Die Krise der Auto- und Zulieferindustrie ist unübersehbar. Ein um zwei Millionen Fahrzeuge reduzierter Absatz pro Jahr in Europa seit sechs Jahren, Verkaufseinbrüche in China und anderen Teilen der Welt für drei Konzerne aus Deutschland und zwei aus Frankreich: Volkswagen, Mercedes, BMW, PSA und Stellantis. Der Absatz von Elektro-Autos ist eingebrochen und chinesische Hersteller beginnen mit dem Export nach Europa. Betriebsverlagerungen, Werksschließungen und Massenentlassungen gehören wieder zur Vorzeigeindustrie, zum Motor der europäischen Wirtschaft.
Die Anzahl der Beschäftigten in der Auto- und Zulieferindustrie sank in Deutschland in den letzten fünf Jahren um mehr als 60.000. Ford schließt die Fabrik in Saarlouis, VW die Fabrik in Brüssel, Stellantis die Fabriken in Bielsko-Biała und Turin. Die Inlandsproduktion sank von 5,7 Mio. PKW im Jahr 2016 auf 4,1 Mio. im Jahr 2023. Im scheinbaren Widerspruch zu diesen Überkapazitäten stiegen die Profite auf 60 Milliarden Euro bei den big three in Deutschland, die Gewinnrücklagen auf sagenhafte 250 Milliarden Euro. Luxusautos und hoch motorisierte SUV bringen weniger Absatz als kleine, smarte Fahrzeuge, aber mehr Profit. Für einen Massenhersteller wie Volkswagen und seine Töchter Audi, Skoda und Seat wird das zu einem Problem. Unterausgelastete Fabriken in Emden, Zwickau, Wolfsburg, Hannover, Salzgitter, Chemnitz, Osnabrück und Dresden drücken auf die Marge: Statt der geplanten Umsatzrendite von 6,5 Prozent wurde nur eine Rendite von 3,5 Prozent realisiert.
Vor Beginn der Tarifverhandlungen kündigte der VW-Vorstand im September 2024 den Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung, um mit Massenentlassungen und Werksschließungen auf die Überproduktionskrise reagieren zu können. Bei dieser Drohkulisse geht es nicht darum, Verluste zu vermeiden, sondern höhere Gewinne zu realisieren. Falls jemand über die Not in den Werken von Volkswagen diskutieren will: 147 Milliarden Euro Gewinnrücklagen und mehr als 16 Milliarden Euro Nettogewinn 2023 in der Bilanz des Konzerns. Davon ausgeschüttet wurden 4,5 Milliarden 2024, fast zur Hälfte direkt an den Porsche-Piëch-Clan. Die Ankündigung von Massenentlassungen und Werksschließungen ist eine Suspendierung der bisher geübten Sozialpartnerschaft. Es geht möglicherweise um eine Umgruppierung des Kapitals. Mit Rüstung und Krieg kann offenbar mehr Geld verdient werden als mit Autos – es sei denn, dem Kapital wird gemeinsam deutlich und laut widersprochen.
Spalten, herrschen, Kosten senken. Der VW-Finanzvorstand bringt keinerlei Belege, wenn er bei der Betriebsversammlung im September behauptet, für die Marke VW würde »seit geraumer Zeit« mehr Geld ausgegeben als eingenommen. Das Unternehmen hat folgende Tarifverträge gekündigt oder deren Kündigung avisiert:
* Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung: soll gekündigt werden. Damit sollen Massenentlassungen und Werksschließungen ermöglicht werden. VW-Markenchef Schäfer sagt, die Reduzierung der Personalkosten um 20 Prozent reichten nicht, auch nicht Abfindungen oder Altersteilzeit.
* Tarifvertrag zur Übernahme von Auszubildenden nach erfolgreicher Ausbildung.
* Tarifvertrag zur Leiharbeit, der eine etwas bessere Entlohnung von Leiharbeiter_innen regelt.
* Vereinbarung zur Mitbestimmung des Betriebsrats bei übertariflichen Regelungen: soll abgeschafft werden.
