Die Vier-Tage-Woche: Weniger Erwerbsarbeiten für alle!
Möglichkeiten und Notwendigkeit der Verkürzung der Arbeitszeit. Welche Kosten und wer bezahlt? Personalausgleich ist nicht überall erforderlich. Eine andere Arbeitswelt ist möglich!
Das Institut Solidarische Moderne wirbt für eine progressives Bündnis, für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Ausgehend vom globalen Ausnahmezustand beschreibt das Institut dieses progressive Bündnis mit Brechts Gedicht vom „Lob des Kommunismus“: das Einfach, das schwer zu machen ist:
Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.
Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen. Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.
Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig. Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit.
Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen. Aber wir wissen: Er ist das Ende der Verbrechen. Er ist keine Tollheit. Er ist nicht das Chaos, sondern die Ordnung.
Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist.
Das Einfache, das schwer zu machen ist – schwer, weil die Rechte erstarkt ist, einfach, weil die Krise uns zeigt, was alles möglich ist. „Wenn wir also miteinander in einen offenen Dialog um einen neuen Gesellschaftsvertrag und dessen politische Durchsetzung treten, dann wissen wir, dass es ums Ganze geht, weil wir nicht weniger als die Zukunft der Welt verhandeln. Genau besehen ist das gar keine schlechte Ausgangsposition.“
Drei Reformprojekte werden für diesen neuen Gesellschaftsvertrag vorgeschlagen:
- Erwerbsarbeitszeitverkürzung als Transformationsprojekt
- Solidarisches Eigentum als Wiederaneignung der öffentlichen Güter
- Für alle – ohne Wenn und Aber
Andreas Ypsilanti, der das Projekt der Arbeitszeitverkürzung besonders wichtig ist, begründete einleitend, dass es sich um ein gesellschaftliches Projekt handelt, dass Geschlechtergerechtigkeit, politische Partizipation und Zeit zur persönlichen Entfaltung beinhaltet. Zu diesem Projekt war ich als Mitbegründer der Attac AG ArbeitFairTeilen eingeladen, die Möglichkeit der Verkürzung von Lohnarbeit zu erklären und zu begründen. Dieser Einladung bin ich sehr gerne gefolgt und habe meine Position in vier Punkten kurz dargelegt:
- Möglichkeiten und Notwendigkeit der Verkürzung der Arbeitszeit
1.1. Die Produktivität entwickelt sich in unserem Land unterschiedlich, tendenziell aber steigend. In bestimmten Bereichen wie zum Beispiel dem Bildungswesen, dem Gesundheitswesen oder beim Friseur sind Produktivitätssteigerungen kaum möglich noch wünschenswert. In der Industrie gibt es um so größere Produktivitätssprünge von bis zu 10 Prozent pro Jahr. Allein diese Produktivitätssprünge erfordern eine Verkürzung der Arbeitszeit, weil es ansonsten nur zwei mögliche Auswege gibt: Entweder der Export von Waren ins Ausland wird um diese Produktivitätsraten erhöht oder die Erwerbslosigkeit im Inland steigt um diese Raten. Bisher ist es im wesentlichen der Export, der zu Lasten der Beschäftigung und der Schulden anderer Länder gestiegen ist. Das ist eine der Ursachen für die globale Instabilität.
Der zweite Aspekt besteht darin, dass durch die Produktivitätssprünge enorme Gewinne realisiert werden, die fast ausschließlich auf den Konten der Kapitalbesitzer landen – die Gewinnquote ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen, die Lohnquote ist gesunken.
1.2 Die Grenzen des Wachstum sind seit 1972 definiert – werden aber durch die Industrieländer und durch die Lebensweise in diesen Ländern weit überschritten. Das ist eine nächste Ursache für die globale Instabilität und die Klimaveränderungen, die das Leben auf dem Planeten bedrohen – zunächst das Leben der ärmsten Menschen, der Menschen in den ärmsten Ländern. Die Produktivitätsentwicklung und die Zunahme der Güter, die produziert werden, überschreiten seit langem die Grenzen des Wachstums und führen auch in unserem Land nicht zu mehr Wohlstand, sondern zu immer mehr Arbeit und immer mehr Stress.
1.3 In der Krise erleben wir eine ungeplante Arbeitszeitverkürzung von einmaligem Umfang. Kein Streik hat je zu derartigen Einbrüchen in der Produktion geführt. Fast 10 Millionen Menschen hatten in 2020 Kurzarbeit, 500.000 Menschen sind zusätzlich in Erwerbslosigkeit geraten und die große Insolvenzwelle steht uns noch bevor.
Die Forderung nach einer generellen Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit und nach ihrer Umverteilung ist extrem kontrovers und mit vielen offenen Fragen verbunden. Welche Chancen liegen darin? Welche Verhältnisse werden dadurch verändert oder in Frage gestellt? Welche Kosten sind damit verbunden?
