Ausgerechnet am Freitag dem 13. März mussten alle 470 Beschäftigten der Volkswagen-Sitzefertigung (Sitech GmbH) in Hannover ihren Werksausweis abgeben: am Montag wurde die Fertigung eingestellt, das Werk wird geschlossen – allerdings nicht wegen Corona, sondern wegen unbeugsamen Widerstandes gegen die Pläne des Managements. Die Arbeitszeit sollte auf 40 Stunden verlängert werden – ohne weitere Vergütung. Die Beschäftigten sollten 5 Stunden in der Woche gratis arbeiten kommen – gut 20 Stunden im Monat, 240 Stunden im Jahr. Nehmen wir nur einen Stundenlohn von 20 Euro als Berechnungsgrundlage, so sind das fast 5.000 Euro pro Jahr und Beschäftigten oder 2,3 Millionen Euro Extraprofit für den VW-Konzern. Die Forderung des Managements kann allein ökonomisch nicht erklärt werden, wenn wir uns die Zahlen von 2018 anschauen (die Zahlen für 2019 liegen noch nicht vor): 1,1 Milliarden Euro Umsatz und 25 Millionen Euro Gewinnabführung an den Volkswagen-Konzern (Bundesanzeiger). Als die Belegschaft von Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzung nicht zu überzeugen war, wurde sie kurzerhand ausgesperrt. Vom sozialpartnerschaftlichen Vorzeigeunternehmen war das eher nicht zu erwarten, wurde doch in der letzten Krise 2009 noch die Betriebsgemeinschaft beschworen: IG Metall und Volkswagen – ein Team, eine Familie.
Die IG Metall protestierte pflichtgemäß, der VW-Betriebsrat erklärte seine Solidarität und die Ankündigung eines Staatssekretärs, „die Landesregierung wolle mit VW-Managern über das Thema sprechen“, bewirkte scheinbar das Gegenteil. Jedoch ohne Zustimmung von Betriebsrat, IG Metall und Landesregierung im Aufsichtsrat kann bei der besonderen Mitbestimmung innerhalb von VW kein Werk eröffnet oder geschlossen werden. Auch große Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der Belegschaft brachte das VW-Management nicht dazu, von der Verlagerung der Produktion in ein Billiglohnland abzusehen. Dabei wird in Kauf genommen, dass die großvolumigen Sitze künftig hunderte Kilometer durch Europa mit dem LKW transportiert werden.
Aussperrungen in Mexiko und Südafrika
Der zuständige Sekretär der IG Metall in Hannover, Thadeus Mainka, bezeichnete die brutale Aussperrung der Arbeiterinnen und Arbeiter als „unrühmliches Novum innerhalb des VW-Konzerns“. Und doch gibt es Blaupausen für diese Praxis, die immer darauf hinauslief, unbotmäßige Belegschaften weich zu klopfen und die „Rädelsführer“ los zu werden. Zunächst die totale Aussperrung bei VW in Puebla/Mexiko im Sommer 1992 von 17.000 Beschäftigten, die von der Polizei mit direkter Gewalt durchgeprügelt wurde und, 10 Jahre später, bei einer ähnlichen Situation in Uitenhage/Südafrika im Jahr 2002 traf es rund 8.000 Beschäftigte. In beiden Fällen sollte selbstbewussten Belegschaften und kämpferischen Gewerkschaften das Selbstbewusstsein und das Kämpferische ausgetrieben werden. In beiden Fällen wurden nach einer Massenaussperrung die „Rädelsführer“ in Größenordnung von mehreren Hundert gewerkschaftlichen Aktivisten nicht wieder eingestellt – der Rest musste schlechtere Konditionen schriftlich akzeptieren, bevor wieder die Arbeit aufgenommen werden durfte. In Mexiko wurde vom VW-Management gleich die Gewerkschaftssatzung umgeschrieben und alle basisdemokratischen Elemente entfernt. Die bis dahin unabhängige Gewerkschaft wurde durch die strukturelle Gewalt des Unternehmens in eine „gelbe“ Gewerkschaft umgewandelt. In Südafrika wurde die Gewerkschaft massiv geschwächt und zerbrach fast an diesem Konflikt. Ludger Pries, damals mit einem Habilitationsstipendium mit Studien in Mexiko beschäftigt und informeller Berater des VW-Betriebsrates und der IG Metall in Deutschland, schrieb in einem Brief an den Gesamtbetriebsrat u.a.: „Die Vorgänge wären eine tiefe Schande für ein deutsches Unternehmen hier in Mexiko und sie sind einfach unfassbar für ein Unternehmen wie Volkswagen, für das ich mich selbst als Außenstehender schämen muss.“ Der zuständige Personalmanager informierte den Vorstand der VW AG in Notizen vom 18. und 24. August 1992: „Wesentliche Änderungen betreffen das Gewerkschaftsstatut: Die Wiederwahl des Vorstandes wird möglich; der Vorstand wird erweitert, um den größeren Aufgaben besser gewappnet zu sein, gleichzeitig wird die Zahl der Delegados/Vertrauensleute deutlich vermindert. Beides soll zur stärkeren Stellung des Vorstandes beitragen. … Inzwischen arbeiten wieder 93% der Belegschaft. Neben den 600 Dissidenten haben etwa 400 Mitarbeiter es vorgezogen, die Arbeit nicht wieder aufzunehmen.“
Dass es sich dabei um gleiche Ziele bei der Aussperrung der Belegschaft von Sitech in Hannover handelt, wird an der Sprachlosigkeit des VW-Betriebsrates und der IG Metall ebenso deutlich wie an der lakonischen und emotionslosen Stellungnahme des Gesamtbetriebsrates von Sitech (Wolfsburger Nachrichten, 6.3.2020): „Am Ende hat es nicht gereicht für den Abschluss eines wichtigen Zukunftsvertrages. Dieser Umstand führte nun auch zur Entscheidung des Unternehmens gegen die Fertigungsstätte. Dass der Zukunftsvertrag auf den letzten Metern scheiterte, ist äußerst bedauerlich.“ Das Management schiebt den schwarzen Peter an den Betriebsrat und erklärt, dass dieser die Notwendigkeit betrieblicher Sparmaßnahmen bis zum Schluss nicht anerkannt habe. „Somit konnte keine Vereinbarung zu dringend erforderlichen Produktivitätsmaßnahmen nach dem Vorbild der Volkswagen AG abgeschlossen werden“ (Welt, 4.3.2020). Für die Beschäftigten des gesamten VW-Konzerns soll die Aussperrung von 470 Beschäftigten in Hannover wohl ein Lehrstück sein: Wer die betriebswirtschaftlichen Vorgaben der Konzernzentrale nicht abnickt, wird gnadenlos abgestraft – ohne mit Solidarität von Betriebsrat und Arbeitnehmervertreter*innen im Aufsichtsrat rechnen zu können.
Veröffentlicht in Neues Deutshcland, 18.3.2020 https://www.neues-deutschland.de/artikel/1134436.anderswo-ist-billiger.html