Die Gewerkschaften sind in der arbeitszeitpolitischen Defensive. Der langjährige Verzicht auf die Forderung nach Reduzierung der Wochenarbeitszeit hatte ausufernde Arbeitszeiten und Kontrollverluste für Beschäftigte, Gewerkschaften und Betriebsräte zur Folge.
Zusätzliche freie Tage – Feiertage, Verfügungs- oder Urlaubstage – sind gut, aber ebenso wenig eine Alternative zur 30-Stunden-Woche wie die Tarifvereinbarung der IG Metall vom Frühjahr 2018.
Die Umweltkrise verlangt kategorisch nach einer Veränderung der kapitalistischen Art zu produzieren und zu leben. Als Beispiele seien die Werbe- und Rüstungsindustrie genannt, die nichts Nützliches herstellen, aber wertvolle Ressourcen verschlingen und Schadstoffe verursachen. Wie jede kapitalistische Produktion unterliegen auch diese Branchen einem unbedingten Wachstumszwang. Doch es wachsen nur der unnötige Ressourcenverbrauch und die Vergiftung von Luft und Erde. Auf der einen Seite besteht daher die Notwendigkeit, diese Bereiche zu schrumpfen. Auf der anderen Seite gilt es, bestimmte Bereiche der Volkswirtschaft auszubauen und weiterzuentwickeln – zum Beispiel Gesundheit, Bildung, öffentlichen Verkehr, Wohnungsbau, Verbraucherberatung und Umweltschutz.
Vor diesem Hintergrund führt an einer radikalen und allgemeinen Arbeitszeitverkürzung kein Weg vorbei. Der Verzicht auf den notwendigen Kampf um die Zeit führt zu wachsender Massenerwerbslosigkeit und Prekarisierung sowie zur Schwächung der Gewerkschaften. Eine mögliche Arbeitszeitverkürzung auf 15 bis 20 Stunden pro Woche, wie von Keynes (1930) für unsere Zeit prognostiziert, scheint gesellschaftlich und ökonomisch in einem Schritt nicht umsetzbar. Der nächste Schritt ist die 30-Stunden- oder Vier-Tage-Woche.
Unschätzbarer Reichtum ist zu gewinnen: Zeitwohlstand!
Es ist in unserem Land keine ökonomische Frage, ob eine solche Arbeitszeitverkürzung möglich ist – es ist eine Machtfrage. Und es ist eine Verteilungsfrage. In Deutschland gibt es immer noch sehr viel Geld zu verteilen, dafür wären Vermögensabgaben, Erbschaftsteuer, Lastenausgleich und ähnlich bewährte staatliche Maßnahmen anzuwenden. Im Gegenzug gibt es unschätzbaren Reichtum zu gewinnen: den Zeitwohlstand.
Bei einem Großversuch mit 100.000 Beschäftigten mit der 28,8-Stunden-Woche bei VW zwischen 1993 und 2006 hat sich herausgestellt, dass das Glück und die Zufriedenheit der Menschen in dem Maße wachsen, wie die Zeit für Erwerbsarbeit verringert wird (Hilscher/Hildebrandt 1999; Jürgens/Reinecke 1998). Die Erfahrungen bei Volkswagen haben zudem gezeigt, dass eine differenzierte Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung nach den Bedürfnissen der Beschäftigten möglich ist. Damals gab es über 100 verschiedene Arbeitszeitmodelle – aber alle Beschäftigten hatten letztlich eine 28,8-Stunden-Woche (Peters 1994). VW konnte den daraus resultierenden Aufwand in der Personaleinsatzplanung bereits in den 1990er Jahren bewältigen. Heute sind die technischen Möglichkeiten ungleich größer.
Dass die individuellen Situationen und Bedürfnisse der Menschen im Erwerbsleben unterschiedlich sind, heißt nicht, dass keine gemeinsame Forderung gestellt werden kann. Es gibt auch jetzt eine Stimmung für kollektive Arbeitszeitverkürzung – nicht nur im Osten. Das zeigen die Erfahrungen in der Stahlindustrie und bei der Bahn ebenso wie die Beschäftigtenbefragungen der IG Metall, wonach sich zwei von drei Beschäftigten eine regelmäßige Arbeitszeit von 35 Wochenstunden und weniger wünschen. Das Konzept der «kurzen Voll-zeit» ist darauf eine Antwort (siehe den Beitrag von Bernd Riexinger in dieser Broschüre). Selbst wenn Gewerkschaften, linke Parteien und soziale Bewegungen keine Arbeitszeitverkürzung fordern: Die Arbeitgeber machen kollektive und individuelle Arbeitszeitverlängerung zum Thema und erreichen sie auch– durch Erpressung von Betriebsräten und Gewerkschaften, ganz ohne deren Zustimmung oder mithilfe gesetzlicher Änderungen.
Fazit: Die Auseinandersetzung um die Zeit ist unvermeidlich. Wer dem Kampf ausweicht, hat ihn aufgegeben und verloren. Es ist Zeit für den nächsten Schritt: die 30-Stunden-Woche und kurze Vollzeit für alle.
Stephan Krull und Margareta Steinrücke in der Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung Individuelle Bedürfnisse, kollektive Aktionen, politische Alternativen – Beiträge zur neuen Arbeitszeitdebatte.
Literatur
Hilscher,Volker/Hildebrandt,Eckart (1999):Zeit für Lebensqualität. Auswirkungen verkürzter und flexibilisierte Arbeitszeiten auf die Lebensführung, Berlin.
Jürgens,Kerstin/Reinecke,Karsten (1998): Zwischen Volks- und Kinderwagen – Auswirkungen der 28,8-Stunden-Woche bei der VW-AG auf die familiale Lebensführung von Industriearbeitern, Berlin.
Keynes,John Maynard (1930): Economic Possibilities for Our Grandchildren, London.
Peters, Jürgen (1994): Modellwechsel – die IG Metall und die Viertagewoche bei VW, Göttingen.