Zukunftsfähige Stadt – zum Beispiel Hamburg. Zeit zum Handeln

Rezension von mir für Das Argument, Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften – schon etwas her, leider aktuell geblieben

Wuppertal Institut, BUND, Diakonie und Hamburger Zukunftsrat (Hg.), Zukunftsfähiges Hamburg – Zeit zum Handeln, Dölling und Galing, Hamburg/München 2010 (256 S., br., 9,90 €)

 

Verf. wenden Erkenntnisse aus der bundesweiten Studie >Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt< des Wuppertal-Instituts von 2008 auf die politische und gesellschaftliche Realität der deutschen Großstadt an. Es geht um die Verknüpfung globaler und lokaler Zukunftsfähigkeit. Verf. kritisieren zu Recht den Stillstand der Debatte und politischen Handelns in Sachen Nachhaltigkeit. Herrschende Umweltpolitik sei heute rein symbolisch.

Es werden sechs Felder sozialen Lebens und Wirtschaftens behandelt: (1.) Leben einschließlich Wohnen und Bauen in der Stadt, (2.) Arbeiten mit der Perspektive, >die ganze Arbeit< einzubeziehen, (3.) Verwalten mit fairer Beschaffung und ökologischer Effizienz, (4.) Versorgen durch stadteigene Energieversorger, (5.) Wertschöpfen in der >Nullemissionsstadt< als Planungsansatz und (6.) Wachsen mit dem Ziel einer Postwachstumsökonomie.

Im Kapitel Arbeit wird von anhaltend hoher Arbeitslosigkeit bei ungerechter Verteilung der (Erwerbs-)Arbeit ausgegangen. Daraus folgt die sinnvolle Erkenntnis, Arbeit und Einkommen auf mehr Menschen zu verteilen. Die Notwendigkeit der Arbeitszeitverkürzung wird mit den Grenzen des Wachstums, mit einer Humanisierung und Demokratisierung der Arbeit sowie der >partnerschaftlichen Teilung< der (Erwerbs-)Arbeit begründet, auch um erzwungene und nicht existenzsichernde Teilzeitarbeit zu überwinden. Der Schlüssel dafür heißt >kurze Vollzeit< (S.75). Im Fokus ist dabei >die ganze Arbeit<, also auch die unbezahlte Sorge-, Eigen- und Gemeinwesensarbeit, deren Anteile zusammen größer als die Erwerbsarbeit sind. Angeregt wird eine >Hamburger Allianz für kurze Vollzeit für alle<, in die Senat, Politik, Arbeitsagentur, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften einbezogen werden sollten. Kirchen, Krankenkassen, Sozialverbände und Sozialbewegungen/NGOs wären als weitere Allianzpartner unverzichtbar, um den Prozess demokratisch zu gestalten.

In der Stadt mit den meisten Millionären Deutschlands diesbezüglich nicht sinnvoll ist die Forderung an die Lohnabhängigen, auch das Einkommen zu teilen. Die organisierten Beschäftigten in Betrieben und Verwaltungen sind nachvollziehbar für Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich nicht zu gewinnen. Debatte und Kampf um (Um-)Verteilung lassen sich nicht vermeiden! Die ambivalente Haltung der Gewerkschaften in der Arbeitszeitfrage reflektieren Verf.: >Sie befürchten vor allem, dass sich die Mitglieder nach jahrelangen Reallohnverlusten kaum für eine Arbeitszeit von 30 Stunden gewinnen lassen.< Eine Politik der Arbeitszeitverkürzung werde aber dann >breit unterstützt werden, wenn ihre positiven Wirkungen […] konkret erfahren werden können. Dies ist […] dann der Fall, wenn durch die Absenkung der Arbeitszeiten der eigene Arbeitsplatz oder der von Kollegen gesichert und ansonsten drohende Entlassungen abgewendet werden können.< (S. 91). Dabei verweisen Verf. auf erprobte Vorgehensweisen wie das Modell der Beschäftigungsförderung der IG Metall in Niedersachsen, die 35-Stunden-Woche in Frankreich oder das weiterzuentwickelnde Teilzeitgesetz mit der Möglichkeit, die Arbeitszeit individuell auf Wochen- oder Jahresbasis zu verkürzen. Mit der >Zeitreise 2030< legen Verf. abschließend eine schöne Utopie vor. Sie wird nicht konkreter als die >Reportage aus dem Jahr 2043< von Rolf Schwendter (vgl. Arbeitszeit ist Lebenszeit, Frankfurt/M. 1984), ist aber ein Beispiel dafür, dass es heute noch >Denken ohne Geländer< gibt. Die Kapitel zu Leben und Wohnen, Verkehr (>kostenloser ÖPNV für alle<) und Energieversorgung machen die Studie für die Linke lesenswert, die die Vorschläge aus der Studie aufgreifen und weiterentwickeln sollte. Dabei kommt es zu notwendigen Konflikten mit der herrschenden Politik und der neoliberalen Ökonomie und ihren Protagonisten, wenn die Einhaltung von Sozialstandards, die Einführung eines kostenlosen ÖPNV, eine Einschränkung des Motorisierten Individualverkehrs (MIV) und eben eine radikale Arbeitszeitverkürzung vorgeschlagen werden. Es kommt auch zu Konflikten mit millionenfachen individuellen –  also gesellschaftlichen – Lebensstilen, wenn der Konsum immer größerer Mengen industrieller Güter, die nicht wirklich menschlichen Bedürfnissen entsprechen, hinterfragt wird: >Notwendig ist eine Begrenzung und teilweise Rückführung von Konsumansprüchen an die Möglichkeiten ihrer nachhaltigen Befriedigung< (S. 232). Dieses fußt auf der Erkenntnis, dass Reichtum ab einer bestimmten Größenordnung kein weiteres „Glück“ stiftet – aber eben erst dann, wenn Grundbedürfnisse nach gesunder Ernährung, einem guten Dach über dem Kopf und nach befriedigenden sozialen Beziehungen erfüllt sind. Die verfestigte Armut steht dieser Utopie haushoch im Wege. Der mangelnden Bildung, die gleichermaßen im Wege steht, kann mit diesen konkret lokalisierten Vorschlägen entgegen gewirkt werden.

Stephan Krull

https://argument.de/

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