Die tatsächliche durchschnittliche Arbeitszeit aller Erwerbstätigen liegt bei ca. 30 Stunden, allerdings sehr ungleich verteilt; oft verbunden mit prekärem Leben. Frauen geraten in die Teilzeitfalle, verbunden mit niedrigen Löhnen und später mit niedrigen Renten. Männer fürchten diese Teilzeitfalle und bekommen Angst vor einem Karriereknick – deshalb die Unkultur überlanger Arbeitszeiten.
Zwischen wem wird die grundsätzliche Kontroverse geführt? Mehr Zeit zum Leben, lieben, lachen – das geht nur mit Beziehungen zu anderen Menschen, mit Zeit, die zusammen verbracht werden kann. Blick in die Geschichte zeigt: härteste Kämpfe wurden immer um die Zeit geführt – ausgehend vom Massaker auf dem Hayetmarket am 1. Mai 1886 in Chikago bis zur Niederlage der IG Metall 2003 bei dem Bemühen, die 35-Stundenwoche in den ostdeutschen Bundesländern durchzusetzen. Vom „Ruin der Wirtschaft“ ist dann sofort die Rede, die Arbeitszeitverkürzung sei unbezahlbar, nicht umsetzbar … und so weiter. Tatsächlich handel es sich um den unauflöslichen, antagonistischen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Das ist die Kontroverse, nicht aber die partiell unterschiedlichen Bedürfnisse von verschiedenen Beschäftigtengruppen, von Geschlechtern und Generationen. Alle Umfragen kommen zu dem Ergebnis, dass die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten lieber kürzer als länger arbeiten möchte. Eine neue offene Fragen lautet allerdings, ob die Arbeitszeitverkürzung ein individueller oder kollektiver Anspruch sein soll. Mein Vorschlag in diesem Zusammenhang: Es sollte sich um einen kollektiven Rahmen von 30 Stunden halten, der individuell sehr unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Nur darin liegt die Chance, die systematischen und verfestigten gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten von unbefristet und befristet Beschäftigten und von Männern und Frauen (gender time gap, gender pay gap) zu überwinden.
Durch eine solche Arbeitszeitverkürzung verändern sich die Verhältnisse, verändern sich Machtverhältnisse im betrieb. Die Verfügungsmacht des Unternehmers über den Beschäftigten wird reduziert, es muss weniger fremdbestimmt gearbeitet werden. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften steigt, weil das Druck- und Erpressungsmittel der Erwerbslosigkeit weitgehend entfällt. Das Angebot an Arbeitskräften muss in der Marktwirtschaft verknappt werden, um bessere Preise zu erzielen. Wir nennen das Vollbeschäftigung neuen Typs: Kurze Vollzeit, die flexibel täglich, wöchentlich oder im Rahmen von Projekten variieren kann. Der kollektive Anspruch wird individuell umgesetzt!
Ein wesentlicher Antrieb dafür wäre die Verkürzung der gesetzlichen Wochenarbeitszeit auf maximal 40 Stunden – ein Jahrhundertfortschritt, bei dem unser Land fast das Schlusslicht in Europa ist (von den Visegard-Staaten mal abgesehen). Die Verbesserungen in der deutschen Gesetzgebung rund um die Arbeitszeit sind sämtlich durch europäische Richtlinien und Urteile des EuGH ausgelöst – nicht durch die Parteien im Bundestag, nicht durch die Regierung.
2. Welche Kosten und wer bezahlt?
Arbeitszeitverkürzung geht nur mit Lohnausgleich – das ist eine alte und bewährte Forderung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Zumindest ist immer noch ein voller Lohnausgleich erforderlich für untere und mittlere Einkommen bis zu 5.000 Euro brutto. Die Explosion der Mieten in den letzten 10 Jahren lässt keine andere Lösung zu. Ab 5.000 Euro aufwärts könnte der Lohnausgleich degressiv gesenkt werden. Gut verdienende Ingenieure, Forscher in der Industrie, Beschäftigte im mittleren Management benötigen (und wollen oft) nicht mehr Gehalt, sondern mehr freie und verfügbare Zeit. Ein OP-Schwester dagegen, ein Abfallentsorger oder ein Erzieher mit nur 2.500 Euro Monatslohn kann ohne Lohnausgleich die Arbeitszeit nicht verkürzen.
