Jahresrückblick heute: Herzstück der Industrie im Krisengriff. Zehntausende Jobs in Gefahr. Statt Mobilitätswende Prämien für Elektrofahrzeuge. Die Krise ist geprägt von konjunkturellen Einbrüchen, globaler Konkurrenz und neuem Protektionismus. Schwer wiegt vor allem die Debatte um Klimaveränderungen.
Die Automobilindustrie gilt als Herzstück der deutschen Wirtschaft. Und sie verschläft die Zukunft: falsche Produktpolitik, zu große und zu teure Autos treffen auf sinkende kaufkräftige Nachfrage und wachsende Konkurrenz. Die Digitalisierung vieler Herstellungsprozesse, der Antriebswechsel zum Elektromotor, hohe Investitionen und eine unsichere Zukunft markierten bereits 2019 die prekäre Lage der Branche. Doch mit der Coronapandemie und deren Auswirkungen entwickelt sich das zur größten Krise dieses Industriezweiges. Beschäftigte müssen um ihre Jobs fürchten. 600.000 Menschen in Kurzarbeit und mehr als eine halbe Million zusätzlicher Erwerbsloser sind Alarmzeichen.
Sichtbar wird das ebenso in den sinkenden Absatz- und Verkaufszahlen des Verbandes der Autoindustrie (VDA) und des Kraftfahrtbundesamtes (KBA). Kapitaleigner und Management haben zur »Aufholjagd« geblasen: Personalabbau, Betriebsschließungen, Übernahmen, Standortverlagerung und befristete Kooperationen. Die Branche und deren gutbezahlte Lobbyisten machen sich zudem lächerlich: »Deutschland ist Europameister bei Elektromobilität«, jubelte VDA-Chefin Hildegard Müller Mitte November in Berlin. Bei einem drastisch sinkenden Markt reichen offenbar ein paar mehr Zulassungen von E-Autos, um Freudensprünge zu machen. »Der sprunghafte Anstieg zeigt, dass die neuen Modelle begeistern«, so Müller, vormalige Staatsministerin im Kanzleramt. Begeistern dürften eher die satten Kaufprämien.
Jobabbau und Gipfelgedöns
Die Krise ist geprägt von konjunkturellen Einbrüchen, globaler Konkurrenz und neuem Protektionismus. Schwer wiegt vor allem die Debatte um Klimaveränderungen. Die Branche versucht wie im Rausch mit Elektroautos das alte Geschäftsmodell fortzuführen. Alle großen Mitspieler haben mit Personalabbau begonnen. Zehntausende Beschäftigte sind Opfer der Kostensenkung. Zudem drohen die Unternehmen mit Verlagerung der Produktion (Daimler), mit Vertragsbruch (Opel) oder mit Werksschließungen (Daimler, Bosch, Continental) und fordern eine Arbeitszeitverlängerung.
Der absehbaren sozialökonomischen Katastrophe setzt die Regierung kein gesellschaftliches Projekt der Mobilitätswende entgegen. Lieber lädt sie zu »Autogipfeln«. Mitte November rief Kanzlerin Angela Merkel zum vierten Treffen dieser Art in diesem Jahr. Virtuell trafen sich Minister, Regierungschefs der »Autoländer«, Cheflobbyistin Müller sowie die Vorstands- und Betriebsratschefs von BMW, Continental, Daimler, Ford, Mahle, Opel, Schaeffler, VW und ZF Friedrichshafen. Ebenfalls dabei der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, und der Vorsitzende der »Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität«, Henning Kagermann. Vorgebliches Ziel war es laut Mitteilung des Bundeskanzleramtes, »nachhaltige Strategien« zu diskutieren, »die der erfolgreichen Bewältigung der tiefgreifenden strukturellen Herausforderungen für den Automobilstandort Deutschland durch Digitalisierung, Klimawandel, Globalisierung und weitere Faktoren dienen«.
Ergebnis: Die IG Metall zeigte sich zufrieden. Wichtige Anliegen wie die Förderung regionaler Transformationsdialoge und regionaler »Qualifizierungscluster«, Investitionen »in nachhaltige Prozesse« (1,8 Milliarden Euro), Bildung eines »Zukunftsfonds Automobilindustrie« (eine Milliarde Euro), »Abwrackprämie« für Lkw (eine Milliarde Euro) sowie die »Innovationsprämie« für Elektro- und Hybridfahrzeuge seien aufgegriffen worden. Die Hersteller bekommen mehr Subventionen, eine Verlängerung der staatlichen Verkaufsprämien und den Ausbau der Ladeinfrastruktur – aber keine auf das Klima bezogenen Auflagen hinsichtlich Verbrauch, Gewicht, Motorstärke, Emission, Größe und Geschwindigkeit – vor allem aber werden keine sozial- und arbeitsrechtlichen Standards wie Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung festgeschrieben. Und die Subventionen sind eher Peanuts: Allein VW, BMW und Daimler haben in den zurückliegenden Jahren 200 Milliarden Euro Gewinnrücklagen gebildet.
