IG Metall Wolfsburg: Putsch oder Palastrevolte?

Die Wahl der neuen IGM-Geschäftsführung in Wolfsburg lief nicht nach Drehbuch!

Bei der VertreterInnenversammlung der Wolfsburger IG Metall am 8. September wählten die rund 200 Delegierten den langjährigen Gewerkschaftssekretär Flavio Benites zum Ersten Bevollmächtigten und Geschäftsführer. Favoritin und einstimmiger Vorschlag des Ortsvorstandes der Gewerkschaft war jedoch Ricarda Bier. Von Putsch war danach in der Presse die Rede, gelegentlich auch von Machtwechsel, was den Vorgang auch nur ungenau beschreibt.

Vor der Wahl hatte die Tagesschau schon ein Ergebnis verkündet: „Ricarda Bier übernimmt Vorsitz der IG Metall Wolfsburg. Deutschlands größte IG-Metall-Geschäftsstelle ist in Wolfsburg. Dort macht die neue Vorsitzende Bier Schluss mit Klischees. Sie will die Gewerkschaft am VW-Standort auf den Wandel in der Branche ausrichten (…) Die 34-jährige Ricarda Bier bringt wenig mit von dem, was sich die meisten Menschen für gewöhnlich unter einem Gewerkschaftsfunktionär vorstellen. Die neue Vorsitzende ist keine typische Metallerin, sondern steht für eine moderne Form der Gewerkschaftsvertretung. Kämpferische Reden im Stil eines Franz Steinkühler seien ihre Sache nicht.“ (Tagesschau, 8. September 2020) Drei Jahre zuvor war Ricarda Bier aus der Vorstandsverwaltung der IG Metall in Frankfurt nach Wolfsburg gekommen und war dort systematisch als Nachfolgerin von Hartwig Erb aufgebaut worden, der in den Ruhestand ging. Etwas später musste die Tagesschau sich korrigieren: „Mit Rückendeckung des VW-Konzernbetriebsratschefs Bernd Osterloh sollte Ricarda Bier an die Spitze der IG Metall in Wolfsburg rücken. Überraschend hat die IG-Metall-Geschäftsstelle Wolfsburg auf ihrer gestrigen Delegiertenversammlung nicht die bisherige kommissarische Leiterin zur ersten Bevollmächtigten gewählt. Eine deutliche Mehrheit erhielt stattdessen der 58-jährige Flavio Benites.“ Anmerkung der Tagesschau-Redaktion: „Wenige Stunden vor der Wahlversammlung berichtete tagesschau.de am 8.9.2020 über Ricarda Bier. Aufgrund eines Übermittlungsfehlers hieß es dabei fälschlicherweise, dass sie bereits gewählt worden sei. Die Redaktion bedauert diesen Fehler.“

Auch VW-Betriebsrat Bernd Osterloh bedauerte: „Ricarda Bier hat sich anfangs als Kassiererin, dann als Zweite Bevollmächtigte und schließlich in der Krise als Interims-Bevollmächtigte mit hervorragenden analytischen Fähigkeiten bewiesen.“ Das Provinzblatt Harz-Kurier schreibt: Mit Tränen in den Augen verließ Ricarda Bier am Dienstag die Delegiertenversammlung der IG Metall bereits vor deren offiziellem Ende. Unter dem Eindruck ihrer krachenden Schlappe gegen Flavio Benites bei der Bevollmächtigten-Wahl ließ sie nur ein kurzes, tief enttäuschtes ‚Ich habe dazu nichts mehr zu sagen, jetzt müssen die halt sehen, wie sie`s hinkriegen‘ verlauten.“ Der NDR meldet dann nach der Wahl: Ursprünglich galt es als sicher, dass Bier Leiterin der Geschäftsstelle wird. Die Entscheidung der rund 200 Delegierten sei eine herbe Enttäuschung für die 34-Jährige. Unerwartet ist das Ergebnis auch deshalb, weil der Wolfsburger IG-Metall-Ortsvorstand eindeutig hinter Bier stand, ebenso wie VW-Konzernbetriebsrat-Chef Bernd Osterloh.“

