Wann ist der Tiefpunkt der Krise erreicht, wer bleibt übrig in der mörderischen Konkurrenz und wie geht es danach weiter? Die Krise der Auto- und Zulieferindustrie ist unübersehbar:
Zulassungen von neuen Autos in Deutschland:
2018: 3,4 Mio. davon 2,1 Mio aus Inlandsproduktion; 2019: 3,6 Mio., davon 2,2 Mio aus Inlandsproduktion; 2020: 2,9 Mio, davon 1,7 Mio aus Inlandsproduktion; 2021: 2,5 Mio. davon ca. 1 Mio. aus Inlandsproduktion (2021 hochgerechnet)
Die Produktion von PKW in Deutschland sank von 5,7 Millionen 2017 kontinuierlich auf voraussichtlich 2,5 Millionen inklusive Export im Jahr 2021: Ein Rückgang von fast 60 Prozent. Der Anteil an privaten Haltern beträgt 34,5 %, der Anteil an gewerblichen Haltern beträgt 65,5 % Auch die Auslandsproduktion deutscher Hersteller sank um 15 Prozent in den letzten drei Jahren, die Weltautomobilproduktion um fast 20 Prozent.
Man könnte sagen „super, genau das, was wir wollen – weniger Autos“. Aber ohne Mobilitätsalternativen, ohne verdichteten öffentlichen Verkehr und ohne soziale Perspektive für die Beschäftigten wird kein Problem wirklich gelöst, sondern es werden neue, gravierende Probleme geschaffen.
Déjà-vu: Alle paar Jahre eine Radikalkur
In der Krise Anfang der 90er Jahre – wir erinnern uns der MIT-Studie, der „Zweiten Revolution in der Autoindustrie“ und der „gelben Gefahr“ aus Japan – waren 30.000 Arbeitsplätze bei VW bedroht, die Arbeitszeit wurde weitgehend ohne Lohnausgleich auf 28,8 Stunden reduziert und die Arbeitsproduktivität bzw. der Druck und der Stress innerhalb kürzester Zeit um 20 Prozent gesteigert. Die Braunschweiger Zeitung schrieb seinerzeit (10.6.1994): „Der Personalüberhang aufgrund der schwachen Konjunktur und dringend erforderlicher Produktivitätsverbesserung liege bei 30.000 bis Ende 1995. Ziel müsse es also sein, die Produktivität mindestens um diese 20 Prozent möglichst schnell zu steigern.“ Walter Hiller hatte den Betriebsratsvorsitz gerade an Klaus Volkert abgetreten.
Ein paar Jahre später, im Sommer 2005, schreibt Michael Schumann in einem Kommentar der Frankfurter Rundschau, nachdem die Arbeitszeit ohne Aufstockung der Entgelte wieder verlängert worden und Klaus Volkert als Betriebsratsvorsitzender zurückgetreten war u.a.: „In der Tat – der VW-Konzern ist in keiner beneidenswerten Situation. Da markiert Wolfgang Bernhard, neuer Markenchef bei Volkswagen, auf der Betriebsversammlung die Unternehmenslage als „am Scheideweg“. Mit durchaus überzeugenden Daten. Nur ein strikter Kurs des Kosten-Sparens könne vor dem Niedergang helfen. Schweiß ist also angesagt, um Tränen zu verhindern.“ Von Wolfgang Bernhard ist seither nichts mehr zu hören.
Die Krise 2009 wurde mit Kurzarbeit und weiteren Subventionen für den Autoabsatz abgefedert. Der gigantische Abgasbetrug aus der ersten Hälfte der 2010er Jahre minderte die Profite sowie die Steuerzahlungen des Unternehmens und erhöhte den Druck auf die Beschäftigten.
