Portrait einer Kabarettlegende: Sehr geehrte Drecksau!

Vielen wird Dietrich Kittner gut bekannt sein – als Kabarettist und als langjähriger Autor der Zweiwochenzeitschrift Ossietzky. Am 24. November fand eine kleine Veranstaltung zur Erinnerung an ihn in Hannover statt. Das ver.di-Bildungswerk hatte eingeladen zum „Porträt der Kabarettlegende“. Der langjährige hannoversche Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg und die Kittner-Biografin Sylvia Remé saßen auf der Bühne, Rainer Butenschön führte durch das Gespräch.

Ein kurzer Abend und zwei „Zeitzeugen“ reichen jedoch nicht, um die Kittners – Christel ist unbedingt mit zu erwähnen – halbwegs angemessen zu würdigen. Wie schwierig das ist, wird im „Requiem für Dietrich Kittner“ sichtbar, das Guido Zingerl in OSSIETZKY 5/2013 nach dem Tod von Dietrich schrieb und wozu er viele Attribute benötigt:

Ach Kittner,
Kabarettist, Leid-Artikler, Satiriker, Texter, tab-Macher, Freund. Genosse, Bürgerrechtler, Dissident und Agitator … »Staatsfeind, Staatsgefährder, Anheizer, Unterzeichner, Aufrufer,
Anhänger, Unterstützer, Teilnehmer, Betrüger«.

Die Anrede „Genosse“ bezog sich dabei nicht auf die SPD, aus der Dietrich Kittner Anfang der 1970er Jahre ausgeschlossen wurde. Von „Staatsfeind“ bis „Betrüger“ handelt es sich um Ehrentitel von Polizei und Staatsmacht.

Bürgerrechtler war Kittner, bevor dieser Begriff populär wurde. Der hannoversche Club Voltaire, von den Kittners mit „Apo-Theke“ bewirtschaftet, war, ebenso wie später das tab, das „Theater an der Bult“, ein Ort der Diskussion und der Planung von Bürgerrechtsaktionen. Dort wurden Bündnisse geschmiedet – von SDS, DKP und Gewerkschaften bis hin zu bürgerlichen Demokraten, engagierten Kirchenleuten und Journalisten wie Eckart Spoo. Und die Kittners stellten nicht nur die Räume zur Verfügung, sondern waren aktiv und treibend in der Bündelung von Kräften und der Zuspitzung von Themen: Die zunächst sehr erfolgreiche Aktion „Roter Punkt“ ist dafür ein herausragendes Beispiel ebenso wie Antikriegsaktionen oder Aktionen gegen Berufsverbote, die jetzt gerade zu späten Erfolgen führen.

Insoweit ist Herbert Schmalstieg als damaligem Oberbürgermeister tatsächlich zu danken, dass er sich nicht an der Hexenjagd der Staatsmacht und dem Boykott der großen Medien beteiligt hat, dass er der kritischen und bissigen Kultur in dieser Stadt öffentlich Raum ließ.

Ich erinnere mich an viele Begegnungen und Gespräche mit Dietrich, da geht es mir wie Rainer Butenschön, der im Vorwort zur Biografie schreibt: “Mein Freund Dietrich – er war für mich vor allem auch eins: Ein wichtiger Lehrer, ein Lehrer nicht nur in gesellschaftlicher Analyse, die als Dreh- und Angelpunkt die Eigentumsverhältnisse in den Blick zu nehmen hat.“ Typisch dafür einer von vielen Buttons, die Kittner auf der hauseigenen Buttonmaschiene produzierte: „Marx statt Flick“.

Zur damaligen Flick-Affäre ist zu erinnern: Die Flick-Parteispendenaffäre war in den 1980er Jahren ein politischer Skandal um verdeckte und illegale Parteispenden des Flick-Konzerns. Laut Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch dienten diese Praktiken einer „Pflege der politischen Landschaft“. Das bedeutete jedoch offensichtlich eine Beeinflussung von Entscheidungen des Bundeswirtschaftsministeriums zugunsten des Flick-Konzerns und des Konzernchefs oder waren ein Dank dafür. Diese KorruptionsAffäre führte zu einem deutlichen Vertrauensverlust gegenüber den beteiligten Parteien CDU, CSU, SPD und FDP.

Typisch für Kittners auch die kleine Druckmaschine, auf der Flugblätter über Nacht produziert werden konnten.

