Die Wahl in Deutschland hat den Rechtstrend in Europa durchbrochen. Dennoch ist die Botschaft widersprüchlich: Einerseits basiert der denkbar knappe Sieg von Rot-Grün neben anderen Faktoren auf der klaren Absage an einen Krieg gegen den Irak an der Seite von Bush – eine Position, die gleichwohl jeden Tag neu erkämpft werden muss. Andererseits bedeutet die Niederlage der PDS, dass nicht nur der Friedensbewegung Ansprechpartner im Parlament abhanden gekommen sind.
Wenn wir dafür eintreten, dass die Gewerkschaften sich als politische Opposition im Lande konstituieren, so können wir doch nicht erwarten, dass dies ein Ersatz für eine politische Partei sein kann.
Auch die Politik von Rot-Grün bleibt widersprüchlich: Die öffentlichen Investitionen anzuheben und die Konvergenzkriterien von Maastricht zu lockern, ist in der aktuellen ökonomischen Situation sinnvoll. Gleichzeitig wird die Demontage des Sozialstaates fortgesetzt, die Masseneinkommen belastet, während die wirklich Reichen nicht zur Kasse gebeten werden. Es bleibt deshalb die Aufgabe von Linken und Gewerkschaften, den Sozialstaat als Grundlage von Kultur und Demokratie zu verteidigen.
Hier rückt in den nächsten Monaten der Kampf um die Rechte von Erwerbslosen und um die medizinische Versorgung von Kranken in den Mittelpunkt. Wir sind uns ferner darüber im Klaren, dass insbesondere die Verhandlungen zu GATS (General Agreement on Trade in Services) verschleiern sollen, in wessen Interesse das Gesundheitswesen ebenso wie das Bildungswesen und viele andere öffentliche Einrichtungen privatisiert werden sollen. Es geht darum, die politischen Institutionen ebenso wie die Gewerkschaftszentralen auf nationaler und europäischer Ebene für einen wirklich kompromisslosen Kampf gegen diesen Ausverkauf der sozialen Errungenschaften zu gewinnen. Wenn der Europäische Gewerkschaftsbund und seine Abteilungen in Brüssel, Straßburg und Paris eindeutig Stellung beziehen, dann können wir mobilisieren und die Verhandlungen zu GATS blockieren.
Gewerkschaftliche Kämpfe 2002
Politische Mobilisierung ist vorhanden. Das haben die Streiks im Frühjahr in der Metall-, Elektro- und Automobilindustrie sowie in der Bauwirtschaft gezeigt. Das materielle Ergebnis ist ein vertretbarer Kompromiss: 4% Lohnerhöhung in diesem Jahr und 3,1% Lohnerhöhung im Jahr 2003. Die Kolleginnen und Kollegen haben gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie waren nicht mehr damit einverstanden, dass die Unternehmer – auch in Krisenzeiten – die Gewinne erhöhen, die abhängig Beschäftigten aber immer weniger bekommen. Vertretbar ist das Ergebnis auch, weil es gelang, mit einem gemeinsamen Entgeltrahmentarif (ERA) die Trennung von Arbeitern und Angestellten zu überwinden. In künftigen Kämpfen kann uns das zusätzliche Kraft verschaffen.
Die Mobilisierung für den Streik war nicht sehr schwierig – wenn wir davon absehen, dass die IG Metall sich aufgrund des gewerkschaftsfeindlichen Arbeitskampfrechtes eine komplizierte Streiktaktik überlegen musste. Das Versprechen von Rot-Grün, das Arbeitskampfrecht zu reformieren, wurde nicht eingelöst. Konsequent wäre ein Verbot der Aussperrung gewesen! Auch das sollte als Forderung auf einer gemeinsamen Tagesordnung der Gewerkschaften in Europa stehen.
Wichtig war die Ausweitung des Arbeitskampfes auf Berlin-Brandenburg im Osten Deutschlands. Denn ein gestärktes Selbstbewusstsein in Zeiten von 20% Massenarbeitslosigkeit, Entvölkerung und fallendem Organisationsgrad ist eine wichtige Voraussetzung, um Arbeitskämpfe überhaupt führen zu können.
Es fehlte – auch aufgrund mangelnder Orientierung des Gewerkschaftsvorstandes – fast jegliche Politisierung. Natürlich ist jeder ökonomische Kampf auch eine politische Auseinandersetzung. Aber im Vorfeld der Bundestagswahl gab es ein Stillhalteabkommen zwischen der SPD und den Gewerkschaftsvorständen, was u.a. dazu geführt hat, dass die so genannte Hartz-Reform des Arbeitsmarktes, die den Druck auf die Arbeitslosen erheblich erhöht, ohne Kritik der Gewerkschaften durchgesetzt wird. Leih- und Zeitarbeit werden ausgeweitet, der Druck auf Tariflöhne und Arbeitszeit wird immens zunehmen, die Verantwortung der Unternehmen für die Berufsausbildung wird der Gesellschaft übertragen, das altersbedingte Ausscheiden aus dem Betrieb wird um Jahre verzögert.