Wieder ein paar Jahre später: VW will sein Stammwerk in Wolfsburg radikal umbauen, „um gegen Tesla und die Konkurrenz aus China zu bestehen.“ Im Vergleich zu Tesla und chinesischen Herstellern sei VW zu teuer und langsam, betont VW-Boss Herbert Diess. Nun gehe es darum, den „Kampf gegen Grünheide“ aufzunehmen. Bleibe alles beim Alten, so Diess, sei VW nicht mehr wettbewerbsfähig. Ein schlechter Aufguss der Krisenkonstruktion der letzten Jahre unter sich ähnelnden Bedingungen. Bernd Osterloh wechselte zum Personalvorstand der LKW-Sparte Traton. Die neue Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo konstatiert eine besorgniserregende Situation: Dieses Jahr droht in Wolfsburg ein zweites Produktionstief nach 2020 und, geradezu dramatisch, ein Ende ist nicht absehbar. Eine Kurzarbeitsphase folgt der nächsten. Es nervt nicht nur, es macht vielen Beschäftigten inzwischen Angst, existenzielle Zukunftsangst. Diese Erfahrung von andauernder Kurzarbeit gab es nie zuvor, sie ist nicht unendlich ausdehnbar und kostet die Arbeitslosenversicherung viele Milliarden Euro.
„Lebenswillen“ des einen, Todesstoß für den anderen
Überkapazitäten auf dem Markt werden vernichtet. Opel stirbt, das Werk Eisenach als nächstes. Zunächst kassiert der Mutterkonzern Stellantis (PSA / Fiat / Opel) aber noch ein paar Millionen Euro Kurzarbeitergeld aus der Arbeitslosenversicherung. Und mit Milliarden Subventionen dieses Staates wird die Fabrik des reichsten Mannes der Welt, Tesla in Grünheide, aufgebaut. So werden Regionen und Menschen aufeinander und in die Konkurrenz zueinander gehetzt. Im Ergebnis erfahren Nationalismus und Rassismus einen fürchterlichen Aufschwung. Das Exempel Opel ist ein Trauerspiel, dass sich die Belegschaften der anderen Autofabriken mit großer Angst anschauen. Der VW-Boss hat schon drastische Sparmaßnahmen, Produktivitätssteigerungen und Personalabbau angekündigt. Er nutzt die Gelegenheit und polemisiert: „Wir müssen Wolfsburg endlich zukunftsfähig machen“, arbeitet gezielt an Betriebsrat und Gewerkschaft vorbei ungeachtet der Tatsache, dass vergangene Rationalisierungen und der Umstieg auf den Elektroantrieb bereits zu erheblichen Produktivitätssprüngen, zu exorbitanten Profiten einerseits und zu Personalüberhängen andererseits geführt haben. Diess fordert Geschlossenheit bei der bevorstehenden Herausforderung. „Wir brauchen Lebenswillen und einen Ruck am Standort“, sagt er. Was er damit meint? Einen radikalen Umbau des Stammwerks in Wolfsburg, eine Operation am offenen Herzen von Volkswagen. Wenngleich noch kein einziges Auto in Grünheide gebaut wurde, verbreiten die VW-Manager die Mär von der um ein vielfaches höheren Produktivität: Es würde ein Tesla 3 in zehn Stunden gebaut, während für einen VW ID.3 in Zwickau mehr als 30 Stunden aufgewandt würden. Diess: „Es geht am Ende auch um Arbeitsplätze, die wir hier haben. Über die Arbeitsplätze entscheiden nicht der Herr Diess oder der Aufsichtsrat oder die Belegschaftsvertreter. Darüber entscheidet der Kunde und der Kunde kauft das Produkt, das mehr Qualität, mehr Features für einen besseren Preis bietet. Deshalb müssen wir den Kampf aufnehmen, angreifen und uns unseren Standort nicht von Grünheide kaputt machen lassen.“ Nach dem Abgang von Bernd Osterloh als Betriebsratsvorsitzendem, mit dem sich Diess laute Kämpfe geliefert hat, scheint sich auch der Kurs verändert zu haben. (Business Insider, 5.10.21). Dass die Radikalisierung der Konkurrenz zu Tesla die Situation für die Beschäftigten erheblich verschlechtern wird, war absehbar. Dafür haben Musk/Tesla in Grünheide mehr als eine Milliarde Euro Subventionen bekommen, Herbert Diess und Elon Musk verstehen sich prächtig. Innerhalb der Konzerne und konzernübergreifend kommt es zu verschärfter Konkurrenz und zu einer Art von Kannibalismus oder Standortkonkurrenz, werden die Beschäftigten, die Arbeits- Lohn- und Leistungsbedingungen gegeneinander in Stellung gebracht. Dieses ist auch politisch äußerst gefährlich ist, wie an der gesellschaftlichen Rechtsentwicklung und den Wahlergebnissen in Zentren der Automobilindustrie deutlich wird. In Eisenach hat die AfD nochmals um vier Punkte zugelegt und über 20 Prozent der Stimmen eingefahren, in Wolfsburg und Rüsselsheim holt die AfD jeweils fast 10 Prozent, in Kaiserslautern mehr als 12 Prozent, in Zwickau hat ein AfD-Mann mit fast 26 Prozent das Direktmandat geholt, in Dresden bleibt die AfD nur knapp unter 20 Prozent.
„Die schwierige Lage im Werk Wolfsburg bildet einen klaren Schwerpunkt der laufenden Beratungen für die diesjährige Planungsrunde“, sagte Daniela Cavallo Anfang Oktober. Der Vorstand hat mit dem Ende 2016 beschlossenen Zukunftspakt für das Jahr 2020 eine Auslastung von mindestens 820.000 Fahrzeugen im Stammwerk garantiert. Mitte 2018 war sogar das Ziel von einer Million Fahrzeuge in Aussicht gestellt worden. Dafür gab es die Zusage von 60.000 Arbeitsplätzen am Standort, tatsächlich ist die aktive Belegschaft auf weniger als 57.000 geschrumpft. Ungeachtet von Corona und dem selbst verschuldeten Halbleitermangel ist das Werk von diesen zugesagten Kapazitäten sehr weit entfernt. Der Fabrik droht aktuell im zweiten Jahr in Folge ein seit der Nachkriegszeit historisches Produktionstief. Vergangenes Jahr kam die Fabrik nur auf knapp eine halbe Million Fahrzeuge. Dieses Jahr, ebenfalls geprägt von massiver Kurzarbeit, dürften es sogar noch einmal weniger werden (igm-bei-vw.de).
Eine Wolfsburger Zeitung schreibt: „Seit Monaten schon gibt es kaum eine Woche, in der mehr als die Frühschicht an den Linien zum Einsatz kommen kann. Eine verlässliche Produktionsplanung? Daran ist nicht zu denken. Besonders bei der betroffenen Belegschaft wächst die Sorge darum, wie es weitergeht“. Der Vorsitzende der gewerkschaftlichen Vertrauensleute im Werk, Florian Hirsch, sagt: „Die Frage, wie lang VW das noch auf diese Weise durchhalten kann, wird immer präsenter. Bei mehr und mehr Kolleginnen und Kollegen wächst das Bewusstsein, dass Kurzarbeit nun einmal kein Dauerzustand werden kann.“ Sich zum aktuell relevantesten aller Themen mehr zu erklären – das könne gerne auch zur Chefsache werden. Stattdessen poste der Vorstandsvorsitzende Videos und Fotos von Testfahrten oder vom Bergsteigen. „Das stößt einigen schon sauer auf und wird in der Belegschaft durchaus kontrovers diskutiert. Da wird auf heile Welt gemacht, und die Kolleginnen und Kollegen sitzen in Kurzarbeit zu Hause und machen sich Sorgen“, beschreibt der VK-Leiter die Gemütslage (WAZ, 1.10.2021).
Wir müssen besser planen!
