustimmung des Aufsichtsrates bedürfen.
Veröffentlicht in express 12/2024:
Der Text wurde vor dem Start der Warnstreiks Anfang Dezember und vor dem vierten Verhandlungstermin am 9. Dezember geschrieben.