Eine erste Begegnung mit Kittner hatte ich als junger Gewerkschafter, als er damals, 1967, auf dem völlig neuen hannoverschen Flohmarkt am Leineufer ein lebensgroßes Plakat des Pfauenthrones samt Schah von Persien in Paraduniform aufstellte, um, nach der Ermordung von Benno Ohnesorg, allen die Gelegenheit zur Majestätsbeleidigung zu geben. Hunderte faule Eier und Tomaten flogen auf den von der Bundesregierung gefeierten Staatsgast und grausamen Herrscher Persiens. Die Staatsmacht kapitulierte angesichts der vielen Selbstanzeigen und auch hier ein später Erfolg: Der Straftatbestand der Majestätsbeleidigung wurde Ende 2017 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Diese Aktion war nicht der Beginn der außerparlamentarischen Opposition, die Ostermärsche und die Proteste gegen den Krieg der USA in Vietnam gab es schon länger, aber es war zumindest für Hannover die Ouvertüre für die Revolte von 1968.

Meine letztes Gespräch mit Dietrich war ein Anruf von ihm, der mich, wenn meine Erinnerung nicht täuscht, im April 2012 erreichte: Verdi bestreikte die ÜSTRA, die hannoverschen Verkehrsbetriebe, kurz vor Messezeit, um möglichst viel Druck auszuüben. Die hannoverschen Zeitungen riefen Autofahrer auf zu helfen den Streik zu brechen: Mit dem Roten Punkt sollten Fahrgäste eingeladen werden, mit ihnen, die Straßenbahn ersetzend, zu fahren: „ein traditionsreiches Symbol der gegenseitigen Hilfe in Ausnahmesituationen“. So okkupiert die Hannoversche Allgemeine Zeitung dieses Symbol: „Drucken Sie den Roten Punkt aus und befestigen Sie ihn an Ihrem Auto. Damit zeigen Sie: Sie bieten anderen gerne eine Mitfahrgelegenheit. Alle Menschen, die mitgenommen werden möchten, können entsprechende Schilder mit dem Punkt darauf verwenden. Die Aktion läuft auf eigene Gefahr.“ (https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Mitfahrgelegenheit-beim-Uestra-Streik-in-Hannover-So-kommen-Sie-zur-Arbeit-und-zurueck). Diesen Missbrauch der schönen bürgerrechtlichen Tradition des Roten Punktes registrierte Kittner im Krankenbett und forderte mich per Telefon dringend auf, die Partnerinnen und Partner des Roten Punktes zu alarmieren, den Streikbruch als solchen zu diskreditieren und so die Gewerkschaft in ihrem Kampf zu unterstützen.

Das ist ohnehin der rote Faden im leben und Wirken von Dietrich und Christel: Solidaritä!

Der Abend mit Herbert Schmalstieg konnte vieles aus dem Leben und Schaffen von Dietrich und Christel nicht vermitteln. Die Biografie von Sylvia Remé hat mich ziemlich enttäuscht, ohne dass ich genauer hätte sagen können, woran es liegt. Vielleicht daran, dass die Autorin überwiegend aus schriftlichen Quellen schöpfte? Vielleicht auch an der Auswahl von Personen, mit denen sie sprach: Viele seiner engsten Freunde und Kampfgefährt:innen tauchen im Personenregister nicht auf. Vielleicht liegt es auch daran, was sie selbst in der Einleitung schreibt: „Das Buch hätte dennoch nicht ohne die finanzielle Unterstützung zahlreicher Förderer erscheinen können.“ Mein Unwohlsein fasste besser Lars Johansen in Worte, der in Hannover groß gewordene und in Magdeburg lebende und agierende Künstler: „Ich war als Südstädter, seitdem ich etwa 14 oder 15 war, im tab, also dem Theater an der Bult. Und dann bin ich ihm in den 90ern bei den Kugelblitzen wieder begegnet. Wir waren da nach einem Gastspiel von ihm in einer Live-Sendung vom Deutschlandfunk, welches direkt aus dem Foyer des Theaters übertragen wurde. Ich habe ihn als Teenager bewundert. Ist also definitiv eines meiner Vorbilder. Die Biografie habe ich erworben und versucht zu lesen. Die ist mir völlig fremd vorgekommen. Ich kenne ja sein >Vor Jahren noch ein Mensch<, welches wirklich sehr authentisch ist. Die neue Biografie ist so fern von ihm, finde ich. Kittner war in Hannover ein echter Star, nicht nur der Gegenkultur. Ohne ihn kein roter Punkt und wenn er beim Altstadtfest auftrat, dann kamen die Massen. Einen populäreren Kabarettisten hatte Hannover nie. Kittner und seine Arbeit waren letztendlich einer der Hauptgründe für mich, selber Kabarett zu machen.“

Als Weihnachtsgeschenke in dieser Zeit sehr zu empfehlen: „Sehr geehrte Drecksau“ – Dietrich Kittner live auf CD. Oder, wenn die Pandemie vorüber sein sollte: Eine Entspannungswoche im österreichischen Exil von Christel und Dietrich, dem Hollerhof in Dederitz: https://hollerhof.at/

Veröffentlicht in Ossietzky, Heft 24 im 24. Jahrgang, 4.12.2021, https://www.ossietzky.net/

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