Am 16.11.2020 hat der Landesvorstand Die LINKE Sachsen-Anhalt den Entwurf des Wahlprogramms für die Landtagswahl 2021 mit 12:1 Stimmer verabschiedet.
Als Mitglied des Landesvorstandes muss ich erklären, weshalb ich diesem Entwurf nicht zustimmen konnte.
I.
Die Ausgangsposition zur Landtagswahl für uns ist nicht gut mit der krachenden und unverarbeiteten Niederlage von 2016 (16 Prozent, Verlust von 12 Mandaten, weniger als 1994) und mit den aktuellen Prognosen. Frauen und Jugendliche haben uns auch 2016 unterdurchschnittlich gewählt. Umso wichtiger wäre es, einen programmatischen und personellen Neuanfang zu starten, die verlorenen Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen und neue Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren.
Auf dem Landesparteitag im Sommer 2019 wurde beschlossen, einen partizipativen und transparenten Prozess der Programmerstellung zu initiieren. Dieser Prozess wurde nicht gestartet. Auch die Erkenntnisse des Parteitages vom Oktober 2020 wurden nicht umgesetzt. Dort wurde selbstkritisch formuliert, dass die digitalen Möglichkeiten nicht genutzt wurden, die Programmdiskussion zu öffnen. Im November 2019 wurde eine Redaktionskommission durch den Landesvorstand gewählt, die in ihrer Zusammensetzung (Stefan Gebhardt, Thomas Lippmann, Janina Böttger, Doreen Hildebrandt, Mario Blasche, Achim Bittrich, Sabine Krems-Jany und Roland Claus) von mir kritisiert wurde, weil sie nicht den Aufbruch widerspiegelt, den wir dringend brauchen. Insbesondere, so meine Kritik, fehlten jugend- und frauenpolitisch bewegte und aktive Personen. Weiter wurde bei dieser Sitzung des Landesvorstandes beschlossen, „zur Partizipation aller Mitglieder und interessierter Verbände ein digitales Beteiligungsportal einzurichten.“
Der gesamte Programmprozess kam jedoch nicht in Gang, bis Oktober 2020 wurde kein Beteiligungsprozess der Mitglieder und Gliederungen der Partei initiiert. Unter großem Zeitdruck wurde schließlich Marian Krüger gebeten bzw. beauftragt, aus umfangreichen Textteilen aus der Landtagsfraktion einen Entwurf zu schreiben.
Dieser erste Entwurf wurde den übrigen Landesvorstandsmitgliedern wenige Tage vor der Landesvorstandssitzung am 2.11. zur Verfügung gestellt und bis zur Beratung des Landesvorstandes am 16.11. redaktionell überarbeitet.
II.
Formal wurden fast alle meine Veränderungsvorschläge abgelehnt.
Inhaltlich wurde meine Kritik, die ich auch vorher der Redaktionskommission mitgeteilt hatte, nicht aufgegriffen.
Mit über 70 Seiten ist das Wahlprogramm sehr umfangreich. Einerseits. Andererseits fehlen zentrale Bereiche. Alles ist viel zu kleinteilig, teils völlig unverständlich selbst für interessierte Menschen. Beispiel: „Wir wollen auch für kreisangehörige Gemeinden Ergänzungszuweisungen zum Belastungsausgleich einführen.“
Durch die Kleinteiligkeit wird alles beliebig – gleich wichtig oder gleich unwichtig.
Es werden keinerlei Schwerpunkte deutlich, z.B. kommen „Angler“ und „Hunderassen“ vor ein paar Zeilen zur Jugend, „Polizeiausbildung“ vor nix zur Erwachsenenbildung, Jugendstrafe vor (eigentlich gar nix zu) Jugendrechten. Es gibt keine definierten Zielgruppen und keine dementsprechende Ansprache von bzw. Angebote für Frauen und Jugend. In Summe ergibt sich überhaupt kein Profil.