Die nächsten Aufgaben
Erstens: Mitte November hat die IG Metall eine Konferenz zum Thema Arbeitszeit durchgeführt. In der Geschichte wurde noch kein Schritt der Arbeitszeitverkürzung ohne erbitterten Kampf erreicht. Das betrifft den 10-Stunden-Tag vor 100 Jahren ebenso die 35-Stunden-Woche vor 20 Jahren. Seit geraumer Zeit stellen wir eine Zunahme von Überstunden und Wochenendarbeit und damit eine Verlängerung der Wochen- und Jahresarbeitszeiten fest. Wir gehen von der Einschätzung aus, dass weitere Arbeitszeitverkürzung unter 35 Stunden solange nicht realistisch ist, wie in anderen Branchen, vor allem auch im Dienstleistungsbereich, nicht ebenfalls die 35-Stunden-Woche angegangen wird. Weitere Arbeitszeitverkürzung wird ebenfalls so lange nicht möglich sein, wie die 35-Stunden-Woche nicht als europäische Zielmarke gesetzt worden ist. Nun gibt es die Arbeitszeitcharta des Europäischen Metallgewerkschaftsbunds. Aber was tun die Gewerkschaften in den einzelnen Ländern dafür, die Arbeitszeitverkürzung zu erkämpfen?
Tatsächlich werden unterschiedliche Arbeitszeiten auch von Gewerkschaften als Standort- und Wettbewerbsvorteil gesehen und – im Interesse der multinationalen Konzerne – entsprechend genutzt. Mit Solidarität hat das nichts zu tun; eher handelt es sich wohl um die Domestizierung von Gewerkschaften. Die IG Metall hat sich nunmehr die Aufgabe gesetzt, die 35-Stunden-Woche im Osten Deutschlands und in allen Branchen umzusetzen. Je mehr für Arbeitszeitverkürzung aber auch in den anderen Ländern gekämpft wird, desto erfolgreicher können wir diesen Kampf führen, und um so näher rückt der Tag, an dem wir den Kampf für die 30-Stunden-Woche eröffnen können.
Zweitens: Bisher ist Europa ein ausschließlich ökonomisches Projekt. Die Angriffe auf die Nivellierung sozialer Standards in den einzelnen Ländern nehmen zu – im Zusammenhang mit den GATS-Verhandlungen, aber auch wegen der „offenen Koordination“, die innerhalb der EU jetzt um sich greift, wodurch die Sozialpolitik eine neue Dynamik in Richtung Wettbewerb erhält. Die Banken und Versicherungen stehen schon Schlange, den Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten das Geld aus der Tasche zu ziehen für private Gesundheits-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Es geht um einen vollständigen Umbau des Sozialstaates.
Dies fordert uns in folgender Hinsicht heraus:
– Wir müssen soziale Ungleichheit überwinden. Wenn die Regierung und die EU soziale Ungerechtigkeit als wettbewerbsfördernd bezeichnen, dann müssen wir auch davor warnen, dass dies zu Standortchauvinismus und letztlich zu Nationalismus führt. Wer die Axt an den Sozialstaat legt, wird Kultur und Demokratie gleich mit zu Fall bringen. Das ist die Herausforderung, vor der wir bei der Verteidigung unseres Sozialmodells stehen. Der Kampf um die Tobin-Steuer kann ein Mittel sein, diesem Ziel näher zu kommen. Und aus den unterstützenden Ankündigungen innerhalb der IG Metall zur Tobin-Steuer müssen nun Taten auf europäischer Ebene folgen.
– Wir müssen uns mobilisierungsfähige Konzepte für ein soziales Europa erarbeiten und den ökonomischen und fiskalischen Kriterien von Maastricht soziale Konvergenzkriterien gegenüber stellen. Diese können sich beziehen auf den Beschäftigungsgrad, die Arbeitszeit, das Einkommen, die Bildungschancen, aber auch auf die Rechte der Erwerbslosen, auf das Recht auf eine Wohnung und schließlich auf das Verbot der Aussperrung – unabhängig von Nationalität, Staatsangehörigkeit und sonstigem Rechtsstatus. Kein Mensch ist illegal!
– Schließlich sollten wir uns unserer eigentlichen Aufgabe besinnen, Konkurrenz zwischen den ArbeiterInnen der verschiedenen Betriebe, Branchen und Länder zu minimieren oder auszuschließen. Dazu gehört eine europaweit koordinierte Tarifpolitik mindestens bei Lohn und Arbeitszeit.
Die Zeit für eine Offensive ist günstig. Die EU-Osterweiterung steht vor der Tür und es wird ohnehin über Vor- und Nachteile der EU diskutiert, also sollten wir uns mit unserem Vorschlag nach sozialen Konvergenzkriterien in die Debatte einbringen. In den Verfassungsentwurf, den gegenwärtig der EU-Konvent berät, gehören die Passagen hinein, die Europa als ein soziales Projekt definieren.
Wir müssen Strukturen schaffen, diese Frage zu diskutieren. Wir brauchen ein gemeinsames Programm, dessen Vorschläge wir in die europäische Gewerkschaftsbewegung ebenso einbringen wie in den Prozess des Europäischen Sozialforums. So können wir den notwendigen Beitrag für eine aktivere Rolle der europäischen Gewerkschaften leisten.
Stephan Krull ist Mitglied des Ortsvorstandes der IG Metall Wolfsburg. Es handelt sich um den überarbeiteten Beitrag des Autors für das Seminar „Wiedererstarken der europäischen Gewerkschaften? – Streiks und gesellschaftliche Konflikte 2002“ im Rahmen des Europäischen Sozialforums Anfang November 2002 in Florenz.
https://www.sozialismus.de/detail/artikel/europas-zukunft-soziale-konvergenz/