Christian Baron ist beim Feuilleton des Neuen Deutschland für Theater und bildende Kunst zuständig. Wahrscheinlich versteht er davon etwas. Warum er aber explizit politische Kommentare, vernebelt als Literaturkritik, veröffentlicht, erschließt sich weder aus dem Inhalt noch aus der Orginalität. Dieses Wochenende (2./3.6.2018, ND) schreibt er über „das Elend der Moral“ und bemüht und zitiert lang und ausführlich dafür zwei bis drei andere Personen als Ratgeber für die Linke. Von „Tonangebenden“ und „Debattenbestimmern“ ist da die Rede – allesamt aus dem „Sonnenscheinliberalismus“ und „Realitätsverweigerer“, die die Nöte derjenigen nicht sehen, die die Gewaltkriminalität „junger männlicher Zuwanderer“ bedrückt und damit der AfD das Feld überlassen. Der von Baron bemühhte und zitierte Nils Heisterhager ist Grundsatzreferent der SPD-Fraktion in Rheinland-Pfalz. Zuvor war er Grundsatzreferent und Redenschreiber verschiedener IG Metall Vorsitzenden. (Das Fass zur Qualität der Reden der IG Metall-Vorsitzenden will ich hier gar nicht erst aufmachen, das wäre eine andere Geschichte; aber gut zu wissen, wer da seine Anteile dran hat.) Heisterhager hat an den Universitäten Göttingen und Hannover Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre studiert und an der Humboldt Universität zu Berlin in Philosophie promoviert. Er forscht, so seine Selbstauskunft, im Bereich der politischen Philosophie. Seine jüngste Publikation „Die liberale Illusion“ bespricht Baron, der selbst Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier studiert hat und danach als Redakteur bei einer Lokalzeitung beschäftigt war. Der parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfaktion Die LINKE muss das wohl auch gelesen haben, sprach er doch neulich davon, dass „Moral eine große Versuchung der Linken“ sei. Alle beide, Baron und Heisterhager, also bestens geeignet, über die Milieus zu sprechen, in denen sie sich selbst nicht bewegen – als aktiver Gewerkschafter und ehemaliger Betriebsrat darf ich das sagen. Woher kommt der Hass auf die Moral, diese als Elend zu bezeichnen? Baron zitiert als schlagenden Beweis den konservativen Journalisten Ulf Poschardt mit einem fiktiven Zitat – das muss man erst mal bringen als seriöser Journalist: „Im Grunde genommen machen die Bürgerkinder das, was sie schon früh in der Grundschule und dann im Bus zum Gymnasium den Hauptschülern klargemacht haben: Ihr seid ein Witz, wir wollen mit Euch nichts zu tun haben“, schrieb der in einem Leitartikel für die WELT. Als Hauptschüler mit Abschluss neunte Klasse drängt sich mir die Frage auf, mit welchen Komplexen solche bedauernswerten Journalisten eigentlich leben müssen? Heisterhager plädiert „für die Überwindung der Moral“, fordert einen „linken Realismus“ und konstruiert so einen sehr seltsamen Widerspruch zwischen Moral und Realismus, der bei Baron in folgender Absurdität mündet: „Die Linken könnten von ihrer urbanen Wirkungsstätte aus die oft in ländlichen Stätten lebenden Arbeiter vor dem politischen Tod bewahren, indem sie sich für sie einsetzen und auch das Risiko eingehen, dabei politisch umzukommen.“ Abschließend empfiehlt uns Baron, die Lehren des ehemaligen großen Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu berücksichtigen.
Und wie sollen Leben und Politik ohne Moral funktionieren? Ganz einfach, so erklären Baron und Heisterhager mit einem weiteren Zitat eines großen Trier Philosophen; nicht Karl Marx, sondern den weltberühmten Michael Schmidt-Salomon, der als Nietzsche-Anhänger „Jenseits von Gut und Böse“ schreibt, warum nur eine Welt ohne Moral zu einer besseren Gesellschaft führt: „Der Gut-Böse-Komplex diente in der menschlichen Kulturgeschichte immer wieder dazu, Menschengruppen gegeneinander aufzuhetzen.“ Ein seltsamer Kontrapunkt zum philosophischen Materialismus von Karl Marx, der doch konkreter, praktischer und realistischer ist als der von Baron und seinem Kumpel aus Trier: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“