Das KBA aus Flensburg vermeldet am 5. Oktober 2021: Im September 2021 wurden 196.972 Pkw neu zugelassen. Das sind -25,7 Prozent weniger als im September des Vorjahres. Bei den deutschen Marken erreichte Smart mit 23,0 Prozent das stärkste Zulassungsplus, gefolgt von Porsche mit einem Plus von +3,9 Prozent. Die weiteren deutschen Marken verbuchten gegenüber dem Vergleichsmonat Rückgänge, die bei Ford (-51,3 %), Mercedes (-49,8 %) und Mini (-45,0 %) am deutlichsten ausfielen. Audi (-38,9 %), VW (-23,3 %) und BMW (-18,7 %) verbuchten ebenfalls zweistellige Rückgänge. Die Subventionierung der E-Autos ist insoweit schädlich, als die Autounternehmen nicht gezwungen werden, wirkliche Innovation zur Erfüllung der Mobilitätsbedürfnisse in Stadt und Land anzugehen. Der Chipmangel ist wohl eine Ursache für diese Rückgänge, tatsächlich ist der weltweite Absatz und vor allem der regionale Absatz seit etwa vier Jahren rückläufig – unabhängig von Corona, Lieferengpässen und Logistikstörungen. Ursächlich dafür sind eine rückläufige kaufkräftige Nachfrage im Massenmarkt, nicht bei Luxuskarossen, sowie die Profitorientierung der deutschen Autokonzerne. Diese Strategie besteht darin, mit weniger Luxusautos höhere Profite zu realisieren als mit kleineren und weniger aufwändig gebauten Fahrzeugen. Daimler, Porsche, Audi und BMW sind ausschließlich auf Luxus programmiert und Volkswagen hat schon vor Jahren die Produktion des 3-Liter-Auto eingestellt und ist nicht willens, einen wirklich preiswerten Kleinwagen herzustellen. Schon gar nicht sind sie bereit und in der Lage, auf die erforderliche Verkehrswende zu reagieren – also die Produktion auf nachhaltig wirksame Mobilität umzustellen. Ich will noch gar nicht über den Bau von Zügen reden, was natürlich möglich und erforderlich ist. Viel kleiner: Ein Auto mit Elektromotor benötigt viel weniger mechanische Teile – die Bahnbetreiber hingegen wünschen sich automatische Kupplungen insbesondere für lange Güterzüge. Solche Kupplungen gibt es bisher nicht bzw. viel zu wenig Produktionskapazitäten dafür. Ein verantwortliches Management müsste jetzt also dazu übergehen, solche Innovationen zu fördern und Ausbildung wie Produktion in diese Richtung zu steuern. Für die Beschäftigten gibt es gleichermaßen Alternativen: Statt in der Logistik für einen Automobilhersteller prekär beschäftigt und jederzeit abrufbar zu sein, könnte auch ein Job als Lokführer bei einem Bahnbetrieb besetzt werden – die Züge würden dann vielleicht korrekter fahren, als das heute überwiegend der Fall ist.
Von der Microebene zur etwas größeren Ebene bedeutet das, zum Beispiel für die Region um Stuttgart oder Süd-Ost-Niedersachsen, die technischen und personellen Potenziale zu analysieren, in ein Verhältnis zu den Anforderungen der Verkehrswende zu setzen und dann den sozial-ökologischen Umbau der Produktion, der Region und schließlich des Verkehrs zu planen. Es könnten und sollten, wenn das Ziel klar ist, runde Tische eingerichtet werden mit allen, die mittelbar oder unmittelbar betroffen sind: Gewerkschaften, Unternehmen auch der Zulieferindustrie, kommunale Vertretungen, Wissenschaft, Umwelt-, Verkehrs- und Verbraucherinitiativen, Kinder-, Jugendlichen und Seniorenvertretungen. Und so kann dann der Umstieg konkret geplant und umgesetzt werden – das wäre der Weg aus der sozialen und ökologischen Krise.
Der Chef von Continental/Schaeffler, Nikolai Setzer, eines der größten Zulieferunternehmen, konstatiert einen Lerneffekt aus dem Chipmangel und aus den Protesten gegen angekündigten Personalabbau und Werksschließungen (dpa, 6.10.2021): „Wir müssen auf allen Ebenen anders zusammenarbeiten, wir müssen rechtzeitig wissen: Welche Technologien werden wie und wann benötigt? Wir müssen besser planen.“ Eigentlich könnte alles friedlich sein, wenn es nicht nur um Profit gehen würde, sondern um die Bedürfnisse der Menschen und eine gute Zukunft für alle.