Es gibt keine »Win-win-Situation« zwischen Industrie und Gewerkschaft. Die Ziele der Industrie, die Produktivität zu steigern und die Kosten zu senken, stehen der Gewerkschaftsforderung nach Arbeitsplatzsicherung direkt entgegen. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit wird weiter verschleiert. Statt dessen nennt die Bundesregierung ihr Verhalten eine »marktwirtschaftliche Flankierung« des Strukturwandels. Doch bereits jetzt können betriebsbedingte Entlassungen kaum verhindert werden – eine Entwicklung, die sich seit 2018 angekündigt hat.
Falsche Prioritäten
Für die Beteiligten am Gipfel lag der Schwerpunkt wieder bei Elektroautos. Und das, obwohl sie kaum einen Beitrag zur Mobilitätswende leisten, auch nicht zur Beschäftigungssicherung. Sie taugen für »die letzte Meile«, als Taxi oder Kommunalfahrzeuge, nicht aber als Ersatz für Millionen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Dennoch werden sie mit bis zu 9.000 Euro gefördert, 6.000 Euro kommen vom Staat. Diese Subventionierung wurde bis 2025 verlängert. Wenn das Tempo der Zulassungen für E-Autos nur etwas steigt und das Ziel von zwei Millionen erreicht wird, kostet dieses Geschenk an die Konzerne die Steuerzahler rund zehn Milliarden Euro.
Fakt ist, Autos werden noch gebraucht. Vor allem in ländlichen Regionen. Vielleicht in geringerer Anzahl, zweckmäßiger konstruiert, smart unterwegs und kaum noch als privates Eigentum. Dennoch: Aktuell benötigen viele Menschen den Pkw, um den täglichen Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder zu Arzt- und Behördenbesuchen zu bewältigen. Lange Arbeitswege für Schichtarbeiter im Gesundheitswesen oder in der Autofabrik sind mit Bus und Bahn nicht zu bewältigen. Und für zunehmend mehr Menschen ist ein Pkw unerschwinglich geworden. Wertverlust, Versicherung, Steuern, Treibstoff summieren sich.
Das alles sind nicht nur Probleme hierzulande, sondern es geht um eine globale Entwicklung. 2020 wird es einen Rückgang der weltweiten Produktion um gut zehn Millionen Pkw geben. Den Herstellungskapazitäten von 75 Millionen Pkw steht ein Absatz von etwa 55 Millionen gegenüber. In Deutschland ist mit Rückgängen von circa 25 Prozent zu rechnen. Ein Zulassungsplus von 37 Prozent gab es bei Tesla. Doch bei dem geringen Absatz von 13.000 Fahrzeugen in der BRD ist das weder überraschend noch durchschlagend. Im sinkenden Markt gab es – abgesehen von SUV – Zuwächse nur bei Elektroautos, allerdings weit unter Plan. Geschönt wird diese Statistik mit Hybridfahrzeugen, die dazugezählt werden. Tesla fährt zum Jahresende die Produktion runter, die Bauarbeiten an der Fabrik in Grünheide ruhten, und Konzernboss Elon Musk schickte die Beschäftigten in unbezahlten Urlaub (Business Insider Deutschland vom 15.12.). Bei VW in Wolfsburg stehen die Bänder fast vier Wochen still. Absehbar ist: Wenn Kurzarbeitergeld und staatlich genehmigte Insolvenzverschleppung auslaufen, wird das Ausmaß der Krise nicht nur die Betroffenen überraschen.
Die Vier-Tage-Woche
Und wie weiter? Auch 2025 werden E-Autos preislich nicht konkurrenzfähig sein mit Verbrennern. Interessant sind die Verschiebungen im Absatzbereich: Die Anzahl privater Zulassungen nahm um 22,8 Prozent zu, ihr Anteil beträgt jetzt 39,4 Prozent. Gewerbliche Zulassungen gingen um 14,7 Prozent zurück und liegen nun bei 60 Prozent des Gesamtabsatzes. Hauptabnehmer von E-Autos sind Behörden und öffentliche Unternehmen, städtische Betriebe, die die Gelegenheit nutzen, ihre Fuhrparks mit den staatlichen Prämien zu erneuern, und so den wesentlichen Beitrag zum Absatz von Elektroautos leisten. Die Eigenzulassungen der Autohersteller und ihrer Händler schlagen mit fast 20 Prozent zu Buche.
Die IG Metall hat den Kampf um jeden Arbeitsplatz angekündigt und führt diesen schon bei Daimler, Opel, Continental, Bosch und ZF. Diese Auseinandersetzungen werden sich im kommenden Jahr zuspitzen. Voraussetzung für Erfolg wäre es, Alternativen zur Produktion von Autos durchzusetzen – zum Beispiel die Wagenparks der ÖPNV-Betriebe bedarfsgerecht zu erhöhen. Wichtig wäre zudem eine Konzentration auf die Arbeitszeitverkürzung, auf die Viertagewoche und auf gemeinsame Kämpfe der Belegschaften aller betroffenen Betriebe und der Klimabewegung.
https://www.jungewelt.de/artikel/393402.automobilindustrie-zukunft-ohne-auto.html
Ein Gedanke zu „2020: Zukunft ohne Auto?“