1. Obwohl die Partei im Land auszusterben droht, gibt es kein Kapital zur Jugendpolitik, keine konzentrierten Hinweise auf die Rechte von Jugendlichen auf gute Bildung und Ausbildung, auf soziale Sicherheit, auf Demokratie, Mit- und Selbstbestimmung, auf sinnvolle Freizeitgestaltung. Es gibt nur sehr verstreut einzelne kurze Passagen zu die Jugend betreffenden Fragen. Wenn Jugend, wie ich finde, eine Hauptzielgruppe des Wahlkampfes sein muss, dann muss sich das auch im Wahlprogramm niederschlagen. Wesentliche Positionen des der Partei nahestehenden Jugendverbandes finden sich im Wahlprogramm nicht wieder. Einmal im Programmentwurf werden „Kinderrechte“ betont. Dazu gehört das Recht auf Beteiligung von Kindern. Dann folgt die Forderung nach einer Kinderkommission als parlamentarischer Unterausschuss: „Sie vertritt die Interessen von Kindern und Jugendlichenin Sachsen-Anahlt.“ Hola! Mit Beteiligungsrechten von Kindern hat das mal nichts zu tun.
2. Es gibt keine Kapitel „Geschlechtergerechtigkeit“. Verstreut über 70 Seiten findet sich an wenigen Stellen etwas zur Gleichberechtigung bzw. gegen die Benachteiligung von Frauen. Einen konkreten Forderungskatalog gibt es dazu nicht, wenn Frau danach sucht, muss sie sich durch das ganze Programm quälen.
3. Es gibt nicht einmal einen kleinen Absatz zur politischen Bildung. Angesichts der Krise der Demokratie und des Parteiensystems, angesichts des Aufstieges der AfD, der Attraktivität von Verschwörungstheorien, angesichts des um sich greifenden Trumpismus ist politische Bildung so wichtig wie noch nie. Demokratie muss von jeder Generation neu gelernt werden. Und in einer Situation, in der die Regierenden in Sachsen-Anhalt die politische Bildung nicht fördern, sondern tendenziell austrocknen, werden im Programmentwurf ganz allgemein Wahlen als das Rückgrat der Demokratie bezeichnet. Die Träger der politischen Bildung, der Demokratie-Bildung werden das sicher registrieren.
4. Gelegentlich werden Pappkameraden aufgebaut: „Autofahrer dürfen nicht zu Sündenböcken abgestemplet werden.“ Wenn wir wissen, dass niemand „Autofahrer zu Sündenböcken“ abstempelt, wirkt dieser Satz als eine Erklärung, dass alles bleiben soll, wie es ist. Er hätte von jeder neoliberalen Partei formuliert sein können.
III.
Zu konkreten Kritikpunkten:
- Wiederholt wird im Programm von „Leistungsträgern“ und von der Missachtung des „Leistungsprinzip“ geschrieben – ohne den antihumanistischen Charakter dieser Begrifflichkeit in Frage zu stellen. Es wird nicht kritisch hinterfragt, was Leistungsdruck, Leistungszwang und Leistungsorientierung an Schäden schon an Kindern anrichten. Statt der „wirklichen Leistungsträger“ hatte ich vorgeschlagen, die“Beschäftigten in den Betrieben und Verwaltungen“ zu schreiben. Das wurde ebenso abgelehnt wie der Ersatz des „Leistungsprinzips“ durch „soziale Gerechtigkeit“. Es geht ja nicht um die Beschreibung der Realität – da hätte die Ungleichheit bei der Bezahlung von Männern und Frauen als Ungerechtigkeit beschrieben werden können. Es geht mir und es sollte uns um eine Kritik an dem Leistungsprinzip gehen, dass in dieser Gesellschaft auch ideologisch benutzt wird, um gesellschaftliche Ungleichheit (Klassengesellschaft) und die Schere zwischen Arm und Reich zu begründen. Völlig unklar ist dabei, wie „Leistungsprinzip“ und „sanktionsfreie Grundsicherung“ oder gar bedingungsloses Grundeinkommen zusammen passen sollen.
- Abgelehnt wurde, den „Rechtsanspruch auf Homeoffice“ zu streichen. Angesichts der Tatsache, dass „Homeoffice“, hier wieder insbesondere für Frauen, doppelte Arbeit und Belastung bedeutet, sollten wir dieses „Recht“ nicht proklamieren. In nur 14 Prozent der Betriebe in Sachsen-Anhalt gibt es Betriebsräte, für nur 44 Prozent aller Beschäftigten gibt es gesetzliche Betriebsvertretung. „Homeoffice“ wäre unter diesen Bedingungen für die Mehrheit der Beschäftigten der Willkür der Arbeitgeber ausgesetzt ohne kollektiven Schutz und ohne Kontrolle.
