Digitale Overtüre zum Umbau des Kapitalismus?
Als wäre der Absatzeinbruch durch sinkende Nachfrage und den partiellen Lockdown nicht groß genug, wird die Autoindustrie jetzt ausgebremst, weil keine Chips für elektronische Bauteile zur Verfügung stehen. Die Branche muss empfindliche und teure Störungen der Produktion hinnehmen. Offensichtlich funktioniert die alte Ordnung der Sicherung und Beschaffung von Rohstoffen nicht mehr.
Mit Blick auf kommende Engpässe wurde vor gut 10 Jahren, gleich nach dem Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Bundespräsidenten, unter Verantwortung des damaligen Wirtschaftsministers Rainer Brüderle die Deutsche Rohstoffagentur (DERA) gegründet: Sie ist „das rohstoffwirtschaftliche Kompetenzzentrum und die zentrale Informations- und Beratungsplattform zu mineralischen und Energierohstoffen für die deutsche Wirtschaft“ – so die Selbstbeschreibung auf der Homepage der DERA. Sie soll, möglichst lautlos, die Rohstoffverfügbarkeit für die deutsche Exportwirtschaft sicherstellen. Lieferrisiken sollen „durch nationale und internationale Kooperationen auf staatlicher und wirtschaftlicher Ebene, durch Netzwerke mit rohstoffreichen Ländern“ ausgeschlossen werden. In ihren Monitoring-Berichten, in denen sie sich immer auch auf militärische und geheimdienstliche Quellen stützt, zählte die DERA Silizium zu den Ressourcen mit „hohen potenziellen Beschaffungsrisiken“.
Im Frühjahr 2010, auf dem Rückflug von einem Truppenbesuch in Afghanistan, hatte Horst Köhler als Staatsoberhaupt ein Interview gegeben und darin gesagt, im Notfall sei auch „militärischer Einsatz notwendig (…), um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“. Dies hatte einen Sturm der Entrüstung ausgelöst: Ungeheuerlich, die Wahrheit zu sagen, denn Köhler hatte den Krieg und die Beteiligung der Bundeswehr in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Interessen gebracht. Der „Zeit“ sagte Köhler etwas später: „Die Angriffe auf mich im Zusammenhang mit meinen Äußerungen über sicherheitspolitische Interessen Deutschlands waren ungeheuerlich und durch nichts gerechtfertigt.“
Nun ist der Ernstfall eingetreten: Weder die Einkäufer der Autokonzerne und der großen Zulieferer noch die DERA sind in der Lage, die Auto- und Zulieferindustrie mit ausreichend Halbleitern (Chips) für integrierte Schaltkreise, für die laufende Digitalisierung von Produkt und Produktion zu versorgen. „Das Problem ist, dass wir in der Kette hinter Konzernen wie Apple oder HP kommen“, zitierte die „Financial Times“ einen Automanager: „Die Autobranche zahlt nicht so viel für ihre Halbleiter.“ Der britischen Wirtschaftszeitung zufolge befürchten Insider, dass ab Februar bestimmte Hersteller ihre Produktion um bis zu 20 Prozent herunterfahren müssen, wenn sich die Lage nicht bessert (Tagesschau, 8.1.2021). Tatsächlich ist diese Situation schon jetzt eingetreten. Vor wenigen Tagen hat Daimler für sein Werk in Rastatt Kurzarbeit anmeldete. Die Lieferschwierigkeiten führen auch bei anderen Unternehmen zu drastischen Maßnahmen. Audi hat für seine Werke Kurzarbeit angemeldet ebenso wie Volkswagen und selbst Porsche blieb nicht verschont. Die Autohersteller und großen Zulieferer haben Personalabbau und Werksschließungen angekündigt.
Es handelt sich wohl um Fehlplanung und Fehleinschätzung des Managements und der DERA einerseits, andererseits um eine willkommene Gelegenheit, die Schuld für den verpatzten Hochlauf der Elektroautos, für die verschlafene Mobilitätswende und die Absatzkrise auf externe Faktoren abzuwälzen. Jedenfalls ist es in den zurückliegenden Jahrzehnten noch nicht vorgekommen, dass die Produktions- und Absatzplanung der Autoindustrie durch mangelnde Rohstofflieferungen gebremst wurde. Die Ingenieure bauen immer mehr elektronische Systeme in die Fahrzeuge – vom Regensensor über Spurhalteassistenz und Alcohol interlock installation facilitation bis zum 10-fach verstellbaren Fahrersitz mit Memory-Funktion. Die Scheiben werden zu riesigen Displays. Diese Hochrüstung der Fahrzeuge treibt die Preise sowie den Einsatz von Elektromotoren und Steuergeräten, die sich oft gegenseitig beeinflussen, enorme Ressourcen verbrauchen und jedes Fahrzeug störanfällig und reparaturunfähig machen. Selbst kleinere Fahrzeuge wie der erste vollelektrische Wagen von VW werden zu rollenden Hochleistungscomputern, die massiv subventioniert werden müssen, um Käuferinnen und Käufer zu finden.
Lithium für die Batteriezellenfertigung ist der nächste kritische Rohstoff, für den sich einige Unternehmen Zugriff in Bolivien verschaffen wollten. Die Regierung von Präsident Evo Morales hat das Projekt nach Protesten der Bevölkerung jedoch gestoppt. Geplant war von 2022 an eine Förderung von 30.000 bis 40.000 Tonnen Lithium pro Jahr, um Hunderttausende E-Autos mit Lithium-Batterien auszustatten. Volkswagen teilt mit, es würden derzeit Fakten gesammelt, „um mit Unterstützung unabhängiger Experten einen eigenen Eindruck von der Wasserversorgung in der Atacama-Wüste in Chile zu gewinnen.“
Die Tatsache, dass die Autoindustrie bei den Chip-Herstellern in der Lieferkette hinter Konzernen wie Apple & Co. kommen, ist ein Indiz dafür, dass diese überalterte Branche an finanzieller und gesamtwirtschaftlicher Bedeutung verliert. Tesla gibt den Takt vor, die Zukunft ist digital und der Kapitalismus wird dahingehend umgebaut. Die steigenden Rohstoffpreise und die aufwändige Entwicklung neuer Antriebe drängen die Branche zu Fusionen und kleinere Player oft auch in Pleiten. Das trifft und die großen Autokonzerne ebenso wie die großen Zulieferer Bosch, Conti, Mahle und ZF – viele kleine Zulieferer können den Umstieg gar nicht schaffen. Mit dem Bedeutungsverlust geht vor unseren Augen eine „Marktbereinigung“ einher: PSA schluckt Opel, Volkswagen kooperiert mit Ford, Fiat-Chrysler fusioniert mit GM, Mahle kauft Behr, ZF übernimmt Wabco. Finanzschwache Unternehmen verschwinden vom Markt. Die Marktmacht der verbleibenden größeren Konzerne, bezogen auf die Nachfrage- und Angebotsseite, wird zeitweilig stärker – bis zur nächsten Krise, bis zu weiteren Brüchen und der Tendenz zur Monopolbildung.
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