Ein kollektiver Diskussionsbeitrag herausgegeben vom Institut Solidarische Moderne e.V.
Wie kann Arbeitszeitverkürzung Realität werden?
Wir haben auf Zeit keinen Einfluss, können sie nicht dehnen und nicht schrumpfen lassen. Was wir können, ist, darüber mitzubestimmen, wie wir die uns zur Verfügung stehende Zeit verbringen. Und wie groß der Anteil jener Zeit ist, die wir gemeinhin als Erwerbsarbeitszeit bezeichnen. Darüber wird seit jeher diskutiert. Jede Reduzierung der Erwerbsarbeitszeit musste erkämpft und erstritten werden. Dies gilt auch für die Gegenwart.
Die Reduzierung der Erwerbsarbeitszeit ist grundlegender Baustein einer dringend benötigten und zwingend notwendigen sozial-ökologischen Transformation. In ihrer Bedeutung ist eine Reduzierung der Arbeitszeit vergleichbar mit der Energiewende und der Mobilitätswende. Soll sie doch im Ergebnis dazu beitragen, dass unbezahlte Arbeit besser verteilt wird. Denn nur so werden mehr gesellschaftliche Teilhabe und gerechtere Geschlechterverhältnisse ermöglicht.
Es fehlt gegenwärtig im progressiven Spektrum an Vernetzung all jener, die zu diesem Thema arbeiten. Deshalb haben das Netzwerk Care Revolution und das Institut Solidarische Moderne im Frühling 2023 einen Beschluss gefasst: Gemeinsam mit anderen, zu diesem Thema arbeitenden Akteur:innen, das politische und gesellschaftliche Potenzial der Arbeitszeitverkürzung herauszuarbeiten und Vorschläge zu entwickeln, wie eine solche Idee zur materiellen Realität werden kann.
Welche Forderungen sind geeignet, verschiedene emanzipatorische Kämpfe miteinander zu verbinden? Welcher Voraussetzungen bedarf es, damit Menschen ihre Alltagspraxen und Gewohnheiten verändern und sich dafür entscheiden können, ihre Sorgearbeit geschlechtergerecht umzuverteilen? Also politische Prozesse mitzugestalten, nicht nur auszuhalten?
Beide Fragen verweisen auf die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen kulturellen und demokratischen Transformation. Darunter wird es nicht gehen. Die gerechtere Verteilung von Zeitressourcen, sowie eine dafür zwingend notwendige neue Organisation der Arbeit sind ein großes Projekt und betreffen alle Menschen.
Das ist herausfordernd und es ist gut. Denn beide Forderungen setzen Menschen, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, mit den Engagierten, die für Umweltschutz eintreten, in Beziehung. Mehr noch: Sie haben das Potenzial, beide Interessensgruppen zu vereinen.
Zeit für eine demokratische Transformation
Jenseits der Erwerbsarbeit ist Zeit – zur Verfügung stehende, nutzbare Zeit – die wichtigste Ressource, Transformation aktiv mitzugestalten. Gesellschaftliche Teilhabe und Demokratiearbeit, wie sie politisches Engagement, Ehrenamt oder die Arbeit in Transformationsräten darstellen, brauchen Zeit. Zeit ist keine hinreichende, aber eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Menschen die Welt zum Besseren verändern.
Eine gelingende Transformation muss demokratisch unterlegt und legitimiert sein. Menschen müssen mitbestimmen können, wie Transformation an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Kommunen organisiert wird. Gegenwärtig jedoch fehlt es den meisten schlicht an Zeit, sich jenseits anstrengender und kräftezehrender Erwerbsarbeit einzubringen.