Allgemein verlautete, dass Flavio Benites seit 2016 bei der IG Metall Wolfsburg beschäftigt sei. Tatsächlich hat Flavio im Herbst 2006 bei der IG Metall in Wolfsburg angefangen zu arbeiten. Der damals 44-Jährige kommt aus Brasilien, hat dort Jura mit Schwerpunkt Arbeitsrecht studiert und viele Jahre für die Metallgewerkschaft und den Gewerkschaftsdachverband CUT in der Region Sao Bernardo do Campo / Sao Paulo gearbeitet, dort gemeinsam mit dem späteren Präsidenten Lula (Lula da Silva) und dem derzeitigen Generalsekretär von IndustriAll, Valter Sanches. Schon 1985 lernten die IG Metall Wolfsburg und Flavio Benites sich kennen, begann die Kooperation im Rahmen der internationalen gewerkschaftlichen Solidaritätsarbeit. Seit 1998 lebt er in Deutschland, an der Universität Bremen hat er bei Wolfgang Däubler seine Jura-Studien fortgesetzt. Bevor er bei der IG Metall in Wolfsburg anfing, war er bereits in der Internationalen Abteilung beim Hauptvorstand der IG BCE beschäftigt. Zwischendurch hat er beim Vorstand der IG Metall gearbeitet und ist 2016 wieder zur Verwaltungsstelle in Wolfsburg zurückgekehrt.

Der Ortsvorstand und der Betriebsrat hätten das Dilemma kommen sehen und Ricarda Bier vor der Niederlage bewahren können. Ein Leserbriefschreiber des Harz-Kurier, der vom „Putsch“ berichtete, schrieb dazu: „Bitte richtig recherchieren! Ricarda Bier stieg als Kassiererin bei der IGM Wolfsburg ein und wurde dann Zweite Bevollmächtigte. Zum Profilieren hatte sie gute zwei Jahre Zeit. Sie nutzte diesen Zeitraum jedoch nicht und zog ihr eigenes Ding durch. Aus diesem Grund rumorte es schon seit gut einem Jahr. Die Quittung erfolgte am Dienstag.“

Ein Delegierter äußerte sich so: „Ricarda hatte bei uns verschissen wegen ihrer Art und Weise … kommt zur Versammlung, kann mit Ach und Krach Hallo sagen, spielt nur mit dem Handy … grüßt halbherzig und lächelt nur fürs Foto … hat sie wohl überall so gemacht … dann gibt’s halt so ein Wahlergebnis.“

Es bleibt unklar, worauf die Journalisten sich bezogen, als sie Ricarda Bier zuschrieben, sie wolle „mit Klischees Schluss machen“ und „die Gewerkschaft auf den Wandel der Branche ausrichten“.

Auf Drängen vieler Delegierter hat Flavio Benites sich kurzfristig entschlossen, für diese Funktion zu kandidieren. Der Erfolg der Kandidatur von Flavio Benites zeigt, dass die Wolfsburger IG Metall eine lebendige demokratische Organisation ist. Insoweit ist dieses Wahlergebnis nicht in erster Linie eine Niederlage für den Betriebsratsvorsitzenden, sondern ein Weckruf für die gesamte IG Metall: Der Vorstand, „die da oben“ können nicht einfach durchziehen, was ihnen so in den Kopf kommt.

Die Braunschweiger Zeitung schreibt, dass Bernd Osterloh seine Kandidatin nicht durchbringen konnte. „Von Flavio Benites scheint er aber auch eine Menge zu halten. Eine Woche nach dem Wahldebakel für Ricarda Bier haben sich IG Metall und VW-Betriebsrat neu sortiert.“

Natürlich geht der Betriebsrat bei Volkswagen pragmatisch mit dem Wahlergebnis um und begrüßt die neugewählte Geschäftsführung bei einer gemeinsamen Sitzung am 15. September 2020. Bernd Osterloh als Betriebsratsvorsitzender und Flavio Benites als Bevollmächtigter betonten ihre Einigkeit, „dass die Themen, die vor uns liegen, nur mit einer weiterhin starken Zusammenarbeit von Betriebsrat und Gewerkschaft zu bewältigen sind. IG Metall, Betriebsrat und Vertrauenskörper werden auch zukünftig alles unternehmen, um unsere Arbeit im Sinne der Beschäftigten und der Mitbestimmung nicht nur zu verteidigen, sondern auszubauen.“

Flavio Benites mit Lula, dem ehemlaigen Präsidenten Brasiliens.

Ein Gedanke zu „IG Metall Wolfsburg: Putsch oder Palastrevolte?“

  1. Natürlich ist es bedauerlich, dass die Chance die Spitze der größten IGM – Verwaltungsstelle zu besetzen nicht genutzt wurde.
    Da sich aber abzeichnet, dass der IGM BR bei VOLKSWAGEN künftig von einer Frau geführt wird, ist es erfreulich, dass die Delegiertinnen und Delegierten sich für Qualität vor Geschlecht entschieden haben.

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