- Es wurde abgelehnt, den ganz unpräzisen Begriff eines Azubi-Tickets, „das den Namen verdient“ zu präzisieren (2 Euro pro Tag landesweit, Forderung der DGB-Jugend) oder zu streichen.
- Abgelehnt wurde mein Antrag, folgenden Satz zu streichen: „Ohne zugewanderte Fachkräfte kann unsere Wirtschaft nicht auskommen.“ Bei dem Recht auf Migration, bei der Flucht von Menschen vor Krieg oder Klimakatastrophen, kann es nicht um Nützlichkeit für die Wirtschaft gehen. In der einschlägigen Debatte wird das als „Nützlichkeitsrassismus“ bezeichnet.
- Die Präzisierung der „Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich“ als „Vier-Tage-Woche“, wie von der IG Metall aktuell gefordert, wurde abgelehnt als in Sachsen-Anhalt ganz unrealistisch und nicht vermittelbar.
- Abgelehnt wurde mein Antrag, bei der Umsetzung von Arbeitszeitverkürzung entgegen dem Programmtext nicht Gewerkschaften „und Arbeitgeberverbände“ zu unterstützen mit dem Argument der notwendigerweise sozialpartnerschaftlichen Umsetzung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden.
- Ein sofortiges und vollständiges Werbeverbot an Kitas und Schulen wurde mit Hinweis auf Sponsoren abgelehnt.
- Die Einbeziehung von Umwelt-, Verkehrs-, Sozial- und Verbraucherverbände, von sozialen Bewegungen und der Klimabewegung in den Dialog zum Strukturwandel wurde explizit abgelehnt.
- Die Umwandlung von staatlichen Subventionen in Belegschaftsanteile und entsprechende Mitbestimmungsrechte wurde abgelehnt.
- Die Streichung der Floskel, „Unternehmer tragen die Risiken der Selbständigkeit“ wurde abgelehnt – angesichts der Tatsache, dass die Beschäftigten Lohnkürzungen hinnehmen müssen, auf Kurzarbeit gesetzt oder erwerbslos werden, während Gesellschafter von Unternehme maximal mit ihrer Einlage haften und zwischendurch Gewinnentnahmen tätigen.
- Mein Widerspruch zu der Aussage, E-Autos seien eine „Brückentechnologie“ wurde abgelehnt. E-Autos lösen kein Problem des Verkehrs und der Umwelt. Die Unterstützung von Fridays for Future verkommt zur Floskel, wenn gleichzeitig die Autoindustrie dabei unterstützt wird, am alten Geschäftsmodell festzuhalten.
- Den ÖPNV „schnell“ kostenfrei zu machen und den Begriff „Nulltarif“ einzuführen wurde abgelehnt. Ebenso wurde die Streichung der Einschränkung, dass dieses nur für „Auszubildende und Bundesfreiwilligendienstleistende“ gelten soll, abgelehnt.
- Es wurde abgelehnt, die Überschrift „Wahlen sind das Rückgrat der Demokratie“ zu ersetzen durch „Politische Bildung ist das Rückgrat der Demokratie“ und einen noch zu formulierenden Text zur politischen Bildung und den leider viel zu wenigen Trägern der politischen Bildung.
- Die Aufnahme der Forderung nach Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Arbeitsrecht wurde abgelehnt – explizit auch zur Verfolgung von Verstößen gegen § 119 Betriebsverfassungsgesetz, durch welchen die Behinderung der Wahl von Betriebsräten und die Behinderung von Betriebsräten selbst unter Strafe gestellt werden (Haft bis zu einem Jahr). Kündigungsschutzklagen dauern oft viele Monate, manchmal Jahre, wodurch das Recht der Beschäftigten massiv eingeschränkt bzw. ausgehebelt wird.
- Schließlich wurde abgelehnt, „Arbeit statt Strafe“ als Maßnahme zu streichen für Personen, die Geldbußen oder Geldstrafen nicht bezahlen können.
- Nicht korrigiert wurde ein systematischer Fehler, indem monatliche Einkommen bis zu 5.600 Euro steuerlich entlastet werden sollen, aber „ab 65.000 Euro Jahreseinkommen“ der Spitzensteuersatz von 53 Prozent erhoben werden soll.
Am 28.11. wird ein digitaler Programmkonvent durchgeführt und am 29./30. Januar 2020 wird das Wahlprogramm auf einem Landesparteitag beschlossen werden.