Alte gegen Junge, Büro gegen Fließband, Emden gegen Zwickau – das ist das Kalkül des Managements. Konzernboss Blume versucht es sentimental: »Wir führen VW wieder dorthin, wo die Marke hingehört – das ist die Verantwortung von uns allen. Ich komme aus der Region, arbeite seit 30 Jahren im Konzern. Ihr könnt auf mich zählen und ich zähle auf Euch – Wir sind Volkswagen«. Aber Tausende in der Halle skandieren selbstbewusst: »Wir sind Volkswagen – aber ihr seid es nicht!«
IG Metall Bezirksleiter Thorsten Gröger sagt: »VW bleibt auf seinem Irrweg und will mit dem Mähdrescher durch die Werke brettern. Das werden wir nicht dulden! Wenn Milliarden fehlen, wäre es doch nur vernünftig: Aktionäre und Vorstand in die Verantwortung nehmen, statt die Axt bei der Belegschaft anzulegen.« Die Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats, Daniela Cavallo, meldete Widerstand und Eigentumsansprüche am Konzern durch die Belegschaft an: »Volkswagen gehört nicht allein den Aktionärinnen und Aktionären! Volkswagen gehört auch der Belegschaft.« Sie erinnert an die historischen Wurzeln. VW war im NS-System der 1930er Jahre mit 130 Millionen Reichsmark aus dem geraubten Vermögen der Gewerkschaften gebaut worden. Nach 1945 klagten die Gewerkschaften nicht auf ihre Eigentumsrechte, weil die erweiterte Mitbestimmung bei der Teilprivatisierung im Jahr 1960 mit dem VW-Gesetz abgesichert wurde. Cavallo betont: »130 Millionen Reichsmark entsprechen einer heutigen Kaufkraft von knapp 700 Millionen Euro. Mit einer durchschnittlichen Verzinsung hätte sich aus diesem Kapital, das die Nazis der Arbeiterbewegung geraubt hatten, über die Jahrzehnte ein Milliardenbetrag ergeben. Dieses Geld, unser Geld, steckt heute im VW-Konzern. Und deswegen ist klar: Bei Volkswagen wird niemals der Turbo-Kapitalismus Einzug halten. Sondern bei Volkswagen haben die abhängig Beschäftigten, ihre Familien und Standortregionen immer ein starkes Gewicht.« Aus dieser Geschichte leitet sich der Anspruch auf wirtschaftliche Mitbestimmung und die globalen sozialen Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter ab.
Bei der Betriebsversammlung im Wolfsburger Werk am 4. September sagte der Finanzchef von VW: »Es fehlen uns die Verkäufe von rund 500.000 Autos, die Verkäufe für rund zwei Werke. Der Markt ist schlicht nicht mehr da.« Bisher wurden die Überkapazitäten immer beim jeweils anderen Hersteller verortet, erstmals werden jetzt innerhalb des Konzerns Überkapazitäten eingestanden. Natürlich müssen diese Überkapazitäten abgebaut werden – am besten durch den Aufbau von Produktion für nachhaltige öffentliche Mobilität und durch rasche und große Schritte zur Arbeitszeitverkürzung hin zur 4-Tage-Woche bzw. 28-Stunden-Woche. Das gehört, wie die Vier-Tage-Woche in der Krise ab 1994, selbstverständlich zu den ersten Maßnahmen zum Abbau von Überkapazitäten.
Massenentlassungen und Werksschließungen? Arbeitszeitverkürzung! Die Ankündigung von Massenentlassungen und Werksschließungen hat zu einem vieltausendfachen Aufschrei in allen Standorten geführt. Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen im September an den Betriebsversammlungen teil. Flavio Benites von der Wolfsburger IG Metall sagt: »Der Vorstand von Volkswagen hat die Axt an die Wurzeln von Volkswagen gelegt. Damit werden sie nicht durchkommen. Die IG Metall steht mit zehntausenden Mitgliedern bereit, unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen.« Eine Kollegin aus Emden erzählt von der Betriebsversammlung: »Der Manni (Manfred Wulff, Betriebsrats- vorsitzender) versprüht die Hoffnung, dass es mit der Stückzahl bald wieder hoch gehen wird. Keine Ahnung, wo dieser Optimismus herkommt.«
Eine Kollegin aus Zwickau berichtet: »Markenchef Schäfer ist mit Trillerpfeifen und Buhrufen empfangen worden. Die Stimmung zur Betriebsversammlung war kochend. Es gibt Vermutungen, dass VW das gemacht hat, um mehr Subventionen zu kassieren.«
Der Kasseler Betriebsratsvorsitzende Carsten Büchling im Interview mit der »Frankfurter Rundschau«: »Dass jetzt betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen im Raum stehen, ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Wenn wir mehr Einfluss hätten auf strategische Entscheidungen, könnten solche Zuspitzungen vermieden werden. Unser Ziel muss sein, dass die Beschäftigten über die Produktion entscheiden. Die Beschäftigten müssen zu Miteigentümern der Betriebe werden.« Die IG Metall-Vorsitzende Christiane Benner hat die Vier- Tage-Woche im Blick und bezeichnet Arbeitszeitverkürzung als Option: »Wir sollten nichts ungenutzt lassen an Ideen, wie wir Beschäftigung und Standorte sichern können.«
Tarifverträge sind, mehr noch als Gesetze, Ausdruck des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Deshalb bedarf es des überbetrieblichen gewerkschaftlichen Widerstands gegen Hochrüstung und Sozialabbau, deshalb bedarf es des gemeinsamen Kampfes von Gewerkschaften, Klimagerechtigkeitsbewegung und Verkehrsinitiativen um Beteiligung und Mitbestimmung über strategische Unternehmensentscheidungen und die Konversion der Autoindustrie.
24.11.2024, Vorabveröffentliuchung aus Zeitschrift marxistische Erneuerung – Z 140, Dezember 2024; https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/de/article/4384.autoindustrie-abstiegs%C3%A4ngte-und-abwehrk%C3%A4mpfe.html
Foto: IG Metall/Heiko Stumpe