Der Stellenwert der Erwerbsarbeit bröckelt
Während der Coronapandemie wurden die Probleme der heutigen Arbeitswelt in aller Deutlichkeit sichtbar. Neu waren sie nicht. Schon lange prägten prekäre Arbeitsbedingungen, zum Beispiel in der Pflegebranche, den Alltag vieler. Die Digitalisierung hatte die Arbeitsweisen und Arbeitsbedingungen bereits massiv verändert. Eine von vielen Folgen war und ist ein eklatanter Anstieg an (mitunter unfreiwilliger) Zeit im Home-Office beziehungsweise in mobiler Arbeit. Das führt nicht nur zu einer Entgrenzung zwischen Lohnarbeit und Privatleben und damit zu mehr Stress, es reduziert auch die Möglichkeiten, sich zu organisieren. Wer allein im Homeoffice sitzt, kann sich nur schwer verbünden – die gemeinsame Arbeitswelt der geteilte Arbeitsalltag gehen verloren. Damit einher geht das Phänomen des Quiet Quitting (deutsch: stille Kündigung). Es drückt weit verbreitete Unzufriedenheit und Erschöpfung aus. Quiet Quitting stellt die Bedeutung der Erwerbsarbeit in Frage, jedoch als individuelle Entscheidung, nicht als kollektive politische Artikulation, aus der gemeinsames Handeln folgt. Diese Tendenzen, die seit der Pandemie besonders deutlich werden und an Dynamik gewonnen haben, bieten politisches Potenzial.
Alle sehnen sich nach mehr frei verfügbarer Zeit!
Erwerbsarbeitszeitverkürzung kann zu Emanzipation, Solidarität und Transformation beitragen. Sie ermöglicht der gesellschaftlichen Linken, in die politische Offensive zu gehen und damit aus dem Modus zu kommen, in dem auf Krisen nur reagiert wird. Das bedeutet, unser Verständnis von Arbeit neu zu denken. Denn wenn die sozial-ökologische Transformation gelingen soll, müssen verschiedene Anliegen zusammengedacht werden.
Neue Arbeitsformen zu denken, auszuformulieren und zu gestalten – sowohl in der entlohnten als auch in der nicht entlohnten Arbeit – betrifft so viele Menschen in so unterschiedlichen Lebenslagen: Ein solches Projekt hat große und auf lange Sicht angelegte Bindekraft. Es hat die Kraft, die Welt zu verändern.
Ziel unserer partizipativen, gemeinsamen Arbeit war, die Forderung nach einer Arbeitszeitreform und entsprechenden Arbeits(zeit)politiken so zu schärfen, dass sie bereits kurzfristig eine gerechtere Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen ermöglicht und langfristig im Sinne einer ‘nicht reformistischen Reform’ die Bedingungen für zukünftige Kämpfe verbessert. Wir schlagen nach historischer Einordnung und der Beschreibung wirkungsvoller Transformationsaspekte sechs Grundprinzipien solidarischer und emanzipatorischer Arbeitszeitverkürzung vor.
Dieser Vorschlag verkörpert ein breit geteiltes progressives Verständnis von Arbeitszeitverkürzung und versteht sich als Ergebnis konstruktiver inhaltlicher Auseinandersetzungen und Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion. Wir hoffen, dass wir viele Menschen mit diesem Papier erreichen und überzeugen können. Alle, die mit uns gemeinsam streiten wollen, sind eingeladen, mitzuunterzeichnen, Debatten zu organisieren und das Thema voranzubringen.
Erstunterzeichner:innen:
- 4-Stunden Liga
- AG ArbeitFairTeilen von attac
- Konzeptwerk Neue Ökonomie
- AG Erwerbsarbeitszeitverkürzung im Netzwerk Care Revolution
- Frigga Haug, Ehrenvorsitzende des InkriT (Berliner Institut für kritische Theorie), Redakteurin und Mitherausgeberin der Zeitschrift Argument und des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus
- Stephan Krull, IG Metall, ehem. Mitglied des Betriebsrates bei VW Wolfsburg.
- Steffen Liebig, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena
- Margareta Steinrücke, Soziologin, koordinierend tätig in AG ArbeitFairTeilen/attac, Bremer Arbeitszeitinitiative, European Work-Time Network
Weitere Informationen zur Arbeit des ISMs zum Thema Arbeitszeitverkürzung gibt es hier.
Um mitzuunterzeichnen, schreibt einfach eine Mail mit eurem Namen und eurer Organisation an info@solidarische-moderne.de.
Vllt sollten wir auch darüber nachdenken, eine wir Homeoffice Leute digital vernetzen, bspw. Indem wir eine Plattform zum Austausch über die digitale Arbeit schaffen. Denn Austausch ist eine wichtige Grundlage für ein gemeinsames, solidarisches Vorgehen, um gemeinsam ein besseres Arbeitsrecht auch in der digitalen Heimarbeit zu erkämpfen.