Es gibt ca. 35 Mio. sozialversuihcerungspflichtig Beschäftigte. Nehmen wir mal an, 30 Mio. benötigen den Entgeltausgleich. Lohnausgleich würde erforderlich für 30 Stunden/Monat in Höhe von 500 Euro brutto (20 Prozent). Das hört sich viel an, ist mit Gewinnen, mit Produktivitätssteigerungen und mit eingesparten Kosten der Erwerbslosigkeit, 50 Milliarden Euro allein bei der Bundesanstalt für Arbeit, sowie besserer Qualität, weniger Fehlern und Reparaturen sicher zu kompensieren. Hunzu kommt: Die Personalkosten machen nur einen Teil der gesamten Kosten aus. In der Industrie liegt dieser Teil bei ca. 10 Prozent, in anderen Bereichen natürlich höher. In jedem Fall steigen die vollständigen Kosten des Produktes oder der Dienstleistung auch nur um diesen Teil, also um um zwei bis 10 Prozent. Unser Freund Prof. Heinz Bontrup, Sprecher der memo-Gruppe (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik), hat das mehrfach vorgerechnet. Unter dem Strich bedeutet das, dass die Gewinne in der Industrie anders verteilt werden: es gibt endlich wieder eine höhere Lohnquote und eine geringere Gewinnquote, aber immer noch hohe Gewinne. Im Handwerk und anderen Bereichen wird es zu Preissteigerungen kommen; aber rein ökonomisch ist die Inflation bekanntermaßen zu gering. Sozial müssen natürlich Ausgleichsmechanismen geschaffen werden. Andererseits weiß ich aus der Erfahrung der 4-Tage-Woche bei VW, dass Geld eingespart wird durch einen Tag weniger Fahrt zur Arbeit und vieles durch den Zeitgewinn selbst gemacht wird, was sonst eingekauft werden musste.
3. Personalausgleich ist nicht überall erforderlich.
Arbeitszeitverkürzung mit vollem Personalausgleich ist eine weitere alte und bewährte gewerkschaftliche Forderung. Aber durch Rationalisierung und Digitalisierung fallen einfach viele Jobs weg. Es geht deshalb nicht darum, jeden Arbeitsplatz 1:1 zu ersetzen bzw. auszugleichen, sondern genau zu schauen, wo Ersatz erforderlich ist und wo nicht. Zum Beispiel ist Ersatz längst erforderlich im Gesundheitsbereich, im Bildungsbereich und im öffentlichen Verkehr. Kein Ersatz ist erforderlich in der Rüstungsindustrie, eigentlich nicht in der Werbeindustrie und auch nicht in der Automobilindustrie. Insgesamt führt die Arbeitszeitverkürzung ja zu einem höheren Beschäftigungsgrad. Und mit oder ohne Arbeitszeitverkürzung: den lebenslangen Job gibt es doch schon lange nicht mehr. Es werden weniger unnütze bzw. schädliche Produktion gebraucht und hergestellt. Beide Entwicklungen begünstigen notwendige strukturelle Veränderungen im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation: weniger Ressourcenverbrauch, weniger Müllproduktion, dafür mehr ÖPNV inkl. Infrastruktur, Fahrzeuge und Betrieb (z.B. die DB sucht dringend Personal, um die Züge aufs Gleis zu bringen und pünktlich fahren zu lassen.), mehr Umwelt- und Klimaschutz.
4. Eine andere Arbeitswelt ist möglich
Arbeitszeitverkürzung ist bei allen Gewerkschaften Thema und in vielen Ländern dieser Erde. Würden Gewerkschaften nicht isolierte Kämpfe führen, sondern sich koordinieren, wären die Konflikte groß, aber auch Erfolgsaussichten. Dazu gehörte die Erkenntnis und der Wille, Arbeitszeitverkürzung zu einem großen gesellschaftlichen Thema und Konflikt zu machen – und nicht nur in der Krise, um ökonomistisch Arbeitsplatzverluste abzumildern. Insbesondere der emanzipatorische Aspekt, die Gerechtigkeitsaspekte, der Gesundheitsaspekt und der Aspekt der demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten gehört ins Zentrum der Debatte. Tausende betriebliche Einzelforderungen können und sollten zu einer kollektiven branchenübergreifenden Forderung zusammengefasst werden.
Hinzu kommt, dass es weitere gesellschaftliche Kräfte gibt, die eine solche Kampagne mittragen würden.
Große Teile der SPD haben sich programmatisch deutlich positioniert, so der bayerische Landesverband, der Vorsitzende Norbert Walter-Borjans, die stellvertretende Vorsitzende Serpil Midyatli, die Ministerpräsidentin Manuela Schwesig.
Die Linke fordert die 30-Stunden-Woche und die Absenkung der gesetzlichen Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche; Katja Kipping, Bernd Riexinger und Bodo Ramelow stehen dafür ebenso wie viele Aktive in den gewerkschaftlichen Kämpfen.
Die Grünen wollen die Arbeitszeit zwischen 30 und 40 Stunden je nach Lebenssituation individuell anpassen.
Die kirchlichen Arbeitnehmerorganisationen wie der Evangelische kirchliche Dienst in der Arbeitswelt (KDA) oder die katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) stehen in dieser Frage fest an der Seite der Gewerkschaften – manchmal deutlicher als Gewerkschaften selbst.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Ärzt*innen, Krankenkassen, Sportvereine – sie alle können gewonnen werden für eine gesellschaftliche Kampagne für die 30-Stunden-Woche.
Wenn in diese Richtung politisch gearbeitet wird, sind die Aussichten ebenso gut wie beim Kampf um die 40-Stunden-Woche (Samstag gehört Vati mir) und um die 35-Stunden-Woche: mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen!